Assistent Frickenberg 2
Eine Sekunde stand er wie gelähmt.
Unversehens streifte seine Hand die Rocktasche. Ein rascher Griff, ein Blitz
und scharfer lauter Knall – der Revolver, der sein Erlöser werden sollte, war
zum Retter geworden für all die Ahnungslosen in dem nahenden Zuge: der
Stockmann hatte den Schuß gehört, wandte sich um, sah das hilfeheischende
Signal, gab es weiter, sprang ab, lief vor – und endlich, endlich schwankten
die bedeutungsvollen Lichter den Zug entlang ... Eines – zwei – drei ...
Schrill gelte der erlösende Pfiff der Lokomotive. Es klang wie ein
Schreckensschrei. »Achtung! Bremsen an!«
»Zurück! zurück!«
Frickenberg stand, einen Fuß auf die
Birne des Einfahrtswechsels gestützt, wie angewachsen, wie angefroren, so
aufrecht, so starr und so bleich. Der lange Zug polterte an ihm vorbei auf das
schützende Nebengleis.
»Was gibt's?« rief der Zugführer atemlos
und machte große erschreckte Augen, vorwurfsvolle.
Frickenberg wies stumm nach der Höhe.
Dort tauchten die roten Lichter der Personenzugs-Lokomotive auf. Ein scharfer
warnender Pfiff und der heute ungewöhnlich lange Zug mit seinen zwei
schnaubenden dampfenden Maschinen sauste und donnerte an Frickenberg vorbei in
die Station.
Aus all den hellbeleuchteten
Wagenfenstern sahen fröhlich lachende und plaudernde erwartungsungeduldige
Menschen – ahnungslose festfreudige Menschenkinder ...
Ein Grausen packte Frickenberg. Er sah
sie unter rauchenden Trümmern liegen, die erst so Fröhlichen alle – wimmernd,
stöhnend, hilfeschreiend ... Und viele still – tot ...
Püregger kam heran, steif und starr, das
tiefgefurchte wetterbraune Antlitz leichenfahl ... Er war vorhin zum Apparat
geeilt. Es fiel ihm das Signal nicht ein. Er suchte nach dem Buche das es
enthielt, und fand es nicht. In seiner steigenden Angst und Verwirrung tat er
den verhängnisvollen Griff, der das Distanzsignal wieder auf »Frei!« stellte,
gab aufs Geradewohl ein auffallendes Glockenzeichen und wankte mit dem
erdrückenden Bewußtsein, ein falsches gegeben zu haben, wieder hinaus
Für Frickenberg war sein Erscheinen die
lebendige Mahnung zur Erfüllung seiner Pflichten. Er kam ihnen nach, so gut es
ging, fast wortlos, gewohnheitsmäßig, ohne Willkür. Er war wie erstarrt und
glich noch mehr einer wandelnden Leiche als der alte Püregger.
Als der Zug voll heiterer Menschen
draußen war, und er stumm den Lastzug mit seinem verdutzten und erschrockenen
Personale abgefertigt hatte, kam der Stationsvorstand erregt auf ihn zu.
Was es gegeben habe?!
Frickenberg glotzte ihn an, ohne eine
Miene zu verziehen, unfähig, ein Wort hervorzubringen.
»Herr, Sie sind besoffen!«
Der andere stand still, regungslos. Er
hatte ja getrunken in den erregten Stunden der Erwartung jener Entscheidung,
die schon nachts hätte kommen können, jede Stunde kommen mußte und immer nicht
kam. Es waren Ewigkeiten des Erwartens und der Seelenmarter. Da trank er viel,
sehr viel. Aber es griff ihn nicht an. Seine seelische Erregung war stärker als
die geistige des Weines. Und jetzt war er wie gelähmt, wie ausgehöhlt im
Innern.
»Ich ziehe Sie vom Dienste ab, Herr
Assistent! Gehn Sie! Haben Sie mich verstanden?«
Er ging, wankte. Den Stationsplatz hinab
mußte
er. Auch durch die Einfahrtshalle ... Von dort führte links ein dunkler Gang zu
seiner Wohnung. Er wandte den Kopf zur Seite, schlich vorbei, auf die Straße
hinaus – den Rock offen, die rote Kappe tief im Genicke. Der Schnee knisterte
und knirschte unter seinen Füßen. Ein leichter feiner Nebel lag über der
Gegend. Und weithin spannen die bleichen Mondesstrahlen liebliche Träume.
