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04.3
Geschichten
Emil Verhaeren
Fünf Erzählungen
Ein
Abend
Ich
verlasse dich und komme wieder", rief mir, als er sich entfernte, mein
sehr eifriger Freund zu, mit dem ich eben in der riesigen
Fremdenherberge am
Ende einer der abgestorbenen Städte des alten Spaniens gelandet war.
Ich
sah ihn rasch die Stiege herabsteigen, und sein letztes „Ich komme
bald"
vernahm ich
nur noch zugleich mit dem Geräusch seiner die Stufen und Treppenabsätze
hinabeilenden Schritte. Allein zurückgeblieben, lehnte ich mich über
den
Balkon. Leute, hochmütig in ihrer Schmierigkeit, stolzierten unter den
Arkaden,
unheimliche Bettler sperrten die Schwellen der Türen, Hunde heulten vor
den
Gittern der Klöster oder vor alten Kreuzen, die da und dort noch
aufgepflanzt
waren als Überreste einer Friedhofsruine.
Die Dämmerstunde steigerte das Geheimnisvolle der Straßen, deren
Häuser, im Blut
der Abendsonne, von dunklen Menschen bewohnt zu sein schienen. Meine
Blicke
tauchten durch ein Fenster. Ich ward Zeuge großer heftiger Gebärden,
einer
Bewegung, die von Saal zu Saal lief, einer plötzlichen Vereinigung vor
einem
Bilde, das an einer Wand hing, sah den Kniefall vor zwei großen Füßen
des Christus,
der zwischen Kerzen und flackernden Votivbildern lebendiges Blut zu
vergießen schien.
Plötzlich
leuchtete dort am Ende einer Allee eine erste Laterne wie ein grüner
Stein.
Ich
sah auf meine Uhr. Eine Stunde war verronnen, seitdem mein Freund
weggegangen war.
Ein tiefes Angstgefühl regte sich in mir. Von dem Augenblick an, wo ich
begonnen hatte hinauszusehen, den Körper gleichsam über diese ganze
Stadt
gebeugt, hatte eine langsame, aber sichere Furcht meine Gedanken
erhitzt. Ich
bildete mir ein, mein Freund wäre ins Verderben geraten, angefallen,
bestohlen worden.
Ich kannte nicht die Richtung, die er eingeschlagen, wußte nicht, wohin
er sich
begeben hatte, warum er ausgegangen war. Sein Weggehen schien mir
unerklärlich,
irgendwie zwingend befohlen und gewollt durch eine fremde und
feindliche Kraft.
Ich
durchforschte die Vorübergehenden, einzig um sie verdächtig zu finden.
Es waren
alte Frauen, die durch Verbrauchtheit und Krankheit ganz besonders
ausgehöhlt
waren, fast nackte Kinder, deren Schreien und Winseln die Mutter an
ihrer Brust
erstickte. Dann kamen Männer—und recht rohe—mit langen Stöcken, an
deren Ende
etwas leuchtete. Ein Gespann kam vorbei mit aufgeregten Pferden und
wildem, eisenklapperndem
Geräusch.
Die
Nacht war nach und nach dichter geworden. Eine ganze Reihe von Lichtern
leuchtete längs der Gehwege. Ein Glockenturm nach dem andern erwachte,
die
großen Glocken begannen zu läuten.
Nicht
weit von mir verschluckte eine Kirche mit geöffneten Toren eine
Menschenmenge. Ich
sah sie ameisengleich in diesem riesigen Mund verschwinden, und dieses
langsame
und andauernde Aufsaugen bekam in meinen Augen eine beunruhigende
Bedeutung.
War mein armer Kamerad nicht dort zwischen der Menge zerrieben
und, ohne daß er es wollte, gegen dies Unbekannte gedrängt, gegen die
Tiefe
jener Dunkelheit, aus der die Glocke mit hartnäckigem und
leidenschaftlichem
Knirschen und Aufschlagen zu kommen schien?
