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"Verzweiflung",
Ludwig Meidner
(Ausschnitt), 1914, "Ludwig
Meidner Archiv, Jüdisches Museum
der Stadt Frankfurt a. M.
04.2
Biografie
Georg Heym
Georg Heym war ein deutscher
Schriftsteller
geboren: 30.
Oktober 1887 in Hirschberg,
Schlesien
gestorben: 16. Januar 1912 in Berlin
Georg
Heym ist am 30. Oktober 1887 in Hirschberg (Schlesien) als Sohn des
Staats- und späteren Militäranwalts Hermann
Heym (1850-1920) und seiner Ehefrau Jenny, geb. Taistrzik (1850-1923);
Schwester: Gertrud (1889-1920) geboren. Dreizehnjährig
kam er nach Berlin,
besuchte das Gymnasium und studierte Jurisprudenz.
Wohlhabendes,
konservatives Elternhaus, dessen
Werte sich an protestantischer Frömmigkeit und am preußischen
Soldatentum
orientieren. Heym leidet schon als Kind unter der dumpfen Atmosphäre
des
bürgerlichen Alltags; früh Selbstmordgedanken. Hass auf sein
Jurastudium: "...nun muß ich mich vollstopfen wie eine alte
Sau auf der Mast mit der Arsch-Scheiß-Lause-Sau Juristerei, es ist zum
Kotzen."
Er
ertrank beim
Eislaufen auf der Havel zusammen mit seinem Freunde Ernst Balcke bei
Schwanenwerder am 16. Januar
1912.
Die
Entwicklung Heyms läßt
sich verfolgen wie die kaum eines Dichters des Expressionismus. Schon
sehr bald
schrieb er Gedichte, ohne eigentlich frühreif zu sein. Der 18jährige,
fast
verzehrt von der Sucht nach Ruhm, begann Dramen zu schreiben, die sich
an das
Historienstück des 19. Jahrhunderts und an den Renaissancekult der
Neuromantik
anlehnen und von Grabbe, Büchner und Kleist beeinflußt sind. Drei
vollendete
Stücke und 17 zum Teil umfangreiche Fragmente sind erhalten. An diesen
unzähligen Versen hat Heym die sichere Beherrschung des Jambus gelernt,
aber er
ist kein Dramatiker geworden. Im Frühjahr 1910, als es formal für ihn
nichts
mehr zu lernen gab, stieß er in Berlin zum „Neuen Club“, einer losen
Vereinigung
junger Menschen. Der älteste, aktivste und reifste unter ihnen war Kurt
Hiller,
der dichterisch bedeutendste Jakob van Hoddis, dazu kamen →Erwin
Loewenson (1888–1963), der treue Verwalter
des Nachlasses, Simon Ghuttmann, →Robert
Jentzsch (1890–1918) und →
David
Baumgart (1890–1963). Diese Freunde
schlossen Heym eine neue Welt auf. Jetzt erscheint die Großstadt in
seinem
Gedicht. Die Kritik an der Zeit wird schärfer, vor allem im Tagebuch
nimmt sie
einen aggressiven, oft rüden Ton an. Im Zusammenleben mit diesen
jungen,
brillanten und rücksichtslosen Verfechtern einer neuen Geistigkeit fand
Heym
seinen eigenen Stil. Seine Prosaarbeiten, die fast alle aus dieser Zeit
stammen, sind bedeutsame Zeugnisse des Frühexpressionismus. Die
strenge,
geschlossene Novellenform wird wieder angestrebt. Anregungen dazu hat
Heym bei
den Neuromantikern gefunden, von denen er auch die Vorliebe für
exotische und
unheimliche Themen und für Extremtypen als Helden übernommen hat. Aber
er geht
über seine Vorbilder hinaus. Das Grauenhafte wird nicht mehr genußvoll
ausgekostet, sondern steht als Symbol für die Absurdität des Daseins.
Die oft
groteske Spannung zwischen dem ornamental-fließenden Stil und der
gespenstischen Situation erhöht diesen Eindruck. Daneben aber kündigt
sich
bereits das trokkene Staccato der späteren expressionistischen Prosa an.
Die größte Leistung
Heyms ist seine Lyrik. Schon
bald findet er die Themen, die ihn immer wieder faszinieren werden: den
Tod,
oder besser die Toten, die Großstadt, den Menschen in Grenzsituationen
als
Gefangenen, als Irren, als Bettler oder als Spielball der Geschichte.
