Weihnachtszauber 2
Eine
Pause trat ein. Alle drei sahen schaurigstill vor sich hin, als sähen
sie das von überirdischem Schimmer umflossene Schwesterlein vor sich
sitzen und
mit den Englein spielen. Plötzlich brach Otto das klingende singende
Schweigen.
»Du
Elli,« rief er lebhaft, »weißt du, was ich glaub, wo mein Paradiesvogel
immer ist?«
»Dein
Paradiesvogel? Den kleinen meinst, den am Baum?«
»Ja,
den. Der dem Christkind gehört und so viele Farben hat, so schöne.«
»Nun,
wo soll er denn sein? Doch auch im Himmel droben beim Christkind –
nicht?«
»O
nein! Ich glaub daß der immer ein wirklicher lebendiger Vogel ist, ein
großer. Ja. Ich hab ihn einmal fliegen sehn.«
»Fliegen
hast du ihn sehn?« rief Elli und der heilige Schauer des
Wunderbaren durchbebte sie.
»Ja!«
sagte Otto, von einem heißen Drange fortgerissen. »Hoch am Himmel
droben ist er geflogen. Hoch über die Sterne hin! Und groß war er –
groß! Und
schön!«
Und
das Traumbild einer weißen Glanznacht kühn mit Dichtung mengend, fuhr
er
lebhaft fort:
»Und
weißt du, wo er war? Auf der Erde herunten war er und hat nachgeschaut,
ob wir brav sind alle. Und wißt ihr, was er macht? Den Regenbogen macht
er! Ja!
Mit seinem langen schönen Schweif macht er ihn. Darum hat er so viele
Farben –
weißt du?«
Er
hatte sich ganz heiß geredet und fühlte sich unsagbar beglückt, als er
sah, wie Elli sprachlos dastand, des Erstaunens und Verwunderns
übervoll.
»Ja,
glaubst du's vielleicht gar nicht«, rief der kleine Dichter endlich
gekränkt, als Elli gar nichts erwiderte und nur immer mit großen Augen
wie
traumhaft vor sich hinschaute.
»Aber
freilich glaub' ich's!« sagte sie jetzt voll Eifer. »Ich seh's ja!
Wirklich wahr – ich seh's!«
Und
Norbert, der mit glänzenden Blicken nach Otto geschaut, rief jetzt,
angeregt durch die kühne Phantasie Ottos, ganz erhitzt aus: »Ja, und wo
ist
denn dann mein schöner Bibihahn immer?«
»O,
wer weiß, wie's dem ergangen ist,« sagte Otto großartig kühl. »Du hast
ihm ja den Schnabel abgebrochen.«
»O
nein!« verteidigte Elli den Jüngsten, dessen Gesicht sich weinerlich
verzog. »Wie der schöne kleine Hahn zum zweitenmal gekommen ist, hat er
den
Schnabel schon gebrochen gehabt. Weißt du's denn nimmer?«
»Ja,«
meinte nun Otto. »Wer weiß, wo der herumgerauft hat und mit wem?«
Und
immer eifriger umspannen die drei erregten Kinder ihre Lieblinge mit
dem
goldigen Gewebe naiver Legende. Auf dem klugen weißen Elefanten ritten
sie
durch ferne Wunderländer, jagten auf der langbeinigen Giraffe durch die
schaurige Oede der Wüste und durchschwammen mit dem schwarzen Walfisch,
auf des
Ungeheuers Rücken in einem zierlichen Häuschen geborgen, das unendliche
Meer.
Immer heißer wurden ihre Wangen, immer größer ihr Verlangen, wieder das
zu
sehen, was das Christkindlein nur für sie bestimmt hatte und immer
wieder nur
ihnen brachte. Und sie nahmen sich vor, mit den kleinen Dingelchen, die
sie für
verzauberte Lebewesen hielten, recht lieb umzugehn und fragten sich, wo
wohl
dies und das heuer hängen werde, erinnerten sich, wo es im vorigen Jahr
hing
und früher. Immer wieder kamen sie auf ihre Lieblingsstücklein zurück
und
erschraken bis in die Tiefe ihrer kleinen Seelen hinein, als sie nach
einem
Ausruf Ottos sich vorstellten, was sie wohl täten, wenn die kleine süße
Puppe,
wenn der prächtige Paradiesvogel oder der stolze kampfmutige Hahn
plötzlich in
ihren Händen lebendig würden?
