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Literatur


04.3


Adolf Schwayer

Weihnachtserzählungen



Weihnachtszauber 1

Ungewöhnlich lange dauerte es diesmal. Das ganze schmucke neue Haus duftete schon von Tannengrün und Wachskerzen und noch immer klang die Glocke nicht, das liebe silberhelle Glöcklein, das nur einmal des Jahres erklingt, nur einmal ruft und jubelt: am Christabend.

Wieder und wieder glaubten sie's zu hören. Dann sprangen sie auf, lauschten und liefen vor die Tür. Enttäuscht kehrten sie zurück in das trauliche Halbdunkel ihres Zimmers und überließen sich wieder der drangvoll süßen Ungeduld und froherregenden Erwartungsfreude. Und immer wieder ging die kindliche Phantasie, durchwärmt von heller Herzenslust und durchschauert von ehrfürchtigen Empfindungen, ihre krausen Wege. Tastend jetzt und zaghaft an dunklen verschlossenen Türen vorbei – jetzt jäh auffliegend ins Sonnenland des Märchenhaften, einer aufgescheuchten Schar bunter Vöglein gleich, die im Sonnenglanz verschwinden, als hätt' sich ihnen überschnell eine unsichtbare Pforte aufgetan und rasch wieder geschlossen hinter den scheu Entflohenen.

Jetzt schlug die Uhr vom nahen Kirchturm die Stunde. Sie lauschten und zählten.

»Sechs Uhr schon!« rief Klein-Elli betroffen. »Um die Zeit war das Christkind immer schon da bei uns.«

»Ja, mein Gott,« meinte altklug der fast achtjährige Otto, der Aelteste, »jetzt, wo wir da heraußen wohnen, wird's wohl noch später.«

»Ja«, hauchte Elli und ihre Augen wurden groß dabei.

Und Norbert, der jüngste, ließ sein Spielzeug fallen, starrte die beiden Größeren schier angstvoll an und sagte traurig: »Noch später.«

Alle drei sehnten sich in dieser Stunde zurück in die enge, aber trauliche Wohnung drinnen in dem großen Stadthause, hoch droben im letzten Stockwerk. Erst als Otto daran erinnerte, daß der Vater nie so heiter war wie jetzt, wo sie hier wohnten in den schönen Räumen des kleinen eigenen Hauses – erst dann versöhnten sich die kleinen Zürnenden wieder mit dem neuen Heim, wo noch alles, neu und vornehm, sie anrief. »Rühr mich nicht an! Streif nicht an mich an! Stoß mich nicht ab!« Und scheu wichen sie all dem unvertrauten Neuen und Fremden aus und gingen im Kreise um die Ecken. – Wie war's doch drinnen in der Stadt anders inmitten der lieben alten Möbel, die sie alle kannten und die ihnen allerlei zu erzählen wußten aus der geheimnisvollen Morgendämmerung ihres Daseins. Freilich, der Vater kam dort oft mit trüben Mienen heim und ging stumm in sein Kämmerlein. Dann wanderte die Mutter still von der Küche ins Zimmer und ruhelos wieder zurück. Sie sah, was die Kleinen nicht sahen, aber in ihren reinen Herzen dunkel ahnten: daß an ihres Mannes Seite eine graue Gestalt herangeschlichen war und ihre dürre Hand, ach! so vertraut auf seine Schultern legte – die dürre kleine Hand, die so schwer wiegen und so unerbittlich Lebensglanz und Freudenschimmer verwischen kann wie ein feuchter Schwamm die Schriftzüge auf einer Tafel: die Hand der Frau Sorge. Und sie wußte auch, was die Kinder nicht ahnten und ahnen sollten: daß oft an ihrer bescheidenen Heimstatt Tür der Frau Sorge ungestümere Schwester pochte: die Not.