Ich
mußte einen Schrei ausgestoßen haben, denn ein alter Mann, der seit
einiger
Zeit mir gegenüber auf der andern Seite der Straße stehen geblieben
war, warf
mir, als erwarte er nur einen Vorwand, mir zu antworten,
unverständliche Worte
zu und entfernte sich dann mit einer weitausladenden, vorwurfsvollen
Gebärde.
Nun
befiel mich ganz und gar heftigste Angst. Die Wohnung, in die wir
eingezogen
waren, bestand aus kleinen geheimnisvollen altertümlichen Räumen. In
ihren
Ecken hatte sich eine tragische Dunkelheit angehäuft. Ich kleidete mich
eiligst
an, und fiebernd begann ich die Stadt nach allen Richtungen zu
durcheilen, anfangs
mit Bedacht, dann laufend und schließlich außer Sinnen.
Ich
glaubte meinen Freund bald unter den Spaziergängern zu sehen, die sich
an das
Geländer einer riesigen Steinbrücke lehnten, bald im Hintergrund eines
Kellers,
wo schreckliche Trinker sich in der Nähe eines Schanktisches stießen,
bald
unter einem riesigen Kandelaber, dessen plötzlicher flackernder
Lichtschein
einen auf die Mauer gemeißelten Kampf zwischen Schlangen und Adlern
beleuchtete.
Jedesmal
stieß ich geradaus gegen jede dieser Vorstellungen, in meinem Kopf
wurde es
immer wirrer, meine Augen waren gemartert und mein Herz wie in einen
Schraubstock
gespannt. Ich entschloß mich, zurückzukehren. Aber kaum hatte ich
einige
Schritte gemacht, so wechselte meine Angst ihren Inhalt. Ich dachte
nicht mehr an
meinen Freund, weder an seinen Verlust noch an seinen Tod. Ich war mir
nun
selbst der Gegenstand meiner Beunruhigung. Rasch heimkehren! Oh! dieses
Laufen
im Abend durch Straßen, deren Fassaden Schrecken bedeuteten. Türme
ragten an
den Ecken der Plätze auf wie aus dem Unbekannten bis zu den Sternen
gebaut,
Weinkeller von Schreien und Streit erfüllt, mächtige Häuser, deren
Angeln und Türen
wie Kanonen schallten.
Noch
geheimnisvoller als vorhin und von noch unabwendbarerer Feindlichkeit
erschienen mir die Vorübergehenden. Konnte ich sie fragen, um den
rechten Weg
wiederzufinden? Ich fühlte, daß sie alle Gauner waren, Messerstecher,
unheimliche
Briganten. Ich schritt mitten in der Straße, unausgesetzt mich
umwendend, bleiern
vor Schrecken und mehr als alles andere auf der Welt fürchtend, daß man
meine
Furcht
ahnen könne. Ein kleiner Buckliger, der Zündhölzchen verkaufte, näherte
sich
mir. Ich sprang zurück, um ihm auszuweichen. Eine Dirne flüsterte mir
dumme Worte
zu. Lebhaft beschleunigte ich meinen Schritt, ich wagte nicht, sie mit
roher
Heftigkeit zurückzustoßen. In einer glasüberdeckten Galerie stand einer
dieser
entsetzlichen Bettler im Mantel, wie sie mich seit meiner Ankunft
beunruhigt hatten,
und versperrte mit seiner Geste den ganzen Durchgang. Ich machte kehrt.
Und die
Stunden schlugen über mir in den Kathedralen wie stählerne Schwerter,
die miteinander
kämpfen.
Plötzlich
erblickte ich das Haus, in dem wir abgestiegen waren, gerade vor mir.
