Der Weg zurück 1
Den Weg wieder finden zu ihnen zurück!
Von ihnen weg war er sonnig-golden, war er blumenreich gewesen und schien
unfehlbar ins Land des heißersehnten Glückes zu führen. Jetzt aber führte er
quer durch eine unermeßlich weite totenstille, grauenhaft öde Ebene: durch das
Land der Hoffnungslosigkeit. Und weit draußen am unbestimmbaren Ende stand ein
kleines trautes Haus. Dort lebten die, die sie im Ueberschwange ihrer Jugend,
im heißen trügerischen Sehnsuchtstriebe nach erträumtem Glück verlassen hatte:
lebten Gatte und Kind. Und warteten auf sie.
Warteten? Warteten sie wirklich? Konnte,
konnte es denn sein? Leise und kühn und kühner wagte die todesbange Hoffnung in
ihr zu flüstern: ja, es kann wohl sein. Es wird so sein –
es ist wahrhaftig so! Du hast ihn ja, schier selbst noch ein Kind, mit seiner
Einwilligung verlassen. Und er, er hat nichts begehrt, als daß Klein-Elli ihm
bleibe. Und du – ja, du hast das zugegeben ...
Jählings blieb sie auf den verschneiten
Wegen des Stadtparkes stehn und starrte vor sich hin, als blickte sie in einen
tiefen Abgrund.
Es ist ein Abgrund! Es ist der Abgrund,
der euch trennt. So flüsterte die mahnende Stimme wieder. Daß du ihn verlassen
konntest, daß sich das junge lebensfrohe Weib von dem unverstandenen, an Jahren
weit älteren Mann wegsehnte – das begriff er ja, so bitter weh es ihm auch tat.
Daß aber die Mutter von ihrem Kinde so leichten Herzens fortgehn konnte: das mußte ihn dir
entfremden, das mußte ihm sagen: »Sie hat kein Herz, sie ist ärmer als die
Aermsten, denn sie kann nicht lieben. Und nun ist sie dahingegangen, die arme
Törin – die Liebe zu suchen!«
Ja, so wird er bei sich denken; denn er
weiß ja nicht, was du ihm verborgen hast: daß es dir schier das Herz abdrückte,
als er das Kind zwischen dich und sich stellte und das arme süße Geschöpfchen,
das mit aller Glut seiner zarten Seele an dir hing, gebannt und bezwungen von
seinem machtvollen Blicke, sich auf seine Frage, bei wem es bleiben wolle, für
den Vater entschied – mehr aus Furcht, denn aus Liebe.
Da hast du etwas getan, was du hättest
nicht tun sollen: du hast, im Innersten getroffen, wie fröhlich aufgelacht und
hell gerufen: »So bin ich doch wieder frei! Ganz frei!« Und dann sprachst du
ein so frohgemutes, ein so leichtherziges Lebewohl, als ginge es auf eine
Lustreise, von der du, wandermüde, frohen Herzens wieder zurückkommen konntest
zu ihm und dem armen mutterberaubten Kinde.
Siehst du, das ist der Abgrund, den du
ausfüllen müßtest, wolltest du zurückkommen können zu ihm. Kommst du nun auch,
eine Enttäuschte, rein an Leib und Seele zurück, könnte er auch dem liebendem Weibe
verzeihen, was es auch begangen habe: der herzlosen Mutter wird er die Tür seines
Hauses verschließen und sein Kind bewahren vor dem Anblicke derer, die ihm
hätte die unversiegbare Quelle sein sollen aller Liebe ...
Wieder blieb sie stehn. In der Hand trug
sie Rosen, schöne blühende Rosen. Diese sollten zuerst für sie sprechen, fand
sie beim Anblick des großstaunenden Kindes nicht sogleich Worte. Es liebte die
Rosen so sehr.
