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Literatur


04.3




Adolf Schwayer

Weihnachtserzählungen


Assistent Frickenberg 2

Eine Sekunde stand er wie gelähmt. Unversehens streifte seine Hand die Rocktasche. Ein rascher Griff, ein Blitz und scharfer lauter Knall – der Revolver, der sein Erlöser werden sollte, war zum Retter geworden für all die Ahnungslosen in dem nahenden Zuge: der Stockmann hatte den Schuß gehört, wandte sich um, sah das hilfeheischende Signal, gab es weiter, sprang ab, lief vor – und endlich, endlich schwankten die bedeutungsvollen Lichter den Zug entlang ... Eines – zwei – drei ... Schrill gelte der erlösende Pfiff der Lokomotive. Es klang wie ein Schreckensschrei. »Achtung! Bremsen an!«

»Zurück! zurück!«

Frickenberg stand, einen Fuß auf die Birne des Einfahrtswechsels gestützt, wie angewachsen, wie angefroren, so aufrecht, so starr und so bleich. Der lange Zug polterte an ihm vorbei auf das schützende Nebengleis.

»Was gibt's?« rief der Zugführer atemlos und machte große erschreckte Augen, vorwurfsvolle.

Frickenberg wies stumm nach der Höhe. Dort tauchten die roten Lichter der Personenzugs-Lokomotive auf. Ein scharfer warnender Pfiff und der heute ungewöhnlich lange Zug mit seinen zwei schnaubenden dampfenden Maschinen sauste und donnerte an Frickenberg vorbei in die Station.

Aus all den hellbeleuchteten Wagenfenstern sahen fröhlich lachende und plaudernde erwartungsungeduldige Menschen – ahnungslose festfreudige Menschenkinder ...

Ein Grausen packte Frickenberg. Er sah sie unter rauchenden Trümmern liegen, die erst so Fröhlichen alle – wimmernd, stöhnend, hilfeschreiend ... Und viele still – tot ...

Püregger kam heran, steif und starr, das tiefgefurchte wetterbraune Antlitz leichenfahl ... Er war vorhin zum Apparat geeilt. Es fiel ihm das Signal nicht ein. Er suchte nach dem Buche das es enthielt, und fand es nicht. In seiner steigenden Angst und Verwirrung tat er den verhängnisvollen Griff, der das Distanzsignal wieder auf »Frei!« stellte, gab aufs Geradewohl ein auffallendes Glockenzeichen und wankte mit dem erdrückenden Bewußtsein, ein falsches gegeben zu haben, wieder hinaus

Für Frickenberg war sein Erscheinen die lebendige Mahnung zur Erfüllung seiner Pflichten. Er kam ihnen nach, so gut es ging, fast wortlos, gewohnheitsmäßig, ohne Willkür. Er war wie erstarrt und glich noch mehr einer wandelnden Leiche als der alte Püregger.

Als der Zug voll heiterer Menschen draußen war, und er stumm den Lastzug mit seinem verdutzten und erschrockenen Personale abgefertigt hatte, kam der Stationsvorstand erregt auf ihn zu.

Was es gegeben habe?!

Frickenberg glotzte ihn an, ohne eine Miene zu verziehen, unfähig, ein Wort hervorzubringen.

»Herr, Sie sind besoffen!«

Der andere stand still, regungslos. Er hatte ja getrunken in den erregten Stunden der Erwartung jener Entscheidung, die schon nachts hätte kommen können, jede Stunde kommen mußte und immer nicht kam. Es waren Ewigkeiten des Erwartens und der Seelenmarter. Da trank er viel, sehr viel. Aber es griff ihn nicht an. Seine seelische Erregung war stärker als die geistige des Weines. Und jetzt war er wie gelähmt, wie ausgehöhlt im Innern.

»Ich ziehe Sie vom Dienste ab, Herr Assistent! Gehn Sie! Haben Sie mich verstanden?«

Er ging, wankte. Den Stationsplatz hinab mußte er. Auch durch die Einfahrtshalle ... Von dort führte links ein dunkler Gang zu seiner Wohnung. Er wandte den Kopf zur Seite, schlich vorbei, auf die Straße hinaus – den Rock offen, die rote Kappe tief im Genicke. Der Schnee knisterte und knirschte unter seinen Füßen. Ein leichter feiner Nebel lag über der Gegend. Und weithin spannen die bleichen Mondesstrahlen liebliche Träume. Weihnachtsträume, Weihnachtsmärchen. Er ging seinem Schatten nach, starrte ihn an, wie etwas Fremdes, Ungewöhnliches, bückte sich danach und schob sich mühsam wieder in die gerade Haltung. Dort vorn beim Magazine glitzerte und schimmerte etwas farbenmild im Mondscheine. Liegnitzer Ziegel. Schöne glatte kristallartige Bausteine.... Die gehörten dem, der heute das Frühlingslied in den Winterabend hineingesungen – dem Glücklichen ... dem doppelt Reichen! Der wird sich im kommenden Frühjahre eine Villa bauen dort droben bei dem lauschigen Waldhange. Und in das schöne glitzernde Haus wird er sein trautes, mit Seele und Geld gesegnetes Liebchen einführen als glückliches geldsorgengefeites Weib. Eine schöne stattliche Villa mit Türmchen und Erker ...

