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Literatur


04.2


Walter Serner

Zum blauen Affen
dreiunddreißig hahnebüchene Geschichen

Quellenangabe

VERBORGENE BEGABUNG

  

Während der Hotelportier, mit dem Rücken gegen ihn gewandt, in den Apparat bellte, beglotze Rican mit unbestimmter Neugierde den gewaltigen Haufen von Briefen, der soeben hingeschubst worden war. Einer, der in einem umgefallenen Pack nur halb verdeckt stak, wies dasselbe Kuvert auf wie die Briefe Jean Forrains, den Stempel Paris und eine maschingeschriebene Adresse, von der jedoch nur das Wort Pyrmont lesbar vorstach.

Ohne sich zu besinnen, ja ohne alle Vorsicht schnippte Rican den Brief heraus, stopfte ihn in die Hosentasche und schlenderte krampfhaft aus dem Vestibül.

Draussen las er:


Madame Madame Irene de Groit.

Meine Liebe, vergiss nicht, dass Du nicht länger als zwei Tage auf Dich warten lassen darfst. Hier geht alles gut. M. hockt auf dem Sofa und harrt. Sobald Du hier bist und kittest, hole ich den Kleinen. Bs. Expedition, die ich, fast wie Du sie veröltest, abblies, macht hoffentlich die Sache glatter. B. ist wirklich gänzlich unbenützbar. Sie hat, man denke, Ausbrüche! Schade um die Zeit, die ich damit verputzte, ihr Haltung beizubringen. Den Kleinen sondiere bitte sofort nach meinem Rezept. Tue etwas gebildet, leise kompliziert: der Junge fliegt darauf. Anbei den Durchschlag des Briefes an B., damit Du im Ölbilde bist. Gute Trinkgelder geben! Dem Kleinen aber nicht Centimes Anblick mehr! Vielleicht, wenn es sich vertikal tun lässt, kitzle ihn, sich bei B. zu blamieren. Adresse unverändert.

Maurice

Der Brief an B. lautete:

Meine vielgeliebte Bianca,

plötzlich gezwungen, abzureisen. Es war nicht anders möglich. Du nimmst morgen den Frühzug um 7 Uhr 30 nach Genf, wo ich Dich nachmittags 6 Uhr im Café de la Couronne erwarte. Deine Anwesenheit allerwichtigst! Alles Weitere mündlich. Beweise mir jetzt endlich einmal, dass ich mich auf Dich verlassen kann. Auf Wiedersehen.
Dein Etienne.

p.s. Was Rican betrifft: dummer Junge! Aber doch Vorsicht!

Eine Viertelstunde später stemmte Bianca Rican das Original dazu schweigend entgegen, liess sich auf die Chaiselongue plumpsen und heulte.

Rican schob ihr den Brief nach der zum Lesen erforderlichen Zeit auf die Knie.
Sie bemerkte es nicht sofort. Dann aber zerriss sie ihn aufschreiend und stampfte mit den Füssen auf die Fetzen.

Rican streichelte ihr gleichgültig, nur um etwas zu tun, die zuckende nackte Schulter.

„Ah, er ist mit Irene abgereist! Je l’emmerde!“ Bicance, deren Aufregung sich stets französisch äusserte, schnellte auf und rannte, die Fäuste unterm Kinn schüttelnd, auf und ab. „Ah, je vais me venger. Das wird er bereuen!“

Rican wandte sich ab: so sehr hatte die tränenverschmierte Schminke ihr Gesicht entstellt, das er lächeln musste.
Plötzlich aber zerrte sie ihn neben sich auf die Chaiselongue: „Wissen Sie vielleicht etwas?“
Ricans Hand zuckte schon nach der Tasche. In diesem Moment aber gefiel ihm Bianca mit einem Mal. Er log blindlings: „Ja. Irene ist nicht in Paris, sondern in Lyon!“
„Glaub ich nicht“:
„Ich bin überzeugt davon.“ Und er begründete es sehr plausibel.

Bianca schluckte ein paar Mal: „Non, non,“ und ordnete ihr wirres Haar so flüchtig, dass sie es noch mehr dérangierte.

Rican schlug ihr in vagem Hoffen vor, an Irene zu depeschieren: sie könnte in drei Stunden Antwort haben, da die Vorstellung der Lyoner Alhambra erst nach 11 Uhr zu Ende sei.

Bianca fuhr jäh empor, starrte Rican sekundenlang voll wilden Jubels an, schrie: „Ah. c’est grandiose!“ und stürzte ihm um den Hals.

Rican wucherte diese Unbesonnenheit eine halbe Stunde lang aus, während welcher Bianca sehr unhöfliche Rufe versendete wie: „Ah, c’est chouette . . . cette grue!“ „Que je suis heureuse . . . cette brute!“ „Va done télégraphier . . . je vais me venger quand-même . . . „ etc.

Da klopfte es.

Rican freute sich so, dass er erzitterte: er hatte die Tür nicht abgesperrt.
Gleichzeitig erblondete in der Türspalte das Köpfchen Irenes. Sie hatte kaum die Situation überblickt, als sie auch schon mitten ins Zimmer wippte und, die Hände in den Hüften aufgestellt, bald Rican, bald Bianca höhnisch musterte.

