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Literatur


04.3




Adolf Schwayer

Weihnachtserzählungen


Assistent Frickenberg 1

Er hatte soeben ein Telegramm aufgenommen. Ein Privattelegramm. An sich selbst. Es brachte ihm sein moralisches Todesurteil, riß grausam die letzte feste Stütze um, auf der seine Daseinsfreude, sein ganzes Lebensglück noch ruhte: die Hoffnung. Die letzte schwache verzweifelnde Hoffnung ...

»Nein!«

Nichts sonst enthielt die Henkersdepesche.

Alle Freuden und Sorgen, aller Glücksjubel und all die Seelenqualen von der Rosendämmerzeit der Kindheit bis herauf zum blühenden frohbewußten Mannesalter, alles Licht seiner Seele, die Wärme seines Empfindens – alles, alles war ausgelöscht, war zerstoben und begraben durch dieses eine kalte entsetzliche »Nein!«

Die Apparate klapperten unaufhörlich. Die Nadel der Bussole schwankte und pendelte. Langsam – schneller; ermattend – aufflackernd: der getreue Pulsschlag des regen funkenentsprungenen Lebens in dem weitgedehnten starren Drahtgespanne.

Mit jenem Blicke, der wohl sieht, aber nichts der Seele, nichts dem innen quellenden Leben vermittelt, sah er über die Ruhelose hinweg zu den hohen wunderlich gestalteten vielgezackten Felsenbergen empor. Sie standen schön und klar in herrlicher Winterpracht – ein steingewordener launenhafter Schöpfergedanke. Und hinter den Bergen ein Winterabendhimmel mit seinen ersten flimmernden Glanzsternen und seinem blassen kalten Farbenzauber, der vom Sonnentode kündet und zugleich scheue Träume spinnt von kommenden Frühlingsfreuden ...

Er sah in die Stille des Abendhimmels empor. Und sein Auge blieb unbeweglich hangen an dem funkelnden Abendstern, der Venus. In ihm aber blieb es starr wie dort droben all die absonderlichen Zinnen und Zacken und Grate. Auch in seiner Seele tiefsten Tiefen war es Winter geworden – und Nacht. Und keine Frühlingshoffnung durchwärmte sie – keine Hoffnung auf den kommenden Tag ...

Sinnentot, hörte er kaum noch das nervenaufregende pochende und hämmernde ungeduldig-drängende und zornige Klappern der Apparate – draußen aber das Lied, das fröhliche jubelnde, ihn unbewußt höhnende Lied, das klang an sein Ohr, dem lauschte er unwillkürlich. Es war ein schönes helles Frühlingslied – jenes von Uhland, mit dem hoffnungsfrohen Verse: »Nun muß sich alles, alles wenden!« Es schien, als sänge unsichtbar, hoch vom Himmel hernieder, der Frühling selber der erstarrten Natur ein Trostliedlein, ein Lied der Hoffnung. Er kannte den Sänger und wußte: auch der durfte hoffen. Auf ein großes, auf ein reiches allgesichertes Glück. Der dort draußen, der trägt sein Glück in sich, so tief, so lebenswarm, so weltendaseinsfroh, wie einst er selber ... Doch jener konnte sein Lieb heimatfreudig und besitzstolz in ein gesichertes Heim führen, er stand seelenruhig auf festem Grunde ... Und sein Lieb, es hatte alles was sie hatte, die erst noch so Blühende – sie, die jetzt drüben bleich und fiebernd liegt in dem unheimlich großen und fast leeren Zimmer mit seinen dunklen flüsternden Ecken – alles: Seele, Herz, Gemütstiefe, Schönheit und frohen Sinn. Aber jene hatte auch reichlich, was die Seine nicht gehabt und auch er nicht: Geld ...

Sie setzten ihre Lebensfreude und ihre Hoffnungen, ihr ganzes stolzes Glückesträumen in den scheinbar festen sicheren Grund ihrer jungen großen Liebe – und in ihre blühende Gesundheit. Aber dem gabenreifen fruchtersehnenden Boden fehlte der goldene fördernde und erhaltende Dünger: das Geld ... Und allmählich wucherten auf ihrem verdorrenden Lebensacker, dem Unkraute gleich, Sorgen und Kümmernisse. Und sie wuchsen und wuchsen und drängten die unbefangenen glücksfrohen Freuden zurück in die verschwiegensten Tiefen ihrer Seelen. Noch so jung, wußten sie beide schon, daß sie glücklich – gewesen.

