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Literatur


04.3


Adolf Schwayer

Weihnachtserzählungen




Der Weg zurück 1

Den Weg wieder finden zu ihnen zurück! Von ihnen weg war er sonnig-golden, war er blumenreich gewesen und schien unfehlbar ins Land des heißersehnten Glückes zu führen. Jetzt aber führte er quer durch eine unermeßlich weite totenstille, grauenhaft öde Ebene: durch das Land der Hoffnungslosigkeit. Und weit draußen am unbestimmbaren Ende stand ein kleines trautes Haus. Dort lebten die, die sie im Ueberschwange ihrer Jugend, im heißen trügerischen Sehnsuchtstriebe nach erträumtem Glück verlassen hatte: lebten Gatte und Kind. Und warteten auf sie.

Warteten? Warteten sie wirklich? Konnte, konnte es denn sein? Leise und kühn und kühner wagte die todesbange Hoffnung in ihr zu flüstern: ja, es kann wohl sein. Es wird so sein – es ist wahrhaftig so! Du hast ihn ja, schier selbst noch ein Kind, mit seiner Einwilligung verlassen. Und er, er hat nichts begehrt, als daß Klein-Elli ihm bleibe. Und du – ja, du hast das zugegeben ...

Jählings blieb sie auf den verschneiten Wegen des Stadtparkes stehn und starrte vor sich hin, als blickte sie in einen tiefen Abgrund.

Es ist ein Abgrund! Es ist der Abgrund, der euch trennt. So flüsterte die mahnende Stimme wieder. Daß du ihn verlassen konntest, daß sich das junge lebensfrohe Weib von dem unverstandenen, an Jahren weit älteren Mann wegsehnte – das begriff er ja, so bitter weh es ihm auch tat. Daß aber die Mutter von ihrem Kinde so leichten Herzens fortgehn konnte: das mußte ihn dir entfremden, das mußte ihm sagen: »Sie hat kein Herz, sie ist ärmer als die Aermsten, denn sie kann nicht lieben. Und nun ist sie dahingegangen, die arme Törin – die Liebe zu suchen!«

Ja, so wird er bei sich denken; denn er weiß ja nicht, was du ihm verborgen hast: daß es dir schier das Herz abdrückte, als er das Kind zwischen dich und sich stellte und das arme süße Geschöpfchen, das mit aller Glut seiner zarten Seele an dir hing, gebannt und bezwungen von seinem machtvollen Blicke, sich auf seine Frage, bei wem es bleiben wolle, für den Vater entschied – mehr aus Furcht, denn aus Liebe.

Da hast du etwas getan, was du hättest nicht tun sollen: du hast, im Innersten getroffen, wie fröhlich aufgelacht und hell gerufen: »So bin ich doch wieder frei! Ganz frei!« Und dann sprachst du ein so frohgemutes, ein so leichtherziges Lebewohl, als ginge es auf eine Lustreise, von der du, wandermüde, frohen Herzens wieder zurückkommen konntest zu ihm und dem armen mutterberaubten Kinde.

Siehst du, das ist der Abgrund, den du ausfüllen müßtest, wolltest du zurückkommen können zu ihm. Kommst du nun auch, eine Enttäuschte, rein an Leib und Seele zurück, könnte er auch dem liebendem Weibe verzeihen, was es auch begangen habe: der herzlosen Mutter wird er die Tür seines Hauses verschließen und sein Kind bewahren vor dem Anblicke derer, die ihm hätte die unversiegbare Quelle sein sollen aller Liebe ...

Wieder blieb sie stehn. In der Hand trug sie Rosen, schöne blühende Rosen. Diese sollten zuerst für sie sprechen, fand sie beim Anblick des großstaunenden Kindes nicht sogleich Worte. Es liebte die Rosen so sehr.