Stockenden
Atems sahen sie einander an. Da schnarrte plötzlich die
elektrische Klingel, die über der Tür angebracht war und sie mit der
Bonne, die
sie neuestens hatten, zu den Mahlzeiten rief.
»Zum
Essen ruft der Vater – und das Christkind?« Enttäuscht standen sie
ratlos da, Tränen stiegen sachte in ihre Augen. Und nochmals schrillte
die
Glocke. Zugleich ging die Tür auf und Gisa, die Bonne rief herein:
»Ja,
Kinder! Hört ihr denn nicht? Das Christkind läutet!«
Jetzt
klang und sang und rief und jubelte aus dem großen schönen Zimmer auch
wirklich das silberhelle Glöcklein. Die Mutter konnt es sich nicht
versagen, es
wenigstens in diesem Punkte zu guter Letzt zu halten wie immer bisher.
Das
stimmte die Kinder wieder warm und erwartungsvoll feierlich.
Sie
stürmten in das Zimmer, traten ein – und standen mäuschenstill vor dem
großen Baume, der schön und glänzend war wie keiner vorher. Aber von
des Baumes
Wipfel herab schimmerte ein anderer Stern, schöner zwar, als sie je
einen sahen
– aber nicht der gewohnte, der liebe und verheißungsvolle Stern. Und er
hing
steif und still und rührte sich nicht, wie sie auch hinaufschauten. Und
ein
anderes Christkindlein blickte nieder, lieblich wohl und überaus schön;
aber es
lächelte nicht so vertraut, wie das, das immer von da droben
niedergrüßte. Und
in dem Gezweige des Baumes fanden ihre scheu und ängstlich suchenden
Blicke die
vielen lieben Dingelchen nicht: Elli nicht ihre Himmelspuppe, Otto
seinen vielfarbigen
Vogel nicht und Norbert nicht seinen stolzen Hahn mit dem abgebrochenen
Schnabel.
Staunend,
mißmutig fast, sah der Vater den Kindern zu, die hilflos befangen
vor der schönen Wirklichkeit da standen und sich ihrer nicht
selbstvergessen freuen konnten, weil sie nicht umglänzt und umsponnen
war von
der Poesie, in der ihre Seelen unbewußt schwelgten. Mit einem scheuen
Blick auf
den Vater tat zwar Otto so, als ob's ihn über alle Maßen freute; es kam
ihm
aber nicht recht vom Herzen.
Norbert
war der erste, der laut jubelte, als ihm der Vater, ärgerlich halb
und halb verschämt, sagte, das große schöne Hutschpferd gehöre ihm.
Elli aber
stand schier erschrocken vor einer Puppe, die fast größer war als sie
selbst
und so hochmütig auf die Verschüchterte niederschaute wie eine große
vornehme
Dame. Auch sie freute sich ihrer übrigen prächtigen Geschenke wohl –
aber es
war nicht die jubelnde Freude wie sonst, es wollte nicht der
beseligende Rausch
der Selbstvergessenheit über sie und ihre mitenttäuschten Brüderchen
kommen.
Endlich
fragte sie, ruhelos bedrängt, die Mutter heimlich und leise, so daß
es der Vater nicht hören sollte, aber doch wohl hörte: »Mutter, hat uns
denn
das Christkind nimmer lieb?«
Die
Mutter verstand, schloß das aufgeregte Töchterlein warm an ihre Brust
und flüsterte ihr zu, das Christkind wollte ganz gewiß nur sehen, ob es
den
Kindern auch wirklich leid tue, wenn sie nicht mehr fänden, was ihnen
allein
gehöre. Das sagte Elli schnell und insgeheim den Brüdern. Die brachen
in lautes
Freudengeschrei aus und Otto wurde zum Propheten: über eine Nacht, und
das
Christkind könne wiederbringen, was sie so liebten – heute noch
vielleicht! Der
Mutter Augen begannen zu leuchten und froh und hell wurde wieder ihre
Stimme.