Weihnachtsträume, Weihnachtsmärchen. Er ging seinem Schatten nach, starrte ihn
an, wie etwas Fremdes, Ungewöhnliches, bückte sich danach und schob sich mühsam
wieder in die gerade Haltung. Dort vorn beim Magazine glitzerte und schimmerte
etwas farbenmild im Mondscheine. Liegnitzer Ziegel. Schöne glatte
kristallartige Bausteine.... Die gehörten dem, der heute das Frühlingslied in
den Winterabend hineingesungen – dem Glücklichen ... dem doppelt Reichen! Der
wird sich im kommenden Frühjahre eine Villa bauen dort droben bei dem
lauschigen Waldhange. Und in das schöne glitzernde Haus wird er sein trautes,
mit Seele und Geld gesegnetes Liebchen einführen als glückliches
geldsorgengefeites Weib. Eine schöne stattliche Villa mit Türmchen und
Erker ...
Dort hinter dem Magazine stand eine
Reihe Lastwagen. Er blieb stehn, lange, an das Gitter gelehnt, und lächelte
seltsam. Die Geister des Weines wurden allgemach Herren über seinen Willen,
über seine Sorgen und seine grausam überspannten Nerven ... Leuchtende
Trugbilder stiegen vor ihm auf, lockende, beglückende ... Er sah in den Wagen
dort seine
Ziegel und wollte sich ein Schloß erbauen, just über jener Villa, ein Schloß
mit hohem schlankem Turm und einer flatternden Fahne darauf ... Dort wollte er
stehn mit Frida, seinem Weibe, und singen so froh und hell, so jubelnd, wie
jene dort unter ihm ... Jenes schöne liebe Frühlingslied ...
Als er schwankend weiter ging, die Hände
auf dem Rücken, den Kopf gesenkt und ein geistlos-schalkhaftes Lächeln auf den
Lippen – da summte und tönte, jubelte und schmeichelte das Lied um ihn her,
klangrein und lockend, glücksfroh und unablässig. Und sachte und
eroberungslustig führten es die siegreich gewordenen Weingeister in seine leere
unbehütete Seele. Aber schnell, wie ein Kind aus ödem finsterem Hause, sprang
es über die verzerrten Lippen wieder zurück: in lauten heiseren Tönen störte es
die Stille der heiligen Nacht und erstarb zitternd im raschen frostklaren
Wiederklange ...
So kam er in den Ort. Leute erschienen
neugierig an den christbaumschimmernden Fenstern, traten aber lachend oder
geärgert und empört über die leichtfertige Störung wieder zurück. Manches harte
Schimpfwort folgte ihm nach. Es mochte ihn ja niemand recht leiden im ganzen
Orte. Er war so wortkarg, schloß sich niemand an und galt daher für stolz – der
Herr von Habenichts! Unaufgehalten kam er singend an das andere Ende des
kleinen Ortes und wieder ins Freie. Ein schriller kurzer Pfiff machte ihn
endlich verstummen. Er sah nach der Station hinüber. Dort hielt heute
ausnahmsweise der Schnellzug.
Bei dem Anblicke der beleuchteten
Wagenfenster überkam ihn ein plötzliches Angstgefühl. Er wurde sich dessen
bewußt, wehrte sich dagegen und schritt steif, trotzig, gewaltsam aufrecht wie
ein Volltrunkener, der flüchtig zum Bewußtsein seines Rausches kommt, die
Straße entlang, leise vor sich hinpfeifend, ängstlich in die Ferne lauschend.
Wieder ein kurzer Pfiff dort drüben und
ein namenloses Erschaudern in seiner furchtbezwungenen Seele. Fernher hörte er
das Schnauben und Pusten des Zuges. Plötzlich verstummte es. Er wagte nicht,
sich umzuschauen, und pfiff sein Liedchen lauter. Es nützte nichts: er hörte es
kommen über den hartgefrorenen Schnee. Es huschte und sprang, es pfauchte und
hauchte, griff aus mit langen hageren Beinen und langte nach ihm mit dürren
gierigen Armen ... Er ging unbewußt schneller, lief, stürmte dahin wie ein
Verfolgter, querfeldein, die Höhe hinan, dem Walde zu. Endlich stürzte er und
blieb liegen in dem kalten knisternden Schnee. Der kühlte ihm die heiße
schweißtriefende Stirne.
Wie er so dalag, sah er sich im Geiste
als kleinen Knaben in fliegender Angst durch jene lange dunkle Allee jagen,
durch die ihn die wilde Gespensterfurcht einst so oft in solch sinnlose
wahnwitzige Flucht getrieben. Und er sah das liebe einsame düstere Vaterhaus
mit seinen großen tönenden Hallen und seinen unheimlichen Kellerräumen, durch
die nächtlich Geister schlichen. Um diese angsterzeugten Bilder schlossen sich
und sammelten sich nun wieder die verwirrten Gedanken. Er mußte des Vaters
gedenken, des wortkargen finsteren Mannes, und der lieben guten Mutter, des
holden Sonnenscheines in jenem düsteren Hause, der Sonne seiner verträumten
freudenarmen Jugend.