Damals, ach! so flüsterte es wieder in ihr, damals blühten die Rosen in seinem kleinen Garten und verbreiteten einen schweren süßen Duft. Und auf diesen duftigen Fluten schwebte die trügerische Sehnsucht deiner Jugend in die Ferne, eilte die heiße, in Gluten malende Phantasie in einen anderen viel größeren Garten, wo die Rosen standen, vereint zu einem farbenschönen duftwogenden Meere: in den Garten des Schlosses, wo er wohnte, er, den du zu lieben glaubtest mehr als Kind und Gatten.

Und Sehnsucht und Phantasie wurden so machtvoll, daß du eines Abends mitten im goldigglühenden Sonnenschein, umjubelt vom Amselschlage und umwogt vom Dufte der Rosen, vor ihn hintratest und ihm sagtest:

»Ich muß fort von dir! Ich liebe einen andern und darf deshalb nicht länger unter deinem Dache weilen.«

Erinnerst du dich an seine Züge? Wie sie jäh der tiefe gewaltige Ueberraschungsschmerz verzerrte und wie mannesstolze Beherrschung den Sieg über alle die sinneraubenden Gewalten in ihm davontrug ehe auch nur ein einziges Wort sie dir verraten konnte? Und wie er im Gefühle dieses Sieges über sich selbst dich so ohne Herbheit frei gab, wie es nur der Edelsinnige vermag, und sich von dir wandte wie es nur der Starke kann.

Seine Schwäche, die du fürchtetest und doch wieder tief drinnen im dunkelsten deiner Seele erhofftest und herbeisehntest – seine Schwäche und Hilflosigkeit, sein zitterndes Geständnis, er könne nicht sein ohne dich: das alles zusammen hätte dich vielleicht wankend gemacht, dich, die du herrschen wolltest über ihn, nicht ihm untertänig sein, wie es die Liebe tut, ohne sich zu erniedrigen. Seine Stärke aber breitete die Winterkälte des Trotzes in deiner noch unreifen Seele aus – und du gingst. Gingst stolz und hoffnungsfroh der erträumten Liebe entgegen.

Und du fandest den Mann deiner Sehnsucht in der Gewalt einer anderen und fandest ihn kleinmütig, platt, alltäglich. Das reiche farbenbunte und farbenprächtige Gewand, mit dem ihn deine Tyrannen, die selbstherrliche Phantasie und die selbstgefällige Romantik, behangen hatten, war ihm abgenommen worden von jenem schönen kaltberechnenden Weibe, in dessen Banden er nun, ein jämmerlicher Schwächling, lag. Zu einem König glaubtest du zu kommen und fandest einen Bettler, der nach Almosen verlangte, als er, erratend warum du Mann und Kind verlassen hattest, mit heißem Begehren zu dir kam. Da aber fand er dich stark und stolz, wie der es gewesen war, dem du entflohen warst – seiner Stärke willen.

Nun trugst du dein Weh und deine bittere Enttäuschung in der weiten sommerschönen Welt umher, bis du in den Nebeln des Herbstes endlich erkanntest: niemand hat dich enttäuscht als – du dich selbst. Von schlimmen Führern: von den Gespenstern deiner krankhaften Romantik, die deine Jugend belebt und beherrscht hatte, wolltest du dich der Sonne irdischen Glückes zuführen lassen – und mußtest zu spät erkennen, daß du diese Sonne hinter dir gelassen hattest, daß sie dir nur geschienen hatte – bei ihm.

Und nun erblühte dir allmählich das süßeste und zugleich herbste Wunder deines Lebens: es wurde dir sonnig offenbar, daß du den und nur den liebst, dem du so weh getan hattest.