Lächelnd rief sie den staunenden Gatten und die hoffnungsbelebten
Kinder zum
Abendmahle.
Als
nachher die drei kleinen Ruhelosen wieder in das Zimmer traten, wo der
Baum stand, brach ein Jubel los sondergleichen: droben am Baumgipfel
glänzte der alte liebe Stern und wehte und bewegte sich seltsam
geheimnisvoll
wie immer. Und unter ihm grüßte das liebe altgewohnte Christkindlein
nieder,
fröhlich wie noch nie. Und Elli fand ihre Puppe, Otto seinen flugkühnen
Sonnenvogel und Norbert den stolzen Hahn mit dem abgebrochenen
Schnabel. Der Elefant
war da, die langhalsige Giraffe, der dräuende Wal und alles andere
auch, wie
immer zuvor. Und nun sank echte tiefe heilige Weihnachtsstimmung in die
Seelen
der Kinder und der Eltern.
Frau
Herma aber ging leisen Schrittes und befreiten Herzens auf Konrad,
ihren Gatten zu, der, von den Rauchwolken seiner Zigarre schier
traumhaft
umhüllt, in einer halbdunklen Zimmerecke sinnend saß. Wie hatte er
sich,
gebefroh, auf diesen Weihnachtsabend gefreut – den ersten ohne
Gegenwartssorgen
und ohne Bangen für die Zukunft! Und jetzt? Jetzt war ein Mißklang in
den
Festjubel gekommen, hatte ein kühler Hauch den Glanz des Abends
getrübt. Ein
Mißklang? fragte er sich selbst und in seinem Herzen regte es sich warm
und
weich; abwehrend aber stellten sich trotzige Gedanken davor.
Da
kam Frau Herma und lächelte ihn an. Wie leichtes Gewölk im Sonnenbrande
verschwanden nun jene glückfeindlichen Gedanken und sein Herz tat sich
auf –
weit und froh und tief. Aber er verhielt sich still, sah nur das
sonnige
Lächeln, das er so sehr kannte. Hatte es ihm doch früher so oft die
Kraft
gegeben, alles von sich abzuschütteln und rüstig weiterzuschreiten –
trotzmutig
der ungewissen Zukunft entgegen.
Sie
erfaßte seine Hand und drückte sie warm. Dabei flüsterte sie: »So soll
es immer bleiben – nicht wahr?«
»Ja!«
antwortete er schnell und setzte hastig hinzu: »Ich schäme mich.
Früher war unser Empfinden bedroht von Sorg' und Kummer, die auf das
Gemüt
wirken wie Frost und Reif auf die Blumen und Saaten – und jetzt, jetzt
hätt'
ich bald den Mehltau des platten Philistertums darüber geschüttet.
Verzeih mir!
Es waren das die Bocksprünge des Glückberauschten, der Uebermut des
Befreiten.
Du und die Kinder – ihr habt mich wieder auf den rechten Weg gebracht.
Im
Weihnachtszauber hab ich mich wieder selbst gefunden.«
Frau
Herma erwiderte nichts. Sie lehnte nur ihr Haupt an seine Brust und
drückte wieder seine Hand. Ihr Auge war feucht geworden und ihr Herz
erglühte
in dem frohen Bewußtsein, ihr ungetrübtes Glück in ihrer und ihres
Mannes Brust
vertrauensstark gefestigt zu wissen gegen alle Stürme des Lebens.
Dieses
großen stolzen Gefühles voll, gingen sie schweigend zu den Kindern.
Die saßen unter dem Baume und sprachen eifrig und selbstvergessen von
dem
Märchenleben ihrer Lieblinge, die nun alle Jahre getreulich
wiederkamen. Und
als die Kinder, herangewachsen, endlich wußten, wer sie eigentlich
immer wieder
brachte und geheimnisvoll verbarg, da hatten sie sie lieber als je
zuvor.