Ein Glücksfall brachte mit einem Male Sonnenglanz in das nebelumflorte Sorgenleben des kleinen kindergesegneten Beamten. Schier betäubt war er von der Größe und Plötzlichkeit dieses Glücks. All die drückenden Schulden konnte er bezahlen, seiner stillen Frau kaufen, was sie sich heimlich oft gewünscht, und seine Kinder kleiden, schmuck und fein und sauber, wie er es längst ersehnte. Und allen seinen eigenen Wünschen Erfüllung bieten. Dabei ging er aber oft über das gebotene Maß vornehmen Schönheitssinnes hinaus und verletzte dadurch das zarte Feinheitsgefühl seines Weibes. Anfangs mit stillem Lächeln, bald aber mit Befremden und endlich mit heimlichem Kummer merkte Frau Herma, wie ihr sonst so bescheidener Mann immer mehr die unleidlichen Manieren eines Emporkömmlings annahm und ein Wesens machte, das der Wirklichkeit gar nicht entsprach. Daß sie fortan sorgenlos leben, daß sie sich dieses Häuschen bauen und sich frohgemut der Stunde hingeben konnten – das war alles. Und das war viel, unendlich viel für Hermas seelenheitre Art; aber es war wenig in den Augen der Welt, die nur aufs Aeußerliche sieht und nicht ahnen kann, wie unsagbar reich ein armes Menschenherz sein kann, tief drinnen in der Brust. Und Herma war reich gewesen von jeher und hielt auch Konrad, ihren bisher so schweigsamen Mann, für innerlich reich und seelentief. Und nun mußte sie sehen, wie er protzte, wie er groß tat vor allen Leuten. Das tat ihr weh. Und sogar der Zweifel bekam allgemach Gewalt über sie. Sie fragte sich, ob ihres Mannes Gemüt wirklich so schlicht sei und so tief bescheiden, als es ihr bisher schien und sie es liebte. Sollte es nur die Sorge, die Not kümmerlich ins Blühen gebracht haben? War das schwere Schweigen nur eine Hülle, die nichts verhüllte?

Heimlich wünschte sie oft, es wäre geblieben wie früher. Lieber ertragen und dulden, lieber sich beugen in Sorgen und Kümmernissen – aber innerlich froh sein können, vertrauensstolz froh und stark in der Ueberzeugung, in sich einen Schatz zu tragen, den uns niemand rauben kann, in sich ein Feuer brennen zu wissen, das durch nichts auf dieser Welt ganz erlöschen und ganz erkalten kann: die Liebe zueinander und das große tiefe herzbeglückende Vertrauen, das solcher Liebe entspringt. Und jetzt, wo alles Gute in ihnen sprießen, alles Edle blühen konnte, wo sie aus dem Sumpfe kleinlicher gemeiner Alltagssorgen auf festes sicheres Land gerettet waren – jetzt sollte sie erkennen müssen, daß ihres Mannes Gemüt seicht, seine Gesinnung oberflächlich sei? Auf wiederholte Bemerkungen, die an sein Feingefühl gerichtet waren, hatte er nur ein Lachen, das in seiner selbstsicheren Unbefangenheit Herma weher tat als etwa eine schroffe Abweisung. War er wirklich nur und noch immer glückberauscht oder stand ihr die herbste Enttäuschung ihres Lebens bevor? Sie wollte abwarten, eh sie zum offenen Kampfe überging oder – still verzichtete.