Noch in der Stunde dieser frohen Erkenntnis trieb es dich fort aus dem herbstumseufzten Heim deiner Jugend – in die Stadt zurück, wo die wohnten, die du liebtest. Weißt du noch, wie du, so ganz Sehnsucht, daß all dein Denken ohnmächtig in dir war, in stiller Dämmerstunde bis an das Haus deines Mannes flogst? Wie dir dann jäh die Hand erstarrte als sie sich nach der Klinke streckte? Weißt du noch, wie sie mit einem Male wieder in dir aufstand, die bittere Wahrheit, und du ihr ins herbe Antlitz schauen mußtest: als reuiges Weib, als das gewesene Weib eines anderen selbst durftest du's wagen, an diese Tür zu klopfen, durftest hoffen, daß sie dir aufgetan werde – als Mutter aber, die herzlos ihr Kind verließ, durftest du diese Schwelle nie und nimmermehr wieder überschreiten. Das Paradies ist dir verschlossen. Der gesamten Menschheit Los ist dein herbes Einzelschicksal.

So hatte die Stimme in ihr gemahnt und erinnert, gewarnt und geboten. Die Sehnsucht aber hatte sie, ohne daß sie's selber merkte, doch wieder – wie so oft in den letzten Wochen – hinausgeführt durch all die Straßen und Gassen, hinaus bis an sein stilles kleines Haus. Das stand tief in einem Garten, weiß von Schnee, voll weicher runder Linien und seltsam umwoben vom geheimnisvollen Düster tiefer Winterdämmerung. Einige Fenster schimmerten im milden traulichen Schein, der zu sagen schien: Komm! Komm, du arme Verirrte. Und glaube: es gibt nichts, was die Liebe nicht verzeihen und vergelten könnte.

Schon hatte sie die Gartenpforte geöffnet, da sprach eine andere Stimme in ihr, die Hoffnung wohl war es: Laß es sein heute, komm morgen. Morgen erglänzen die Fenster ringsum im Lichterglanze des Weihnachtsbaumes. Da sind die Herzen aller empfänglicher für Versöhnung und Verzeihung; denn es weht ja vom Himmel hoch hernieder der warme Hauch des Friedens. Da aber regte sich wieder die erste Stimme in ihr, die wohl das Gewissen sein mochte. Geh! rief sie, er wird dir nicht glauben, er wird es dir schlimm anrechnen, daß du die heilige Stimmung dieses Abends benützt und du just kommst, wenn die Herzen weicher schlagen und die Tore der sehnenden Seelen weit offen stehn für alles, was Liebe ist und Liebe – scheint....

Sie wollte sich eben traurig abwenden, als hastig die Tür des Hauses im Garten geöffnet wurde. Ein Mädchen stürzte daraus hervor. Die Stimme der Mutter ihres Mannes mahnte ängstlich zur größten Eile.

Was geschehen sei? fragte sie das Mädchen, das ihr fremd war. Sie sei – eine Verwandte des Hauses und frage nicht müßig.

Die kleine Elli kränkle schon, seit die Mutter fort sei, entgegnete das Mädchen vertrauensvoll. Und je näher die Weihnachtsfeiertage kämen, desto mehr fragte das arme Kind, ob denn die Mutter noch immer nicht komme? Und als ihr der Vater vor einigen Tagen in ganz ungewohnter und unbegreiflicher Erregung rauh entgegenrief, die Mutter werde überhaupt nicht mehr wiederkommen und Elli solle ihn nimmer um die Mutter befragen – da sei es totenbleich geworden. Und seit jenen Tagen liege es an einem Nervenfieber darnieder. Das habe sich heute so sehr verschlimmert, daß der Arzt sie nach einem zweiten Kollegen sandte. Von diesem weg sollte sie in das Kloster, um dort eine Schwester zu holen, da der Vater und die Großmutter in ihrer Aufgeregtheit nicht mehr fähig seien, das Kind die Nächte hindurch allein zu pflegen.

Jäh schoß der toderschrockenen Mutter aus tiefster Seele ein Gedanke auf. Sie wolle und müsse da helfen, sagte sie zu dem Mädchen. Es solle nur nach dem zweiten Arzte laufen. Sie selbst aber wolle einen Wagen nehmen und eine barmherzige Schwester schicken. So ginge es viel schneller. Das Mädchen, froh, einen Gang weniger machen zu müssen, war einverstanden.

Rasch ging die junge Frau auf die Straße und rief den ersten Wagen an. Sie nannte ihm als Ziel ein vornehmes Modehaus.