Damals, ach! so flüsterte es wieder in
ihr, damals blühten die Rosen in seinem kleinen Garten und verbreiteten einen
schweren süßen Duft. Und auf diesen duftigen Fluten schwebte die trügerische
Sehnsucht deiner Jugend in die Ferne, eilte die heiße, in Gluten malende
Phantasie in einen anderen viel größeren Garten, wo die Rosen standen, vereint
zu einem farbenschönen duftwogenden Meere: in den Garten des Schlosses, wo er
wohnte, er, den du zu lieben glaubtest mehr als Kind und Gatten.
Und Sehnsucht und Phantasie wurden so
machtvoll, daß du eines Abends mitten im goldigglühenden Sonnenschein, umjubelt
vom Amselschlage und umwogt vom Dufte der Rosen, vor ihn hintratest und ihm
sagtest:
»Ich muß fort von dir! Ich liebe einen
andern und darf deshalb nicht länger unter deinem Dache weilen.«
Erinnerst du dich an seine Züge? Wie sie
jäh der tiefe gewaltige Ueberraschungsschmerz verzerrte und wie mannesstolze
Beherrschung den Sieg über alle die sinneraubenden Gewalten in ihm davontrug
ehe auch nur ein einziges Wort sie dir verraten konnte? Und wie er im Gefühle
dieses Sieges über sich selbst dich so ohne Herbheit frei gab, wie es nur der
Edelsinnige vermag, und sich von dir wandte wie es nur der Starke kann.
Seine Schwäche, die du fürchtetest und doch wieder
tief drinnen im dunkelsten deiner Seele erhofftest und herbeisehntest – seine
Schwäche und Hilflosigkeit, sein zitterndes Geständnis, er könne nicht sein ohne
dich: das alles zusammen hätte dich vielleicht wankend gemacht, dich, die du herrschen
wolltest über ihn, nicht ihm untertänig sein, wie es die Liebe tut, ohne sich
zu erniedrigen. Seine Stärke aber breitete die Winterkälte des
Trotzes in deiner noch unreifen Seele aus – und du gingst. Gingst stolz und hoffnungsfroh
der erträumten Liebe entgegen.
Und du fandest den Mann deiner Sehnsucht
in der Gewalt einer anderen und fandest ihn kleinmütig, platt, alltäglich. Das
reiche farbenbunte und farbenprächtige Gewand, mit dem ihn deine Tyrannen, die
selbstherrliche Phantasie und die selbstgefällige Romantik, behangen hatten,
war ihm abgenommen worden von jenem schönen kaltberechnenden Weibe, in dessen
Banden er nun, ein jämmerlicher Schwächling, lag. Zu einem König glaubtest du
zu kommen und fandest einen Bettler, der nach Almosen verlangte, als er,
erratend warum du Mann und Kind verlassen hattest, mit heißem Begehren zu dir
kam. Da aber fand er dich stark und stolz, wie der es gewesen war, dem du entflohen
warst – seiner Stärke willen.
Nun trugst du dein Weh und deine bittere
Enttäuschung in der weiten sommerschönen Welt umher, bis du in den Nebeln des
Herbstes endlich erkanntest: niemand hat dich enttäuscht als – du dich selbst.
Von schlimmen Führern: von den Gespenstern deiner krankhaften Romantik, die
deine Jugend belebt und beherrscht hatte, wolltest du dich der Sonne irdischen
Glückes zuführen lassen – und mußtest zu spät erkennen, daß du diese Sonne
hinter dir gelassen hattest, daß sie dir nur geschienen hatte – bei ihm.
Und nun erblühte dir allmählich das
süßeste und zugleich herbste Wunder deines Lebens: es wurde dir sonnig
offenbar, daß du den und nur den liebst, dem du so weh getan hattest.
Noch in der Stunde dieser frohen
Erkenntnis trieb es dich fort aus dem herbstumseufzten Heim deiner Jugend – in
die Stadt zurück, wo die wohnten, die du liebtest. Weißt du noch, wie du, so
ganz Sehnsucht, daß all dein Denken ohnmächtig in dir war, in stiller
Dämmerstunde bis an das Haus deines Mannes flogst? Wie dir dann jäh die Hand
erstarrte als sie sich nach der Klinke streckte? Weißt du noch, wie sie mit
einem Male wieder in dir aufstand, die bittere Wahrheit, und du ihr ins herbe
Antlitz schauen mußtest: als reuiges Weib, als das gewesene Weib eines anderen
selbst durftest du's wagen, an diese Tür zu klopfen, durftest hoffen, daß sie
dir aufgetan werde – als Mutter aber, die herzlos ihr Kind verließ,
durftest du diese Schwelle nie und nimmermehr wieder überschreiten. Das
Paradies ist dir verschlossen. Der gesamten Menschheit Los ist dein herbes
Einzelschicksal.