Er aber lebte froh in den Tag hinein und ahnte wohl kaum, was seine Frau heimlich so tief bedrückte. Erst am Weihnachtsabend, als Herma in voller tiefer Stimmung in ihr Zimmer ging und erwartungsfroh jene Lade aufzog, wo sie den lange treu bewahrten Christbaumschmuck verbarg und er, rasch dazwischentretend, ihr verwehrte, den »alten Tand« nochmals auf den Baum zu hängen, trübten ihm die ersten herben Tränen den Glanz seines jungen Glücks. Herma, sein feinfühliges Weib, weinte sie – jäh und unbezwingbar. Er sah sie an wie vom Donner gerührt. Sie aber wischte sich die salzige Flut rasch von den Wangen, schob die Lade zu und ging von ihm weg – still, wortlos, ohne ihn anzusehen. Ging hinüber, den großen hohen Tannenbaum zu schmücken mit den neuen gleißenden Sachen, die er heimgebracht hatte. Still verrichtete sie diese Arbeit an seiner Seite, unfroh, mit unlustschweren Händen. Und wenn sich ihre Blicke begegneten, senkten sie sich rasch oder glitten aneinander vorbei wie an etwas Unliebem. Auch ihm ging nichts recht aus den Händen und in seine Seele kam eine seltsame Unruhe, ein beklemmendes Mahnen und beängstigendes Drängen – die Vorboten der Reue.

Ueber all dem verging viel Zeit. Und darum währte es heute so ungewöhnlich lange. Und mit den nun verpönten lieben alten Dingen beschäftigte sich unterdessen die heißerregte Phantasie der Kinder. Seit Jahren kehrten sie geheimnisvoll immer wieder, glänzten und strahlten, glitzerten und funkelten aus dem Tannengrün und verschwanden nach dem Heiligendreikönigtage ebenso geheimnisvoll wieder.

Wohin? Das Christkind habe sie wieder geholt, sagte die Mutter. Dem Christkind gehören sie ganz allein und dieses bringe sie immer in dasselbe Haus und verwechsle sie nie. Und je öfter es dieselben Sachen den gleichen Kindern bringe, desto lieber habe es diese.

Und desto lieber gewannen sie auch die Kleinen. Mit heiliger Scheu sahen sie jedesmal zu dem funkelnden Stern empor, der immer hoch oben am Gipfel des Baumes prangte und sich oft seltsam leise bewegte, als wehe überirdischer Hauch um ihn her oder aus ihm heraus. Und darunter das Christkindlein mit dem Goldscheine um das blondgelockte Haupt. Es lächelte und nickte grüßend herab; auf seinen lieblichen Wangen lag ein rosiger Schimmer, aus seinen großen Blauaugen kam ein Leuchten – unfaßbar geheimnisvoll. Diese zwei Heiligtümer hatten die Kinder nie in der Nähe geschaut, nie in den Händen gehabt. Und keines hätte es je gewagt, auch nur den Wunsch zu äußern, sie herunterzuholen. In ein viel vertraulicheres Verhältnis kamen sie allgemach zu den tiefer in den Zweigen hängenden Schaustücken. Sie betasteten sie mit scheuer Neugierde, streichelten sie, nahmen sie wohl öfter behutsam herab und hingen sie aus eigenem Antriebe, oder bedeutsam von der Mutter gemahnt, wieder an ihren Platz – dorthin, wo sie mit zarten Fingern das Christkindlein selbst gehangen hatte. Und jedes der Kinder nahm geistig Besitz von einem bestimmten Gegenstande, der ihm besonders lieb war. Des Sommers oft, wenn trübe Regentage sie in die Stube bannten, sprachen sie unvermutet von all den geheimnisvollen Sachen. Elli am liebsten von einer winzig kleinen Puppe, die, in einem zierlichen Körbchen weich gebettet liegend, sie alljährlich so vertraulich anlächelte, als freute sie sich des Wiedersehens so sehr wie Elli selbst.

Mit heißen Wangen und leuchtenden Augen phantasierte sie eben wieder von ihrem kleinen Liebling und behauptete plötzlich, das liebe Püppchen sei zweifellos ein Spielzeug, mit dem im Himmel droben Lilli, das verstorbene Schwesterlein spielen dürfe inmitten einer Schar fröhlicher Englein. Darum leuchte sie auch immer so himmlisch schön, die Puppe, meinte sie ernsthaft.


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