Der Weg zurück 2
Am nächsten Vormittag führte man die
lang widerstrebende Nonne endlich in ein anderes Zimmer, damit sie ein wenig
der Ruhe pflege.
Das Zimmer war das ihre und war ein
Heiligtum geworden – ein kleiner schöner Tempel der Liebe und Pietät: alles
stand und lag, wie sie es verlassen hatte an jenem sonnigen Abend, und alles,
was von ihr stammte, auch die nichtigste Kleinigkeit, war hier von liebenden
Händen zartsinnig zusammengetragen. – Sie wußte, von welchen Händen.
Umweht von dem Hauche seiner Liebe, war
sie in die Knie gesunken und bat Gott um die Kraft, das Werk vollenden zu
dürfen, das sie so überschnell begonnen hatte. Sie war so ganz ohne Erinnerung,
ob sie es mit vorgefaßtem Willen gewollt hatte, daß sie sich sagte: es sei das
Werk einer höheren Macht und es werde und müsse darum zu gutem und schönem, zu
beglückendem Ende führen.
In sich gefestigter, wagte sie es, ihre
Schritte wieder in das Krankenzimmer zu wenden. Zu ihrer unsagbaren Freude fand
sie das Kind noch immer schlafend.
Sie habe ein Wunder an der armen Kleinen
geübt, sagte ihr die Großmutter gerührt, ein Wunder, wie es sich der Arzt, der
wußte, er habe es hier in erster Linie mit einer kranken Seele zu tun, nur von
der Mutter des
Kindes erhofft hatte.
Wo die Mutter sei, wagte sie jetzt
gepreßten Herzens zu fragen, um zu erforschen, wie man über sie denke.
Die Mutter sei fort, entgegnete die
Großmutter nach einigem Zögern, und verdiene wohl gar nicht, daß man ihrer hier
mit so viel Liebe gedenke. Am meisten leide das zarte empfindsame Kind unter den traurigen
Verhältnissen. Es sehne sich immerwährend nach der Mutter, dürfe aber vor dem
Vater mit keinem Worte von ihr reden. Er selbst aber treibe heimlich einen
förmlichen Kult mit ihrem Andenken.
Die Nonne hatte tief das Haupt gesenkt
und entgegnete mit leiser Stimme: die Entflohene habe vielleicht schon längst
bitter bereut und getraue sich wohl nicht mehr zurück, weil sie als Mutter ihr
Kind verlassen konnte. Sie leide vielleicht nicht weniger als die hier
Zurückgebliebenen.
Erstaunt sah die Großmutter auf die
unverhoffte Verteidigerin ihrer Schwiegertochter herab. Dann entgegnete sie
etwas hastig: wenn dem so wäre, so hätte die Mutter einfach die Pflicht gehabt,
den Weg zurückzufinden, koste es sie, was es wolle.
Vielleicht fürchte sie, daß der Mann
wohl dem Weibe, nicht aber auch der leichtfertigen Mutter verzeihen könne, von
der er glaube, sie sei herzlos.
Wieder stutzte die Großmutter und sagte
dann herb: da habe sie, die Nonne, die ein sehr feines Unterscheidungsvermögen
in Frauenliebe zu besitzen scheine, wohl recht, wenn sie das annehme. Ihr Sohn
denke und fühle in der Tat so.
Da sank das Haupt der Nonne noch tiefer
herab. Wenn die entflohene Frau das wisse, flüsterte sie, dann sei sie wohl
nach langem Kampfe dahin gekommen, sich als Strafe gegen sich selbst – die
Entsagung aufzuerlegen, wie schwer sie darunter auch leiden möge ... bis an ihr
Ende....
Entsagung? eiferte jetzt die Großmutter.
Hier wäre es wohl die menschlich schönere und größere Aufgabe gewesen, das
verlorene Glück zurückzugewinnen, weil sie damit zugleich die beiden Menschen
beglücken könne, die sie verlassen habe. Wo Entsagung einzig nur Zerstörerin
sei, da sei sie nach ihrer Meinung verwerflich, sei sie ebenso unmenschlich wie unchristlich. So
werde übrigens die junge Frau gar nicht denken; denn für sie, die nicht lieben
könne, bedürfe es ja keiner Entsagung.
Jetzt aber warf sich die vermeintliche
Nonne der erschrockenen Großmutter zu Füßen und rief, sich selbst vergessend,
in ihrer Herzensangst und Pein:
»Ich bin ja gekommen! Ich habe ja
gelitten wie er! Wochenlang umschleiche ich schon das Haus da und wage es
nicht, den Fuß über die Schwelle zu setzen, weil ich mich fürchte vor ihm! Ich
bin nicht die herzlose Mutter, für die er mich hält! Ich bin nur so gewesen
damals, weil ich mich nicht beugen wollte vor seiner Größe und vor seiner
Stärke! Denn ich
wollte ihn
beherrschen, bemitleiden
wollt' ich ihn können, wie ich zu Hause meine schwachen Eltern beherrschte, und
sie bemitleidete und tröstend wieder aufrichtete, wenn sie sich meinethalben
kränkten. Glaube mir, ich habe gelitten die Zeit über und bereut und war
entschlossen, den Abgrund auszufüllen, den ich selbst aufgetan hatte zwischen
ihm und mir. Aber ich wußte nicht, wie ich es anfangen sollte, daß er mir
glauben könne, und meinte oft, darüber sterben zu müssen. Da führte mir der
glückliche Zufall das Mädchen entgegen, das um Arzt und Klosterschwester
geschickt wurde. Und mein guter Genius hat mir den Gedanken eingegeben: sei du die
Schwester! Pflege dein Kind und suche dir den Weg zu seinem Herzen – dann
gewinnst du vielleicht auch sein Vertrauen und damit sein volles Herz
wieder. Und wenn du siehst, daß dir das nicht gelingen könne, dann gehe wieder
still und unerkannt von dannen, trage schweigend dein Los und büße deine Schuld
bis ans Ende.«
Tieferschüttert hatte die Großmutter
zugehört und hätte doch aufjubeln mögen über die unverkennbare Echtheit und erschreckende
Größe des Schmerzes und der Reue der jungen Frau. Sie beugte sich liebevoll zu
ihr herab.