Und er, der hätte kommen können, um hilfefreudig alles zum Guten zu wenden, er, der mit vollen Händen tausendfach hätte geben können, was ihm fehlte – er ließ durch den blitzesschnellen Funken sagen: »Nein!«

Durch ihr jungblühendes Liebesparadies war an der Seite der bleichen Not die Versuchung gezogen – und hatte gesiegt! Und ihre mächtige Bundesgenossin war – die Liebe ... Sie hatten gesiegt über Pflicht und Ehre ...

Dort hatte sie ihn hingedrängt, die bittere Not, dort zur Kasse. Und die Versuchung hatte sie geöffnet und gesprochen: »Nimm!« Und die Liebe flüsterte: »Um deines kranken Weibes willen, das stirbt, kannst Du ihm nicht bieten, was es haben muß!« Und sanft und zuversichtlich sprach – es klang so seelenwärmend und zukunftssicher – die Hoffnung: »Er wird helfen! Er muß helfen! Dem Menschen muß er helfen als Mensch, will er auch nicht den Neffen retten als erzürnter starrköpfiger Oheim!«

Und der antwortete auf seinen Verzweiflungsbrief: »Nein!«

Er war also nicht bloß ein kleinlicher Starrkopf, der alte Soldat und reiche Gutsbesitzer, der dem Neffen gram war und ihn enterbte, weil er den »glänzenden« Waffenrock auszog und das geliebte geldarme, aber seelenreiche Mädel zu seinem Weibe machte: er war ein herzloser Geldmensch, ein Unmensch, grausamer als das Unrecht, unerbittlicher als der Haß ...

Und daß er, der hilflose Assistent, ein Besiegter war jener dunklen zwingenden Mächte – es konnte täglich, es konnte stündlich entdeckt werden ... Und dann ...

»Herr Assistent, Sie werden gerufen ...« Es war der alte Stationsdiener Püregger, der ihn angesprochen hatte.

Frickenberg stand auf, langsam, unsicher, tastend, wie aus tiefem Rauschschlafe.

»Von wem?«

Der Alte zeigte schweigend auf den rufenden Apparat. Sprechen konnte er nicht, der Blick seines Vorgesetzten, sein Aussehen – es war zum Erbarmen! Einst freilich hatte er ihn nicht recht leiden mögen, den so leicht erregbaren, im Dienste unerbittlich strengen, kurzangebundenen jungen Herrn. Als er ihn aber vor einigen Wochen ungesehen beobachten konnte, wie er gestützten Hauptes dasaß und ein unbezwingliches Erschaudern, ein Weinkrampf schier seinen kräftigen Körper durchrüttelte – da tat er ihm bitter leid. Und seither hatte er ihn auch lieb – den Leidensgenossen! Den jungen gebildeten Leidensgenossen, der so viel mehr und reicher denken konnte als er, der Alte, Ungebildete. Und denken! In Not und Gram und Kummer und Verzweiflung! O, er kannte das! Da kommen die stürmischen Qualgedanken und rütteln wie die siegessicheren Feinde an den Pforten der Vernunft oder schleichen sich wie Schlangen heran und zeigen verlockende Bilder gewaltsamer gesetzverpönter Selbsthilfe – oder Bilder verzweifelnder Erlösung ... Es ist dann gerade, als tät' einer winken: »Komm, mach' schnell! Mach' ein Ende!« ... Ja, das kannte er, der stille Alte, der knorrige Graubart. Darum konnt er jetzt nicht sprechen, darum blieb sein tiefgefurchtes wetterzerrissenes Gesicht starr und unbeweglich.

Frickenberg setzte sich an den Apparat. Eine Flut ungeduldiger Worte des erregten Kollegen der nächsten größeren Station las er gedankenlos ab, hörte sie förmlich mit der zornigen Stimme jenes wohlbekannten Erregten.

»Zug 17 kreuzt mit Zug 268 dort. Zug 3 fährt dem Zug 15 dort vor.«

Gewohnheitsgemäß spielte er auf dieses Diensttelegramm die üblichen Bestätigungen ab, trug die Depesche gewohnheitsgemäß in das »Telegraphen-Journal« ein – dann klapperten die Apparate verdrossen weiter, die Bussolennadel zitterte, bebte, schwankte und pendelte. In ihm aber blieb es noch immer still. Seine Seele hörte nicht und empfand nicht.

Drei grelle Glockenschläge.

»Das Signal vom Achtundsechziger« sagte Püregger, um den in sich Versunkenen aufzumuntern.

Frickenberg stand auf, setzte die rote Kappe zurecht und schritt zur Tür.