Und den zagenden Gedanken folgten
drängend und ringend die lange erstarrten Gefühle ... Trostlose Vereinsamung
durchzog zuerst die wieder erwachende Seele. Und jählings darauf ein Sehnen,
ein heißes brünstiges Sehnen nach der fernen fremden unerforschten Heimat dort
über den Sternen. Und aus diesem ernsten warmen Fühlen rang sich unvermittelt
aus den Fesseln der Betäubung los seiner Seele großer brennender Schmerz ...
Wild und mächtig faßte er ihn an und wie ein Schrei nach Gerechtigkeit flohen
wieder die ersten bewußten Worte über seine Lippen.
»Du Allbarmherziger! Hab ich das
verdient!«
Flehend und drohend zugleich streckte er
beide Arme gegen den mildschimmernden Sternenhimmel.
Da löste es sich von dem Baume neben ihm
schwer und lautlos und flog mit trägen schwarzen Schwingen langsam und
geisterhaft dem nahen Walde zu. Sachte rieselten auf ihn herab die zarten
Nebelblüten, die der große Zauberer des Winters, der Rauhfrost, um Ast und
Aestchen spinnenzart gesponnen.
Betroffen sah er dem großen schwarzen
Vogel nach, der wie der Geist des Bösen von ihm geflohen. Und sinnend sah, schaute
er zum ersten Male wieder in die stille rätselvolle Glanznacht.
Knapp vor ihm stieg ein feiner Hauch aus
dem Schnee empor. Dort ruhte wohl im warmen Neste ein scheues Hasenpaar. Die
Wärme zog ihn an und jäh aufwallende zornige Zerstörungslust. Schon hob er den
Fuß, um die armen Tiere erbarmungslos in die bitterkalte Frostnacht zu jagen
... Plötzlich aber hielt er ein, senkte Haupt und Arme.
»Wozu? Das Blei ist schon gegossen, das
euch den sicheren Tod bringt, wie oft unser Schicksal schon beschlossen ist,
wenn wir ahnungslos noch in Freuden schwelgen ... Und ich – ich bin
angeschossen vom Schicksale – totgetroffen ... und kann mir den Gnadenstoß
selbst geben ... Das ist mein einziger Vorteil vor euch, ihr vielbedrohten
Todgeweihten.«
Er wandte sich mit rascher Gebärde von
dem dampfenden Neste ab und schritt langsam den schneeigen Hang hinab. Fernher
klangen Glocken. Weihnachtsglocken. Feierlich, friedvoll betend. Seine Seele
aber fröstelte dabei und seine Gedanken irrten in weiter öder Wirrnis – schwere
schwarze unchristliche, hilfeheischende Gedanken – und nirgends winkende
Rettung, nirgends endliche Ruhe ...
Drunten von der Straße herauf klang
jetzt eine klare Männerstimme:
»Wo gehst du hin?«
»Heim!« antwortete froh bewegt eine
andere.
Heim! Auch er wollte heimgehn. Ja heim!
Zu ihr und dann mit ihr ...
Trotzig richtete er sich auf und ging
festen sicheren Schrittes die erreichte Straße entlang – heimwärts! Aus Not und
Elend, aus Kummer und drohender Schande, aus Menschenverachtung und namenlosem
Ekel heimwärts ...
Doch sein Kind! Das arme liebe rosige
Kindlein ... Engelsschön kam es in diese Welt – und wurde zum Unheilsboten für
die, die es lieben sollten und lieben mußten. Die Mutter starb beinahe in jener
schweren Stunde – und seither sind Krankheit, sind Not und Elend daheim die
Hausgenossen und seine unzertrennlichen Begleiter die Verzweiflung und die
Versuchung ...
Er schritt gedankenversunken vorwärts,
dem Orte zu, die stillen Straßen zum Bahnhofe hinaus.
Vor diesem hielt er ein. Droben im
ersten Stock schimmerten die Lichter des Weihnachtsbaumes. Er hörte den Jubel
der Kinder und sah das Schattenbild seines Vorstandes im Fenster. Der dort
droben – der könnte auch helfen! Er hatte Geld. Er ließ sich kaufen
mit dem Gelde seines seelenarmen Weibes – vielleicht rührt ihn, den innerlich
Glücklosen, des verzweifelten Kollegen Unglück – vielleicht hilft
er in dieser Stunde des Friedens und selbstlosen Gebens ... Vielleicht ...
»Der!« Er lachte auf. Hatte ihm doch der
wirklich Beglückte, der heute jenes Frühlingslied gesungen, nicht geholfen! Und
andere mehr, auf die er baute – Freunde, Jugendfreunde,
Dankesverpflichtete ...
»Da ist mein einziger Retter und Helfer!
Mein einziger Erbarmer!« Er schlug bei diesem Gedanken an die Tasche, die den
Revolver enthielt.