So hatte die Stimme in ihr gemahnt und
erinnert, gewarnt und geboten. Die Sehnsucht aber hatte sie, ohne daß sie's
selber merkte, doch wieder – wie so oft in den letzten Wochen – hinausgeführt durch
all die Straßen und Gassen, hinaus bis an sein stilles kleines Haus. Das stand
tief in einem Garten, weiß von Schnee, voll weicher runder Linien und seltsam
umwoben vom geheimnisvollen Düster tiefer Winterdämmerung. Einige Fenster
schimmerten im milden traulichen Schein, der zu sagen schien: Komm! Komm, du
arme Verirrte. Und glaube: es gibt nichts, was die Liebe nicht verzeihen und
vergelten könnte.
Schon hatte sie die Gartenpforte
geöffnet, da sprach eine andere Stimme in ihr, die Hoffnung wohl war es: Laß es
sein heute, komm morgen. Morgen erglänzen die Fenster ringsum im Lichterglanze
des Weihnachtsbaumes. Da sind die Herzen aller empfänglicher für Versöhnung und
Verzeihung; denn es weht ja vom Himmel hoch hernieder der warme Hauch des
Friedens. Da aber regte sich wieder die erste Stimme in ihr, die wohl das
Gewissen sein mochte. Geh! rief sie, er wird dir nicht glauben, er wird es dir schlimm
anrechnen, daß du die heilige Stimmung dieses Abends benützt und du just
kommst, wenn die Herzen weicher schlagen und die Tore der sehnenden Seelen weit
offen stehn für alles, was Liebe ist und Liebe – scheint....
Sie wollte sich eben traurig abwenden,
als hastig die Tür des Hauses im Garten geöffnet wurde. Ein Mädchen stürzte
daraus hervor. Die Stimme der Mutter ihres Mannes mahnte ängstlich zur größten
Eile.
Was geschehen sei? fragte sie das
Mädchen, das ihr fremd war. Sie sei – eine Verwandte des Hauses und frage nicht
müßig.
Die kleine Elli kränkle schon, seit die
Mutter fort sei, entgegnete das Mädchen vertrauensvoll. Und je näher die
Weihnachtsfeiertage kämen, desto mehr fragte das arme Kind, ob denn die Mutter
noch immer nicht komme? Und als ihr der Vater vor einigen Tagen in ganz
ungewohnter und unbegreiflicher Erregung rauh entgegenrief, die Mutter werde
überhaupt nicht mehr wiederkommen und Elli solle ihn nimmer um die Mutter
befragen – da sei es totenbleich geworden. Und seit jenen Tagen liege es an
einem Nervenfieber darnieder. Das habe sich heute so sehr verschlimmert, daß
der Arzt sie nach einem zweiten Kollegen sandte. Von diesem weg sollte sie in
das Kloster, um dort eine Schwester zu holen, da der Vater und die Großmutter
in ihrer Aufgeregtheit nicht mehr fähig seien, das Kind die Nächte hindurch
allein zu pflegen.
Jäh schoß der toderschrockenen Mutter
aus tiefster Seele ein Gedanke auf. Sie wolle und müsse da helfen, sagte sie zu
dem Mädchen. Es solle nur nach dem zweiten Arzte laufen. Sie selbst aber wolle
einen Wagen nehmen und eine barmherzige Schwester schicken. So ginge es viel
schneller. Das Mädchen, froh, einen Gang weniger machen zu müssen, war
einverstanden.
Rasch ging die junge Frau auf die Straße
und rief den ersten Wagen an. Sie nannte ihm als Ziel ein vornehmes Modehaus.