»Den Mantel, Herr Assistent! Es ist sehr kalt draußen. Sie könnten sich leicht erkälten.«

»Und wenn ...?« Es zuckte über sein bleiches Gesicht – es sollte wohl ein Lächeln sein. Dem Alten tat es im Herzen weh. Und des Beamten starrer Blick beunruhigte ihn. Er sah drein wie ein Betrunkener, wie einer, der nicht recht ...

Der Zug kam. Es wurde verschoben. Lange, unwillig. Es war ja so kalt und Weihnachtsabend. Frickenberg mahnte nicht, trieb nicht an, ließ alles gehn, wie es ging. Erstaunt sahen ihn die Zugbegleiter an. Was hatte er denn heute, der »schneidigste Assistent« der Strecke? Einer lächelte dem anderen verständnisinnig zu und wünschte sich selbst einen recht heißen, recht starken tiefen Trunk ...

Da kam die Zugmaschine wieder, glutäugig pustend und schnaubend, in hastiger Ungeduld und eingehüllt in eine wirbelnd wallende, jäh zerstiebende Dampfwolke. Und ihr voran auf den eisglitzernden Schienen lief ein glühend roter Schein, schlangenartig, züngelnd, nach ihm langend. Und er ging den zuckenden schillernden Schlangen entgegen – es zog ihn widerwillig hin, unbezwinglich ... Wie im Zorn gellte die Lokomotive – er wankte zurück. Drüben das matterleuchtete Fenster – nein! Jetzt nicht! Nicht ohne sie! Sie war ja bereit.

»Wenn es nicht anders geht, machen wir ein Ende.«

So sagte sie vergangene Nacht. Und nun war er am Ende ...

»Gehn ma?« fragte der Zugführer, auf die Uhr schauend.

Frickenberg nickte, zog seine Uhr hervor, verglich sie auch mit jener des Maschinführers und rief Püregger zu, das Signal zu geben.

Langsam kroch der schwere Zug die Steigung hinan. Die Wagenräder klirrten, rollten, kreischten, klapperten, sangen. Die mächtige Bergmaschine keuchte schwer und tief und sandte gewaltige Feuerwolken in die sinkende Dämmerung hinein. Hochauf flogen dicke weiße zitternde Ringe. Darunter wogte und wallte, quirlte und kreiste es und mengte sich ineinander blutig rot, gespenstig weiß und abscheulich schwarz – vielgestaltig, blitzschnell wechselnd, phantastisch, dämonisch.

Frickenberg starrte auf das oft geschaute Bild hin, als sei es ihm etwas Neues, Fremdes. Und in ihm kam ein Gefühl auf, als drohte ein Unglück.

Kaum war der Signalwagen über den Ausfahrtswechsel, als zwei Glockenschläge die kalte dünne Luft durchzitterten, grell, hastig, drohend, wie schadenfroh jauchzend. Und wieder zwei und wieder – das Signal für den Zug 17! Für den Personenzug, der hier in der Station mit dem eben ausfahrenden Güterzug kreuzen sollte und in der kürzesten Fahrzeit kam, da er verspätet war.

Die nahe unabsehbare Gefahr machte ihn rasch zum Herrn der verhängnisvollen Lage.

»Geben Sie 'Alle Züge aufhalten!'« rief er Püregger zu und entriß ihm die Laterne.

Dann rannte er schnellbeinig, kraftsicher dem Zuge nach. Er sprang über Wechsel hinweg, über Schienen und Schotter, über Gräben und Leitungsdrähte und schwang die Laterne in mächtigem Kreise – das rettende Signal, das den Zug zurückrufen sollte, ehe es zu spät, ehe er das während des Verschiebens auf »Halt« gestellte Distanzsignal überfahren und in den tiefen, in scharfer Biegung liegenden Felseinschnitt kam – dort war der Zusammenstoß unabwendbar. Er sah mit dem scharfen Auge des Verzweifelten im Dunkel den Stockmann auf seiner Bremse stehn – mit dem Rücken gegen ihn. Nahm dieser Mann das Signal nicht auf, dann ... Er rief, schrie, pfiff, schwang unausgesetzt die Laterne, stürzte, eilte mit verletztem Knie weiter und weiter.

Die vereisten Schienen erschwerten glücklicherweise die Ausfahrt sehr und verlangsamten sie – vielleicht erreicht der Zug nicht früher ... Nein! das nützte nichts! Dort droben stand das Distanzsignal – und zeigte auf »Frei!« Frei für den einfahrenden Personenzug – frei für den Siegeszug des Verhängnisses und des Todes ...


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