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04.3
Geschichten
Emil Verhaeren
Fünf Erzählungen
Die
drei Freundinnen
Der
Schullehrer nannte sie die drei Parzen.
Jeden
Donnerstag gegen vier Uhr trafen sie
sich bei drei Tassen Kaffee. Wenn die Zusammenkunft bei Dietje
Knickelbel
stattfand, klapperte die magere Trien Pyck mit ihrem Krückstock durch
die
Klosterstraße, während Wanne Biebuick, die beweglicher, aber dafür
ihrer
Kurzsichtigkeit wegen unsicherer war, über die Flohecke daherkam. Von
da an
setzten sie den Weg zu zweien fort und beklagten sich gemeinsam
über ihre Übel. Die eine sagte:
„Meine
armen Augen", die andere: „Mein armes Bein". Sie einigten sich aber
schließlich zu einem „Gehen wir halt weiter", indem sie solchermaßen,
ohne
es zu wissen, das ganze Ab und Auf der menschlichen Leiden
zusammenfaßten.
Dietje
wohnte in der Nähe eines Kalvarienberges. Die beiden Alten verharrten
einen Augenblick
im Gebete. Ein großer Christus wand sich hier am Kreuz. Eine riesige
Dornenkrone war ihm von der Stirne auf die Augen herabgesunken, eine
Lanzenspitze zwischen den Rippen stecken geblieben, und der
schmerzverzerrte Ausdruck
war so schrecklich wiedergegeben, daß man im Herbst, während der
größten
Stürme, sagte: „Horch, Gott selbst rüttelt an seinem Kreuz."
Von
ihrem Fenster aus spähte Dietje nach ihren zwei Freundinnen. Sobald
diese ihr
Gebet beendet hatten, öffnete sie die Türe und nahm ihnen die Mäntel
ab. Der
Kaffee rauchte auf dem Tische.
Wanne
und Trien brauchten eine gute Weile, um
sich niederzusetzen.
Sie sandten prüfende Blicke im Zimmer umher, betrachteten die Windungen
des
feinen Sandes um die Möbel herum und die Hortensien, die in Büschen die
Vielfalt ihrer rosigen Augen öffneten. Dann ließen sie sich beide auf
ihre gewohnten
Sessel nieder; zwei Katzen sprangen in der Hoffnung auf Leckerbissen
auf ihre
Knie.
Und
Trien Pyck streichelte ihnen den Kopf und erzählte (es war das
hundertste Mal)
die Geschichte ihrer Mutter, die, um sie dort drüben aus der Scheune
des
Fährmanns herüberzuholen, den Fluß inmitten der Strömung des Nachts
durchquerte
und abermals durchschwamm. Sie gab sich den Anschein, es selbst nicht
zu
glauben. Sie belebte ihre Erzählung mit dem Ausruf: „Ist es möglich,
viermal
schwimmend diesen Weg,
zweimal hin, zweimal her!" Und als sie den Bericht beendete, fügte sie
hinzu: „Der Pfarrer selbst hat es mir gesagt."
Wanne
zog daraus den Schluß: „Ein Kater hätte das niemals getan." Und am
Grunde
ihrer Gedanken konnte man lesen: „Das ist einmal ausgemacht, die Männer
sind lange
nicht so viel wert wie die Frauen." „Das ist wirklich wahr", antwortete
die alte Pyck mit den Augen.
Sie
verstummten einen Augenblick. Aber Wanne Biebuick wußte eine noch viel
sonderlichere Sache zu berichten. Vorigen Sommer, eines Sonntags,
banden die
aus Baesrode eine Menge weißer Fäden an die Füße von einigen hundert
Fliegen.
Man jagte diese mit Tüchern davon. Die Tiere entflogen: auf der andern
Seite
der Scheide fing man sie beinahe alle ein. Trien Pyck stellte sich
ungläubig,
nur um ihrer Freundin zu ermöglichen, sogleich hinzuzufügen: „Die
Schwestern
vom Kloster des heiligen Vinzenz bestätigen dieses Wunder."
Es
läutete zum Englischen Gruß. Alle drei erhoben sich und machten das
Zeichen des Kreuzes.
Als sie sich wieder gesetzt hatten, wurde eine neue Tasse
herumgereicht, und Trien
strich Sirup auf ihr Brötchen. Der Tag war verblaßt, die Magd ging
hinaus, die
Läden des Zimmers zu schließen, und die drei Freundinnen begannen auf
die
draußen Vorübergehenden zu horchen. Man hörte die Schritte vom Ende des
Dorfes
her sich nähern, gegenüber auf dem Bürgersteig vorbeiklappern, mählich
verklingen, dann
herrschte wieder Stille.
„Das
ist der Uhrmacher Glaes, der seine Uhr dem Schöffen zurückbringt. Und
dies ist Jan
Maes, der Kohlenmann, ich höre die Nägel seiner Schuhe auf dem Pflaster
klirren."