In dem Geschäfte verlangte sie den Chef. Sie müsse um jeden Preis – ein Nonnenkostüm haben, das Kleid einer barmherzigen Schwester. Aengstlich fragend hing ihr Blick an den Zügen des Mannes, der ihr in froher Faschingszeit schon öfter die phantasievollsten Kostüme zusammenstellen half. Er nickte. Es dürfte eines vorhanden sein in der Maskenabteilung meinte er. Und es war so.

Rasch fuhr sie in ihre Wohnung. Dort kleidete sie sich um, entblößte sich alles Schmuckes, schminkte ihre erglühten Wangen bleich, zog einige künstliche Falten zwischen die Augenbrauen, drückte den Schleier des frommen Kleides tief in die Stirn – und besah sich ängstlich forschend im Spiegel. Sie war beruhigt: man konnte sie nicht erkennen.

Um sich dem Kutscher nicht zu verraten, nahm sie einen Theaterschal um den Kopf, umschloß sich mit einem dunklen Mantel und ließ sich in höchster Eile zurückfahren in das Haus ihres Kindes.

Klopfenden Herzens trat sie ein. Still und ernst, ohne viel Worte, ohne sie auch nur näher anzusehen, begrüßte man sie und führte sie in das dämmerige Zimmer, wo sich die Kleine in den Gluten eines verzehrenden Fiebers unruhig in den Kissen wälzte.

Mit machtvoll erzwungener Ruhe und ängstlich bedachtem Eifer ging sie an ihr Werk, das ein Rettungswerk werden konnte für drei Menschen. Die Großmutter sah ihr wohlgefällig zu. Sie pflege das Kind, sagte sie nach geraumer Weile, nicht wie eine Schwester, sondern wie – eine Mutter. Eine Sturmflut von frohem Schreck und herben Tränen drängten ihr diese Worte aus wehem Herzen herauf. Sie beugte sich rasch über ihr Kind und küßte dessen brennendheiße Stirn. Die Großmutter ging. Sie war allein mit dem Kinde, mit dem all ihr Glück leben oder sterben mußte.

Spät in der Nacht kam der Vater wieder ins Zimmer. Stumm und ängstlich sah er ihr zu. Sie wagte kaum, zu ihm aufzuschauen. Und doch hatte sie gesehen, daß seine Haare an den Schläfen weiß geworden waren und sein Gesicht fahl und eingesunken. Sie hatte das entsetzliche Gefühl, hinter ihm stehe der Tod und der werde mit der einen Hand nach dem kleinen fieberbrennenden Herzen ihres Kindes langen und mit der anderen nach dem erstarrenden Herzen dieses qual- und reuedurchwühlten Mannes. Sie hätte ihn gern gebeten, er möge gehn; aber sie fürchtete, er müsse jetzt, wo sie allein waren, ihre Stimme erkennen, die sie in diesem Augenblicke wohl hätte nicht verstellen können. Endlich ging er mit einem tiefen Aufatmen langsam und gebeugten Hauptes fort.

Als das Kind in seinen Fieberphantasien laut nach der Mutter rief, beugte sie sich über das arme Würmchen und sagte ihm mit der Stimme der Liebe und der namenlosen Angst, sie sei ja bei ihr, die Mutter, sie pflege sie und gehe nimmer, nimmer von ihr fort. Dann nahm sie es an sich, trug es im Zimmer umher und sang ihm mit leiser Stimme all die Liedlein ins Ohr, die sie ihm einstens in glücklicheren Stunden gesungen hatte. Und es schien, als zöge mit diesem Gesange und mit den Küssen der Mutterliebe endlich Ruhe ein in die phantasiegepeinigte kleine Kinderseele. Mit einem Male schaute sie, stiller geworden, die Mutter lange starr und groß an. Dann stand eine Weile ein seltsames Lächeln auf den fieberverdorrten Lippen und endlich drückte mit weichen Fingern der Schlaf die großstaunenden Augen zu.


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