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Literatur


04.3


Adolf Schwayer

Weihnachtserzählungen




Weihnachtszauber 2

Eine Pause trat ein. Alle drei sahen schaurigstill vor sich hin, als sähen sie das von überirdischem Schimmer umflossene Schwesterlein vor sich sitzen und mit den Englein spielen. Plötzlich brach Otto das klingende singende Schweigen.

»Du Elli,« rief er lebhaft, »weißt du, was ich glaub, wo mein Paradiesvogel immer ist?«

»Dein Paradiesvogel? Den kleinen meinst, den am Baum?«

»Ja, den. Der dem Christkind gehört und so viele Farben hat, so schöne.«

»Nun, wo soll er denn sein? Doch auch im Himmel droben beim Christkind – nicht?«

»O nein! Ich glaub daß der immer ein wirklicher lebendiger Vogel ist, ein großer. Ja. Ich hab ihn einmal fliegen sehn.«

»Fliegen hast du ihn sehn?« rief Elli und der heilige Schauer des Wunderbaren durchbebte sie.

»Ja!« sagte Otto, von einem heißen Drange fortgerissen. »Hoch am Himmel droben ist er geflogen. Hoch über die Sterne hin! Und groß war er – groß! Und schön!«

Und das Traumbild einer weißen Glanznacht kühn mit Dichtung mengend, fuhr er lebhaft fort:

»Und weißt du, wo er war? Auf der Erde herunten war er und hat nachgeschaut, ob wir brav sind alle. Und wißt ihr, was er macht? Den Regenbogen macht er! Ja! Mit seinem langen schönen Schweif macht er ihn. Darum hat er so viele Farben – weißt du?«

Er hatte sich ganz heiß geredet und fühlte sich unsagbar beglückt, als er sah, wie Elli sprachlos dastand, des Erstaunens und Verwunderns übervoll.

»Ja, glaubst du's vielleicht gar nicht«, rief der kleine Dichter endlich gekränkt, als Elli gar nichts erwiderte und nur immer mit großen Augen wie traumhaft vor sich hinschaute.

»Aber freilich glaub' ich's!« sagte sie jetzt voll Eifer. »Ich seh's ja! Wirklich wahr – ich seh's!«

Und Norbert, der mit glänzenden Blicken nach Otto geschaut, rief jetzt, angeregt durch die kühne Phantasie Ottos, ganz erhitzt aus: »Ja, und wo ist denn dann mein schöner Bibihahn immer?«

»O, wer weiß, wie's dem ergangen ist,« sagte Otto großartig kühl. »Du hast ihm ja den Schnabel abgebrochen.«

»O nein!« verteidigte Elli den Jüngsten, dessen Gesicht sich weinerlich verzog. »Wie der schöne kleine Hahn zum zweitenmal gekommen ist, hat er den Schnabel schon gebrochen gehabt. Weißt du's denn nimmer?«

»Ja,« meinte nun Otto. »Wer weiß, wo der herumgerauft hat und mit wem?«

Und immer eifriger umspannen die drei erregten Kinder ihre Lieblinge mit dem goldigen Gewebe naiver Legende. Auf dem klugen weißen Elefanten ritten sie durch ferne Wunderländer, jagten auf der langbeinigen Giraffe durch die schaurige Oede der Wüste und durchschwammen mit dem schwarzen Walfisch, auf des Ungeheuers Rücken in einem zierlichen Häuschen geborgen, das unendliche Meer. Immer heißer wurden ihre Wangen, immer größer ihr Verlangen, wieder das zu sehen, was das Christkindlein nur für sie bestimmt hatte und immer wieder nur ihnen brachte. Und sie nahmen sich vor, mit den kleinen Dingelchen, die sie für verzauberte Lebewesen hielten, recht lieb umzugehn und fragten sich, wo wohl dies und das heuer hängen werde, erinnerten sich, wo es im vorigen Jahr hing und früher. Immer wieder kamen sie auf ihre Lieblingsstücklein zurück und erschraken bis in die Tiefe ihrer kleinen Seelen hinein, als sie nach einem Ausruf Ottos sich vorstellten, was sie wohl täten, wenn die kleine süße Puppe, wenn der prächtige Paradiesvogel oder der stolze kampfmutige Hahn plötzlich in ihren Händen lebendig würden?