„Schweigt
still, es ist der Vikar, der zu den Goddschaps geht: ihr Sohn wird die
Nacht nicht
überleben."
„Ganz
und gar nicht: es ist der Pfarrer. Er allein tritt so fest auf. Es
kommt mir
vor, als höre ich das Versehglöckchen . . ."
„Es
ist die Glocke des Petroleumhändlers. Er rüttelt das Faß auf seinem
Karren."
Sie
schwiegen. Ein großes unregelmäßiges Geräusch, eine Art Gestolper
näherte sich
ihnen vom Lande her. Trien, obwohl sie ahnte, daß nur ein Lastwagen all
diesen
Lärm verursachte, tat, als ob sie an eine Katastrophe glaube.
„Meint
man nicht, die Welt geht unter?"
Die
erschrockene Wanne antwortete nicht. Aber schon hörte man die Schritte
der
Pferde, den Klang von Ketten im Rhythmus des Trabs; es war der
Bierwagen des
Verschleißers Blaes, der diesen vermutlichen Weltuntergang verursachte.
Der
Laternenanzünder ging heim und streifte dabei mit seiner Leiter die
Mauern
entlang. Er hinkte und sang:
„Die
Mondfrau Anne
In
ihrer Pfanne
Hat
'nen Dukaten aus Flandern;
Wie
weit er möcht wandern,
Ob's
ein Narr war, ein Jud
Fing
ihn wohl ein, in seinem Hut."
„Nun,
ich weiß einen, der ihn stahl. Er fischte ihn am Grunde eines Brunnens,
verkaufte ihn und wurde daran reich. Er nennt sich Klaes und ist mein
Bruder."
Wanne
sprach plötzlich rasch. Sie war die Erbin des Klaes. Eines Tages würde
sie sicherlich reich sein. In Gedanken berechnete sie Tod und
Erbschaft, und ohne
besonderen Übergang sprach sie weiter:
„.
. . Dann werde ich gute Werke tun. Ich werde der Kongregation eine
herrliche
Monstranz schenken, in der Kirche wird für mich ein Stuhl aus Mahagoni
stehen
und ein großer Teppich für meine armen Füße. Im Keller werde ich Wein
haben, um
ihn dem Vikar anzubieten. Ich werde euch, dir, Trien, und dir, Dietje,
einen
Rosenkranz aus Silber und Perlmutter schenken, der in Rom geweiht ist,
und ich
werde wirklich den Preis bezahlen, daß er die heilige Reise macht. Ich
werde
Präfektin des heiligen Rosenkranzordens sein und, wenn ich sterbe, der
Kirche
ein so bedeutendes Legat hinterlassen,
daß man tausend Messen für meine Seele lesen wird."
Während
sie dies sagte, machte Wanne Biebuick eine Gebärde, die sie vollständig
aus
ihrem Sessel in die Höhe schnellte. Die Katze sprang, als wäre sie
erschrocken,
von ihren Knien. Eine Stille trat ein. Bisher hatte Dietje nicht mehr
gesagt
als ja und nein, einzig um ab und zu einen kleinen flüchtigen Ring an
die Kette
der wiedererweckten Erinnerungen zu reihen. Nun sprach auch sie. Und
zwar vom
alten Pier Thys, der vergangenen Sonntag allein während der Messe
hinter seinem
Fenster gestorben war. Das ganze Dorf konnte ihn, als es aus der Kirche
kam,
hinter seinen Scheiben sehen, blaß und steif wie ein Heiliger in einem
Glaskasten. Man hatte ihm ein würdiges Begräbnis bereitet. Reichlich
waren die
Blumenspenden gewesen. Der Strauß, der sich in diesem Augenblick auf
dem Tische
befand, hatte sogar seinen Sarg berührt.
Dietje,
die die Neugierde ihrer Freundinnen voraussah, gestand, daß ihn ihr der
Totengräber nach dem Begräbnis gegeben hatte.
Man
sprach noch über den Schullehrer, über den Kapuziner, der
Weltabgeschiedenheit
gepredigt hatte, über den Bettler mit dem Mausgesicht, der
jede Woche an die Türen pochte. Aber bei all dem fehlte der Schwung.
Eine heimliche,
aber tiefe Bewegung beunruhigte die drei Freundinnen.
Da
machte Dietje, die nicht vergessen hatte, daß sie einst alle drei bis
zur
Tollheit den hübschen Kerl, der Pier Thys gewesen war, geliebt hatten,
ja daß
sie, von heftiger Eifersucht
gegeneinander erfüllt, sich zu allen
Teufeln gewünscht
hatten, jedoch verschweigend,
daß sie die Bevorzugte gewesen war, machte nun drei Teile aus dem
blassen
Veilchenstrauß, behielt den kleinsten für sich und legte die zwei
anderen in
die armen alten Hände ihrer Gefährtinnen.
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