»Ja«, sagte sie milde, »diesen Plan hat
dir dein guter Genius eingegeben. Sei guten Mutes und zeige dich deiner armen
Elli als liebende Mutter. Die Sehnsucht nach dir zehrt an ihrem Leben. Sie wäre
wohl zugrunde gegangen an dieser Sehnsucht. Dein Anblick wird ihre kleine wunde
Seele gesunden. Das hoffte auch der Arzt mit voller Zuversicht. Darum hat
Herbert sich auch entschlossen, dich zu rufen. Er telegraphierte an deine
Eltern hinaus. Doch von dort kam die Antwort, du seiest längst wieder in Wien.
Ich suchte dich gestern, während du schon da an dem Bette deines Kindes
knietest, in deiner Wohnung auf. Dort sagte man mir bestürzt, du seiest fort,
man wisse nicht, wohin. Ich war zu Tode erschrocken und wußte nicht, was ich
mir denken sollte. Doch, jetzt komm! Du findest in deinem Zimmer ein lichtes
Hauskleid. Das ziehe an und setze dich zu deinem Kinde, damit es dich sieht
wenn es aufwacht. Es hat geträumt von dir. Ich hab's belauscht. Während du dich
umkleidest, will ich zu Herbert hinüber und ihm sagen, was sich hier
Wundersames und Beglückendes zugetragen hat. Er wird erschüttert sein und Gott
danken, daß es so kam; denn er trägt ja zum großen Teil mit die Schuld, daß
Elli so krank wurde. Mit seinen Blicken hat er sie damals an sich gebannt, als
er sie zwischen dich und sich stellte und hat dich nicht gerufen, wie sehr sich
auch das Kind nach dir gesehnt hatte. Komm! Es darf keine Minute versäumt
werden. Das arme Kind soll, wenn es aufwacht, finden, wovon es wohl glückselig
geträumt hat.«
Und so fand es auch Klein-Elli, als sie
aus ihrem stärkenden Schlaf aufwachte. Weit riß sie ihre scheuen blauen Augen
auf, als sie an ihrem Bettlein eine junge schöne Frau sitzen sah anstatt der
grauen Schwester und starrte lange wie in seligem Schreck nach ihr.
Die hochbeglückte Mutter aber schloß ihr
Kind, das sie nie verloren hatte und doch erst wieder zurückgewinnen mußte, in
ihre Arme, küßte es, nannte es mit den süßesten Kosenamen und wußte sich nicht
zu fassen vor namenloser Freude.
Klein-Elli lag still in ihren Kissen und
lächelte glückselig zu ihr auf.
»Gelt, Mutter, du hast mir vorhin schon
was vorgesungen? So wunderschön hast du gesungen.«
Die Mutter nickte stumm. Und wieder
lächelte Elli vor sich hin. Plötzlich aber kam wieder Schreck und Starrheit in
ihre Augen – sie hatte den Vater erblickt, der, von der Großmutter geführt, ans
Bett getreten war.
»Vater«, fragte Elli ängstlich, »darf
die Mutter jetzt bei uns bleiben – immer?«
»Ja«, sagte dieser mit bebender Stimme.
»Wir bitten sie darum und lassen sie nimmer fort.«
Da jubelte die Kleine, legte ihre
Aermchen um den Nacken der Mutter und weinte und lachte. Der Vater aber hatte
sich neben der Wiedergefundenen niedergelassen, ergriff ihre zitternde heiße
Hand und führte sie an seine Lippen. In der Art, wie er das tat, lag sein
ganzes Selbst, seine ganze Seele mit all ihrer Wiedersehensfreude, ihrer Reue und
ihrer stolzen Ergebung.
Und als Frau Hilda sich niederbeugte und
froh erschaudernd den Schnee seiner Haare küßte und ihre Lippen zitternd die
seinen suchten, da hatte sie in ihrer Seele das erhebende Gefühl, einem Manne
anzugehören, der stolz und immer er selbst bleibe, wie er sich auch erniedrigen
möge.
Die Großmutter aber war still
hinausgegangen und hatte mit dem Dienstmädchen rasch den Weihnachtsbaum
geschmückt, der schon längst im Hause war. Als sie mit dem schimmernden Baume
ins Zimmer trat, da sah sie, daß die Augen der drei im Glücke Wiedervereinten
heller leuchteten, als alle die Kerzen auf ihrem Baume.