Stockenden Atems sahen sie einander an. Da schnarrte plötzlich die elektrische Klingel, die über der Tür angebracht war und sie mit der Bonne, die sie neuestens hatten, zu den Mahlzeiten rief.

»Zum Essen ruft der Vater – und das Christkind?« Enttäuscht standen sie ratlos da, Tränen stiegen sachte in ihre Augen. Und nochmals schrillte die Glocke. Zugleich ging die Tür auf und Gisa, die Bonne rief herein:

»Ja, Kinder! Hört ihr denn nicht? Das Christkind läutet!«

Jetzt klang und sang und rief und jubelte aus dem großen schönen Zimmer auch wirklich das silberhelle Glöcklein. Die Mutter konnt es sich nicht versagen, es wenigstens in diesem Punkte zu guter Letzt zu halten wie immer bisher. Das stimmte die Kinder wieder warm und erwartungsvoll feierlich.

Sie stürmten in das Zimmer, traten ein – und standen mäuschenstill vor dem großen Baume, der schön und glänzend war wie keiner vorher. Aber von des Baumes Wipfel herab schimmerte ein anderer Stern, schöner zwar, als sie je einen sahen – aber nicht der gewohnte, der liebe und verheißungsvolle Stern. Und er hing steif und still und rührte sich nicht, wie sie auch hinaufschauten. Und ein anderes Christkindlein blickte nieder, lieblich wohl und überaus schön; aber es lächelte nicht so vertraut, wie das, das immer von da droben niedergrüßte. Und in dem Gezweige des Baumes fanden ihre scheu und ängstlich suchenden Blicke die vielen lieben Dingelchen nicht: Elli nicht ihre Himmelspuppe, Otto seinen vielfarbigen Vogel nicht und Norbert nicht seinen stolzen Hahn mit dem abgebrochenen Schnabel.

Staunend, mißmutig fast, sah der Vater den Kindern zu, die hilflos befangen vor der schönen Wirklichkeit da standen und sich ihrer nicht selbstvergessen freuen konnten, weil sie nicht umglänzt und umsponnen war von der Poesie, in der ihre Seelen unbewußt schwelgten. Mit einem scheuen Blick auf den Vater tat zwar Otto so, als ob's ihn über alle Maßen freute; es kam ihm aber nicht recht vom Herzen.

Norbert war der erste, der laut jubelte, als ihm der Vater, ärgerlich halb und halb verschämt, sagte, das große schöne Hutschpferd gehöre ihm. Elli aber stand schier erschrocken vor einer Puppe, die fast größer war als sie selbst und so hochmütig auf die Verschüchterte niederschaute wie eine große vornehme Dame. Auch sie freute sich ihrer übrigen prächtigen Geschenke wohl – aber es war nicht die jubelnde Freude wie sonst, es wollte nicht der beseligende Rausch der Selbstvergessenheit über sie und ihre mitenttäuschten Brüderchen kommen.

Endlich fragte sie, ruhelos bedrängt, die Mutter heimlich und leise, so daß es der Vater nicht hören sollte, aber doch wohl hörte: »Mutter, hat uns denn das Christkind nimmer lieb?«

Die Mutter verstand, schloß das aufgeregte Töchterlein warm an ihre Brust und flüsterte ihr zu, das Christkind wollte ganz gewiß nur sehen, ob es den Kindern auch wirklich leid tue, wenn sie nicht mehr fänden, was ihnen allein gehöre. Das sagte Elli schnell und insgeheim den Brüdern. Die brachen in lautes Freudengeschrei aus und Otto wurde zum Propheten: über eine Nacht, und das Christkind könne wiederbringen, was sie so liebten – heute noch vielleicht! Der Mutter Augen begannen zu leuchten und froh und hell wurde wieder ihre Stimme. Lächelnd rief sie den staunenden Gatten und die hoffnungsbelebten Kinder zum Abendmahle.