Zitternd steckte
ich den Schlüssel in die Türe. Was erwartete mich hinter ihr? Mein
Freund war
so sehr aus meinen Befürchtungen entschwunden, daß ich nicht einmal
fragte, ob
er heimgekehrt war. Ich durchsuchte alle Zimmer unserer Wohnung, eines
nach dem
andern, leuchtete mit meiner Kerze unter die Betten, in die geöffneten
und rasch
wieder geschlossenen Kästen, zwischen die Füße der Sofas und der
Tische; ich
verschloß die Türen, verschob die Möbel und war selbst erschrocken über
diese
Kühnheit, meine Furcht beruhigen zu wollen. Ich lud auch meinen
Revolver. In meinem
Zimmer wandte ich dann die größten Vorsichtsmaßregeln an. Weshalb? Ich
hatte
doch sicherlich nicht Lust zu schlafen. Ich begann zu lesen, meine
Augen fest
auf die Seiten gerichtet; aber dort gegen die Türe zu, gegen das
Fenster, lag
meine ganze Aufmerksamkeit auf der Lauer. Da das Haus stockweise
vermietet
wurde, hörte man auf der Stiege Schritte aufwärts kommen, die mir den
Rhythmus
meiner Angst vermittelten. Irgendjemand blieb auf meinem Flur stehen.
Ich
sprang aus dem Bett, da ich an einen Einbruch glaubte. Eine blendende
Idee kam
mir: die Polizei benachrichtigen. Ich zog mich halbwegs wieder an. Doch
kaum
war ich auf der Straße angelangt, packte mich all mein Fieber wieder.
Sollte
ich von neuem die Stadt durchqueren, auf diese wie Monumente
dastehenden
Bettler stoßen und in dieses Labyrinth von Nacht untertauchen, aus dem
ich wie
durch ein Wunder herausgeraten war? Würde ich wieder all meine Unrast
erneuern
und sie bis zum Wahne fortspinnen? Ich stieg neuerdings die Stiege
hinauf, als
ich, vor meiner Wohnung angelangt,
bei dem Gedanken zu zittern begann, was sich in meinem Zimmer begeben
haben
könnte, seitdem ich es — eben vor einem Augenblick — verlassen hatte.
Ich
erinnere mich, mich auf der Schwelle mit müden, schweren Armen
niedergelassen
zu haben, am Platze festgebannt und zu gleicher Zeit wie emporgehoben
und wie
davongejagt durch die tausend sinnlosen Hände, die mich hinausstießen.
Ich hörte andere Mieter heraufsteigen. Ich horchte auf ihr lärmendes
Sprechen, sie
näherten sich. Über das Geländer gebeugt, glaubte ich ihnen Zeichen zu
machen,
sie zu rufen, ihnen irgend etwas zu sagen, und dennoch schnellte ich
unwillkürlich gegen die Mauer zurück, hielt mich stumm, unterdrückte
meinen Atem,
verbarg mich abgeplattet, kleinwinzig, wie blutleer in einer dunklen
Ecke. Sie streiften
an mir vorbei, ohne mich zu sehen, und begaben sich alle in ihre
Wohnungen.
Ich
zürnte mir, sie nicht gefragt zu haben; ja, ich stieg sogar einen Stock
hinauf,
um am Ende eines Ganges, in dem der letzte von ihnen verschwunden war,
anzuläuten. Dort angelangt, stieg ich wieder herab.
Da
plötzlich übersprang ich, vier Stufen zugleich nehmend, alle
Treppenabsätze und
gelangte auf die Straße, ohne zu wissen, was ich tat.
Ein
Nachtwächter stellte sich vor mich hin. „Ich komme," sagte ich, „um Sie
wegen eines
Diebstahls, der sich eben bei mir abspielt, zu holen."
Der
Mann folgte mir, und die wenigen Worte, die er sprach, bedeuteten mir
Erlösung.
Ich war mir in diesem Augenblick der Komödie, die ich spielte, nicht
bewußt.