In dem Geschäfte verlangte sie den Chef.
Sie müsse um jeden Preis – ein Nonnenkostüm haben, das Kleid einer barmherzigen
Schwester. Aengstlich fragend hing ihr Blick an den Zügen des Mannes, der ihr
in froher Faschingszeit schon öfter die phantasievollsten Kostüme
zusammenstellen half. Er nickte. Es dürfte eines vorhanden sein in der
Maskenabteilung meinte er. Und es war so.
Rasch fuhr sie in ihre Wohnung. Dort
kleidete sie sich um, entblößte sich alles Schmuckes, schminkte ihre erglühten
Wangen bleich, zog einige künstliche Falten zwischen die Augenbrauen, drückte
den Schleier des frommen Kleides tief in die Stirn – und besah sich ängstlich
forschend im Spiegel. Sie war beruhigt: man konnte sie nicht erkennen.
Um sich dem Kutscher nicht zu verraten,
nahm sie einen Theaterschal um den Kopf, umschloß sich mit einem dunklen Mantel
und ließ sich in höchster Eile zurückfahren in das Haus ihres Kindes.
Klopfenden Herzens trat sie ein. Still
und ernst, ohne viel Worte, ohne sie auch nur näher anzusehen, begrüßte man sie
und führte sie in das dämmerige Zimmer, wo sich die Kleine in den Gluten eines
verzehrenden Fiebers unruhig in den Kissen wälzte.
Mit machtvoll erzwungener Ruhe und
ängstlich bedachtem Eifer ging sie an ihr Werk, das ein Rettungswerk werden
konnte für drei Menschen. Die Großmutter sah ihr wohlgefällig zu. Sie pflege
das Kind, sagte sie nach geraumer Weile, nicht wie eine Schwester, sondern wie
– eine Mutter. Eine Sturmflut von frohem Schreck und herben Tränen drängten
ihr diese Worte aus wehem Herzen herauf. Sie beugte sich rasch über ihr Kind und
küßte dessen brennendheiße Stirn. Die Großmutter ging. Sie war allein mit dem
Kinde, mit dem all ihr Glück leben oder sterben mußte.
Spät in der Nacht kam der Vater wieder
ins Zimmer. Stumm und ängstlich sah er ihr zu. Sie wagte kaum, zu ihm
aufzuschauen. Und doch hatte sie gesehen, daß seine Haare an den Schläfen weiß
geworden waren und sein Gesicht fahl und eingesunken. Sie hatte das
entsetzliche Gefühl, hinter ihm stehe der Tod und der werde mit der einen Hand
nach dem kleinen fieberbrennenden Herzen ihres Kindes langen und mit der
anderen nach dem erstarrenden Herzen dieses qual- und reuedurchwühlten Mannes.
Sie hätte ihn gern gebeten, er möge gehn; aber sie fürchtete, er müsse jetzt,
wo sie allein waren, ihre Stimme erkennen, die sie in diesem Augenblicke wohl
hätte nicht verstellen können. Endlich ging er mit einem tiefen Aufatmen
langsam und gebeugten Hauptes fort.
Als das Kind in seinen Fieberphantasien
laut nach der Mutter rief, beugte sie sich über das arme Würmchen und sagte ihm
mit der Stimme der Liebe und der namenlosen Angst, sie sei ja bei ihr, die
Mutter, sie pflege sie und gehe nimmer, nimmer von ihr fort. Dann nahm sie es
an sich, trug es im Zimmer umher und sang ihm mit leiser Stimme all die
Liedlein ins Ohr, die sie ihm einstens in glücklicheren Stunden gesungen hatte.
Und es schien, als zöge mit diesem Gesange und mit den Küssen der Mutterliebe
endlich Ruhe ein in die phantasiegepeinigte kleine Kinderseele. Mit einem Male
schaute sie, stiller geworden, die Mutter lange starr und groß an. Dann stand
eine Weile ein seltsames Lächeln auf den fieberverdorrten Lippen und endlich drückte mit weichen
Fingern der Schlaf die großstaunenden Augen zu.
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