Als nachher die drei kleinen Ruhelosen wieder in das Zimmer traten, wo der Baum stand, brach ein Jubel los sondergleichen: droben am Baumgipfel glänzte der alte liebe Stern und wehte und bewegte sich seltsam geheimnisvoll wie immer. Und unter ihm grüßte das liebe altgewohnte Christkindlein nieder, fröhlich wie noch nie. Und Elli fand ihre Puppe, Otto seinen flugkühnen Sonnenvogel und Norbert den stolzen Hahn mit dem abgebrochenen Schnabel. Der Elefant war da, die langhalsige Giraffe, der dräuende Wal und alles andere auch, wie immer zuvor. Und nun sank echte tiefe heilige Weihnachtsstimmung in die Seelen der Kinder und der Eltern.

Frau Herma aber ging leisen Schrittes und befreiten Herzens auf Konrad, ihren Gatten zu, der, von den Rauchwolken seiner Zigarre schier traumhaft umhüllt, in einer halbdunklen Zimmerecke sinnend saß. Wie hatte er sich, gebefroh, auf diesen Weihnachtsabend gefreut – den ersten ohne Gegenwartssorgen und ohne Bangen für die Zukunft! Und jetzt? Jetzt war ein Mißklang in den Festjubel gekommen, hatte ein kühler Hauch den Glanz des Abends getrübt. Ein Mißklang? fragte er sich selbst und in seinem Herzen regte es sich warm und weich; abwehrend aber stellten sich trotzige Gedanken davor.

Da kam Frau Herma und lächelte ihn an. Wie leichtes Gewölk im Sonnenbrande verschwanden nun jene glückfeindlichen Gedanken und sein Herz tat sich auf – weit und froh und tief. Aber er verhielt sich still, sah nur das sonnige Lächeln, das er so sehr kannte. Hatte es ihm doch früher so oft die Kraft gegeben, alles von sich abzuschütteln und rüstig weiterzuschreiten – trotzmutig der ungewissen Zukunft entgegen.

Sie erfaßte seine Hand und drückte sie warm. Dabei flüsterte sie: »So soll es immer bleiben – nicht wahr?«

»Ja!« antwortete er schnell und setzte hastig hinzu: »Ich schäme mich. Früher war unser Empfinden bedroht von Sorg' und Kummer, die auf das Gemüt wirken wie Frost und Reif auf die Blumen und Saaten – und jetzt, jetzt hätt' ich bald den Mehltau des platten Philistertums darüber geschüttet. Verzeih mir! Es waren das die Bocksprünge des Glückberauschten, der Uebermut des Befreiten. Du und die Kinder – ihr habt mich wieder auf den rechten Weg gebracht. Im Weihnachtszauber hab ich mich wieder selbst gefunden.«

Frau Herma erwiderte nichts. Sie lehnte nur ihr Haupt an seine Brust und drückte wieder seine Hand. Ihr Auge war feucht geworden und ihr Herz erglühte in dem frohen Bewußtsein, ihr ungetrübtes Glück in ihrer und ihres Mannes Brust vertrauensstark gefestigt zu wissen gegen alle Stürme des Lebens.

Dieses großen stolzen Gefühles voll, gingen sie schweigend zu den Kindern. Die saßen unter dem Baume und sprachen eifrig und selbstvergessen von dem Märchenleben ihrer Lieblinge, die nun alle Jahre getreulich wiederkamen. Und als die Kinder, herangewachsen, endlich wußten, wer sie eigentlich immer wieder brachte und geheimnisvoll verbarg, da hatten sie sie lieber als je zuvor.


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