Dort hinter dem Magazine stand eine Reihe Lastwagen. Er blieb stehn, lange, an das Gitter gelehnt, und lächelte seltsam. Die Geister des Weines wurden allgemach Herren über seinen Willen, über seine Sorgen und seine grausam überspannten Nerven ... Leuchtende Trugbilder stiegen vor ihm auf, lockende, beglückende ... Er sah in den Wagen dort seine Ziegel und wollte sich ein Schloß erbauen, just über jener Villa, ein Schloß mit hohem schlankem Turm und einer flatternden Fahne darauf ... Dort wollte er stehn mit Frida, seinem Weibe, und singen so froh und hell, so jubelnd, wie jene dort unter ihm ... Jenes schöne liebe Frühlingslied ...

Als er schwankend weiter ging, die Hände auf dem Rücken, den Kopf gesenkt und ein geistlos-schalkhaftes Lächeln auf den Lippen – da summte und tönte, jubelte und schmeichelte das Lied um ihn her, klangrein und lockend, glücksfroh und unablässig. Und sachte und eroberungslustig führten es die siegreich gewordenen Weingeister in seine leere unbehütete Seele. Aber schnell, wie ein Kind aus ödem finsterem Hause, sprang es über die verzerrten Lippen wieder zurück: in lauten heiseren Tönen störte es die Stille der heiligen Nacht und erstarb zitternd im raschen frostklaren Wiederklange ...

So kam er in den Ort. Leute erschienen neugierig an den christbaumschimmernden Fenstern, traten aber lachend oder geärgert und empört über die leichtfertige Störung wieder zurück. Manches harte Schimpfwort folgte ihm nach. Es mochte ihn ja niemand recht leiden im ganzen Orte. Er war so wortkarg, schloß sich niemand an und galt daher für stolz – der Herr von Habenichts! Unaufgehalten kam er singend an das andere Ende des kleinen Ortes und wieder ins Freie. Ein schriller kurzer Pfiff machte ihn endlich verstummen. Er sah nach der Station hinüber. Dort hielt heute ausnahmsweise der Schnellzug.

Bei dem Anblicke der beleuchteten Wagenfenster überkam ihn ein plötzliches Angstgefühl. Er wurde sich dessen bewußt, wehrte sich dagegen und schritt steif, trotzig, gewaltsam aufrecht wie ein Volltrunkener, der flüchtig zum Bewußtsein seines Rausches kommt, die Straße entlang, leise vor sich hinpfeifend, ängstlich in die Ferne lauschend.

Wieder ein kurzer Pfiff dort drüben und ein namenloses Erschaudern in seiner furchtbezwungenen Seele. Fernher hörte er das Schnauben und Pusten des Zuges. Plötzlich verstummte es. Er wagte nicht, sich umzuschauen, und pfiff sein Liedchen lauter. Es nützte nichts: er hörte es kommen über den hartgefrorenen Schnee. Es huschte und sprang, es pfauchte und hauchte, griff aus mit langen hageren Beinen und langte nach ihm mit dürren gierigen Armen ... Er ging unbewußt schneller, lief, stürmte dahin wie ein Verfolgter, querfeldein, die Höhe hinan, dem Walde zu. Endlich stürzte er und blieb liegen in dem kalten knisternden Schnee. Der kühlte ihm die heiße schweißtriefende Stirne.

Wie er so dalag, sah er sich im Geiste als kleinen Knaben in fliegender Angst durch jene lange dunkle Allee jagen, durch die ihn die wilde Gespensterfurcht einst so oft in solch sinnlose wahnwitzige Flucht getrieben. Und er sah das liebe einsame düstere Vaterhaus mit seinen großen tönenden Hallen und seinen unheimlichen Kellerräumen, durch die nächtlich Geister schlichen. Um diese angsterzeugten Bilder schlossen sich und sammelten sich nun wieder die verwirrten Gedanken. Er mußte des Vaters gedenken, des wortkargen finsteren Mannes, und der lieben guten Mutter, des holden Sonnenscheines in jenem düsteren Hause, der Sonne seiner verträumten freudenarmen Jugend.