Als
wir an der Schwelle meiner Türe angelangt waren, hätte ich es gewiß
gewagt,
allein in mein Zimmer einzutreten und in aller Ruhe die Winkel und
Ecken zu
untersuchen,
mein Bett aufzufinden und zu schlafen. Der Wächter durchforschte
sorgfältig den
Salon, das Waschkabinett, zündete seine Blendlaterne an und machte die
Runde
durch alle Räume. Um meinen Worten Gewicht zu geben — was mir ganz
leicht fiel
—, gab ich vor, daß ein Schrein auf jenem Tischchen, zwischen diesen
und jenen
Leuchtern und meinem Reisenecessaire, sich befunden hatte, und daß
dieser
Schrein verschwunden war. Mit wachsender Kühnheit begann ich gegen die
Gauner
zu eifern, die den Reisenden auflauern, ihnen in die Hotels folgen, und
gegen
die Behörde, der es niemals gelinge, wie sie es auch anstelle, die
Schuldigen ausfindig
zu machen. In diesem Augenblick mußte ich wohl einige etwas allzu
übertriebene Worte
gebraucht haben, denn der Nachtwächter lächelte, und ich sah einen
leichten Zug
von >Ungläubigkeit
in seinen Augen. Ich ärgerte mich.
„Es
ist sicher," erklärte ich ihm, „daß vor einer Stunde ein Schmuckstück
da
in einem blauen
Schrein sich befunden hatte, daß dieses Schmuckstück — ein Medaillon —
mit
Perlen verziert war und daß es Haare enthielt, die in Arabesken
eingelegt
waren."
Und
als mich der Mann unterbrach, um mich zu versichern, daß das Haus
verläßlich sei
und der Bezirk der stillste der Stadt, erwiderte ich, daß ich im Bett
gewesen
wäre, als ich plötzlich durch ein Kratzen — gleichsam als wenn ein
Diamant über
eine Glasscheibe geführt würde oder ein Gegenstand über eine marmorne
Tischplatte — geweckt worden war; als ich rasch hinzugelaufen war, sei
vor mir ein
Mann verschwunden, die Türe hinter sich zuwerfend. Was den Schrein
betrifft, so
hatte er auf
seiner Unterseite vier kupferne Nägel, und einer dieser kreischenden
und
knirschenden Nägel war es, der mich aus dem Schlaf geweckt hatte. Der
Wächter
sah mir gerade ins Gesicht.
„Folgen
Sie mir," befahl er, „und bringen Sie Ihre Klage anderswo vor."
Aber
darauf wollte ich nicht eingehen. Ich widersetzte mich, da mein Freund
heimkehren würde — mein Freund, er war nur mehr Vorwand — und daß ich
nicht
einen Augenblick in diesem verdächtigen Hause die Papiere und die
andern
Andenken, die uns gehörten, verlassen wollte.
Neuerlich
erschien ein Lächeln in den Augen des Nachtwächters. Ich hatte Lust,
ihn zu schlagen.
Plötzlich
öffnete sich die Türe, und er, der die Quelle meiner Angst gewesen war,
er, den
ich vergebens sehnsüchtig, ja wahnsinnig in der ganzen Stadt gesucht
hatte,
trat ein.
Ich
warf mich an seinen Hals und fragte ihn weder woher er komme, noch
warum er
sich bis zu dieser Stunde verspätet habe. Rasch zog ich ihn beiseite,
und mit vollkommener
Klarheit machte ich ihm von dem Abenteuer Mitteilung.
Der
Wächter ließ es gewähren. Er hatte verstanden.
Ganz
ernsthaft — denn die geringste Anspielung auf meinen Wahn hätte alles
verdorben
— kamen mein Freund und er überein, daß man am nächsten Morgen die
Klage
einbringen würde, und daß man, um mir Recht zu verschaffen und den
Schuldigen
zu entdecken, systematisch die schmutzigen Viertel des Hafens und der
Kasernen
durchsuchen würde.
Aber
im Morgenlicht erschien mir die Stadt so friedlich, so klösterlich, so
geruhsam, daß ich an nichts anderes mehr dachte, als den Reiz der
altertümlichen Kunstwerke und den schwermütigen Glanz seiner
verwitterten
Reliquien zu genießen.
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