Bicanca setzte sich im Nu auf und rief freudeblassen Gesichts: „Rican, schmeiss sie hinaus!“
Rican lächelte überirdisch.
Irene lächelte noch frecher, schwenkte sich an ihn heran und stiess ihn sachte mit dem Fuss.
Rican wurde steif vor Erstaunen.
In dem schmalen schönen Gesicht Irenes spitzte sich ein Wunsch, während sie Rican zuraunte: „Ich erwarte Sie sofort bei mir.“
„Hinaus!“ zeterte Bianca.
Rican nickte unmerklich., Dann warf er den Kopf verächtlich nach hinten.
Irene lachte gutes Theater, liess, von sich selber entzückt, einen schrillen Ton einströmen, so dass es beinahe wie Geschrei klang, verstummte wirkungsvoll und murmelte: „Tant mieux.“ Hierauf wippte sie hinaus.

„Ah, c’est grandiose!“ Und sogleich hüpfte sich Bianca in fieberhafte Tätigkeit.
„Wann willst du abreisen?“ Rican arrangierte seine Toilette.
„Schon heute abend natürlich . . . Er hat mit ihr gebrochen, Rican . . . Ah, c’est grandiose!“
„Ich komme in zwei Stunden wieder.“
„Gut . . . Sie kam nur, um mich auszuhorchen . . . cette grue!“
„Selbstverständlich.“
Sie küsste ihn fest und stiess ihn gegen die Tür: „Bitte, Rican, klingle doch Annette! . . .  Und: du leugnest alles.“
„Das ist doch klar . . .“ -

. . . „Ich bin aufs äusserste überrascht.“ Irene knipste das Zimmer dunkler, während sie Ricans Unterarm mit Daumen und spitzgestelltem Zeigefinger begrüsste.
„Lyrik.“ Rican liebkoste seinen stattlichen Adamsapfel.
„Ach was“ Sie machen Dummheiten!“ Irenes Stirnlocke flatterte verheissungsvoll.
„Die eigenen sind immerhin interessanter als die fremden.“
Irene machte sich bereits feuchte Lippen. „Und Jean? Er hat es Ihnen doch verboten!“
„Ich habe keinen Centime mehr.“
„Und Bianca?“
„Seit Wochen mein Portemonnaie, gewiss. Aber . . . „ log er prächtig.
„W-a-a-s?“
„ . . . aber gegenwärtig hat sie nicht einmal das Geld zur Reise.“ Rican schnüffelte zart im Zimmer umher und rieb sich gleichzeitig die Hemigloben am Kamin.

Irene schlängelte sich besorgt aufs Bett und begann intensiv ihre Fingernägel zu säubern.
Rican rieb sich siegesgewiss weiter.
„Sie kapieren mehr, als ich dachte. Hören Sie!“ Und schon spielte sie mit seinem Handballen, den sie kratzte und kniff. „Ich gebe ihnen vierhundert Francs. Zweihundertfünfzig für Sie, wenn Sie mit dem Rest Bianca expedieren.“
„Dreihundertfünfzig für mich und Bianca expresst heute noch.“
„Hat Zeit bis morgen . . . Zweihundertfünfzig und – mich.“
„Dreihundertfünfzig! S i e  sind doch selbstverständlich!“ Ricans Augen verwilderten sich kurz, dieweil Irene höchste Verblüffung trieb.
Schnell umkrallte er ihre Schenkel, schulterte die gedämpfte Kreischende und warf sie nach strammen Marsch ins Bett. . .
Nachher heuchelte sie innig: „Aber du schwimmst doch jetzt mit mir!“
Rican vernahm dieses ‚Aber‘ vergnügten Knurrens und biss ihr zustimmend in die Achsel . . .

Biancas Fusspitzen klopften sehr beglückt den Teppich, als Rican hereinstürmte. Vor seinen erregten Zügen aber rutsche sie fast vom Koffer.
„Voilà!“ Rican presste ihr den Brief Forrains (Maurice) an Irene in die Hand und postierte sich düster in eine Ecke.

Als Bianca, die Lider tränenbesetzt, endlich aufblickte, sagte er sachlich: „Gib mir zweihundert Franc und ich expediere Irene.“
„Zwei . . .?“
„Sofort. Und Forrain kommt reuig zurück!“
Selbstverständlich bekam er das Geld . . .
Drei Stunden später bestieg er den Schnellzug nach London.

Am nächsten Morgen aber erhielt Irene folgendes Briefchen:

„Madame, ich wusste stets alles. Paris hat ausgeblasen. M. hockt nicht mehr auf dem Sofa. Für Sie gibt’s da nichts mehr zu kitten. Bianca aber ist benützbarer, als Sie auch nur ahnen. Auf Ihre Rezepte falle ich nicht hinein. I c h bin immer im Ölbilde. Sobald es sich vertikal tun lässt, kitzle ich . . . Alles Horizontale.
Ihr Rican.
 

p.s. Soeben Depesche: Forrain in Paris verhaftet. Sie sehen: ich bin Kavalier.“

Psychotisch geworden, fuhr Irene straks nach Verona, allwo sie einen Pietro besass.
   
Nach drei Tagen erschien Forrain verstört in Pyrmont und wunderte sich so, dass er, verborgene Begabung vermutend, bei Bianca schlief.


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