Und den zagenden Gedanken folgten drängend und ringend die lange erstarrten Gefühle ... Trostlose Vereinsamung durchzog zuerst die wieder erwachende Seele. Und jählings darauf ein Sehnen, ein heißes brünstiges Sehnen nach der fernen fremden unerforschten Heimat dort über den Sternen. Und aus diesem ernsten warmen Fühlen rang sich unvermittelt aus den Fesseln der Betäubung los seiner Seele großer brennender Schmerz ... Wild und mächtig faßte er ihn an und wie ein Schrei nach Gerechtigkeit flohen wieder die ersten bewußten Worte über seine Lippen.

»Du Allbarmherziger! Hab ich das verdient!«

Flehend und drohend zugleich streckte er beide Arme gegen den mildschimmernden Sternenhimmel.

Da löste es sich von dem Baume neben ihm schwer und lautlos und flog mit trägen schwarzen Schwingen langsam und geisterhaft dem nahen Walde zu. Sachte rieselten auf ihn herab die zarten Nebelblüten, die der große Zauberer des Winters, der Rauhfrost, um Ast und Aestchen spinnenzart gesponnen.

Betroffen sah er dem großen schwarzen Vogel nach, der wie der Geist des Bösen von ihm geflohen. Und sinnend sah, schaute er zum ersten Male wieder in die stille rätselvolle Glanznacht.

Knapp vor ihm stieg ein feiner Hauch aus dem Schnee empor. Dort ruhte wohl im warmen Neste ein scheues Hasenpaar. Die Wärme zog ihn an und jäh aufwallende zornige Zerstörungslust. Schon hob er den Fuß, um die armen Tiere erbarmungslos in die bitterkalte Frostnacht zu jagen ... Plötzlich aber hielt er ein, senkte Haupt und Arme.

»Wozu? Das Blei ist schon gegossen, das euch den sicheren Tod bringt, wie oft unser Schicksal schon beschlossen ist, wenn wir ahnungslos noch in Freuden schwelgen ... Und ich – ich bin angeschossen vom Schicksale – totgetroffen ... und kann mir den Gnadenstoß selbst geben ... Das ist mein einziger Vorteil vor euch, ihr vielbedrohten Todgeweihten.«

Er wandte sich mit rascher Gebärde von dem dampfenden Neste ab und schritt langsam den schneeigen Hang hinab. Fernher klangen Glocken. Weihnachtsglocken. Feierlich, friedvoll betend. Seine Seele aber fröstelte dabei und seine Gedanken irrten in weiter öder Wirrnis – schwere schwarze unchristliche, hilfeheischende Gedanken – und nirgends winkende Rettung, nirgends endliche Ruhe ...

Drunten von der Straße herauf klang jetzt eine klare Männerstimme:

»Wo gehst du hin?«

»Heim!« antwortete froh bewegt eine andere.

Heim! Auch er wollte heimgehn. Ja heim! Zu ihr und dann mit ihr ...

Trotzig richtete er sich auf und ging festen sicheren Schrittes die erreichte Straße entlang – heimwärts! Aus Not und Elend, aus Kummer und drohender Schande, aus Menschenverachtung und namenlosem Ekel heimwärts ...

Doch sein Kind! Das arme liebe rosige Kindlein ... Engelsschön kam es in diese Welt – und wurde zum Unheilsboten für die, die es lieben sollten und lieben mußten. Die Mutter starb beinahe in jener schweren Stunde – und seither sind Krankheit, sind Not und Elend daheim die Hausgenossen und seine unzertrennlichen Begleiter die Verzweiflung und die Versuchung ...

Er schritt gedankenversunken vorwärts, dem Orte zu, die stillen Straßen zum Bahnhofe hinaus.

Vor diesem hielt er ein. Droben im ersten Stock schimmerten die Lichter des Weihnachtsbaumes. Er hörte den Jubel der Kinder und sah das Schattenbild seines Vorstandes im Fenster. Der dort droben – der könnte auch helfen! Er hatte Geld. Er ließ sich kaufen mit dem Gelde seines seelenarmen Weibes – vielleicht rührt ihn, den innerlich Glücklosen, des verzweifelten Kollegen Unglück – vielleicht hilft er in dieser Stunde des Friedens und selbstlosen Gebens ... Vielleicht ...

»Der!« Er lachte auf. Hatte ihm doch der wirklich Beglückte, der heute jenes Frühlingslied gesungen, nicht geholfen! Und andere mehr, auf die er baute – Freunde, Jugendfreunde, Dankesverpflichtete ...

»Da ist mein einziger Retter und Helfer! Mein einziger Erbarmer!« Er schlug bei diesem Gedanken an die Tasche, die den Revolver enthielt.



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