Beeinflußt von Baudelaire und Rimbaud, baut Heym seine jambischen
Strophen in
pompösen Bildern des Grauens auf. Von seinen neuromantischen
Zeitgenossen
unterscheiden ihn vitale Kraft und Anschaulichkeit der Sprache. Seine
Gedichte
sind nicht mühsam zusammengesuchte Orgien des Grausigen, sie sind
wirkliche
Visionen. Neben diesen Gedichten, die die Zeitgenossen am stärksten
beeindruckt
haben, finden sich Landschaftsbilder von hoher Eindringlichkeit und vor
allem
Gedichte, die geschichtliche Stoffe behandeln. Zwei wesentliche Züge
der
späteren expressionistischen Dichtung finden sich hier bereits
ausgebildet: die
Entheroisierung großer Gestalten und die Auffassung der Geschichte als
einer
anonymen Macht, die den Menschen ohne Ansehen seines Wertes zerbricht.
Gegen
Ende des Jahres 1911 – Heym hat in den zwei Jahren seines reifen
Dichtertums
eine geradezu unglaubliche Fülle von Gedichten geschaffen – deutet sich
eine
neue Wandlung an. Der Pomp der Bilder läßt nach, der Ausdruck wird
einfacher
und kühler. Die Welt, die aus diesen Gedichten uns unheimlich
entgegentritt,
wird von Marionetten bevölkert, die an unsichtbaren Fäden von einer
grotesken
Macht gelenkt werden. Anstelle der wogenden Bilderflut finden sich
jetzt kurze,
mitunter wie zerhackt wirkende Verse. Die lange jambische Zeile mit
ihren oft
prunkvollen Reimen wird von freieren Rhythmen abgelöst.
Heym war nie eigentlich schulebildend. Trotzdem
hat er bedeutenden Einfluß ausgeübt. Brecht hat viel von ihm gelernt.
Auch die
Dichter der neuen Sachlichkeit und des Naturgedichtes haben Anregungen
von ihm
empfangen. Seine letzten Gedichte haben den
Surrealismus in manchem vorausgenommen.
Werke
Die
Gedichte ,,Der Ewige Tag** (entstanden in der Zeit
vom März 1910 bis Januar 1911) veröffentlichte er noch zu
seinen Lebzeiten. Den Novellenband ,,Der Dieb", der kurz
nach seinem Tode erschien, bereitete er selbst für den Druck
vor. Die Gedichtsammlung „Umbra vitae wurde nach dem
Tode des Dichters aus seinem Nachlaß 1912 von David
Baumgardt, Erwin Loewenson, W. S. Ghuttmann, Jacob
van Hoddis, Robert Jentzsch zusammengestellt (Titel und
Herausgeber hatte noch Heym selbst bestimmt). Die
Sammlung „Der Himmel Trauerspiel bietet die vollkommensten
unveröffentlichten Gedichte, die Kurt Pinthus
und Erwin Loewenson weiterhin in dem großen Nachlaß
Georg Heyms fanden.
Wichtige
Lebensdaten:
1892
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Versetzung
des Vaters: Umzug nach Posen.
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1893
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Grundschule
in Posen.
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1894
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Umzug
nach Gnesen.
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1896
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Beginn
der gymnasialen Ausbildung in Gnesen. Sommer: Der Vater wird wiederum
nach Posen berufen; Schulwechsel auf das Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in
Posen.
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1899
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Erste
literarische Versuche: H. legt Gedichtbücher an, die er bis zu seinem
Tod führt.
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1900
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Übersiedlung
nach Berlin: Hermann Heym wird Kaiserlicher Militäranwalt am
Reichskammergericht; Herbst: Besuch des Königlich Joachimsthalschen
Gymnasiums.
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1904
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Beginn
der Tagebucheintragungen. Beginn der Freundschaft mit Ernst und Rudolf
Balcke.
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1905
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H.
wird wegen eines Schülerstreichs (er setzt das schuleigene Ruderboot in
Brand) vom Gymnasium relegiert und wechselt auf das
Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Neuruppin.
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1907
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März:
Reifeprüfung in Neuruppin. Mai: Jurastudium in Würzburg, Mitglied im
Corps Rhenania; Sommer: Reise nach Innsbruck und München; Herbst:
Berlin-Aufenthalt.
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1908
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Reise
ins Riesengebirge; Sommer: Corpsreise an den Rhein und die Mosel; Aug.:
Berlin. Nov. Weiterführung des Studiums an der Universität Berlin.
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1910
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Mai:
Immatrikulation an der Universität Jena; Aug.: Rückkehr nach Berlin.
Mit den Berlin-Gedichten Durchbruch zu seinem persönlichen Stil; H.
schließt sich dem Neuen
Club an,
einer Keimzelle des Expressionismus;
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1911
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Jan.:
erstes Staatsexamen; Abbruch des Referendariats nach drei Monaten (H.
hat eine Grundbuchakte vernichtet); Mitarbeit an der
expressionistischen Zeitschrift Die
Aktion;
Sommer: Freundschaft mit Hildegard Krohn. Fortsetzung des
Referendariats in Wusterhausen bei Berlin. Promotion zum Dr. jur. in
Rostock mit einer Arbeit über den Freiherrn von Stein. Sept.: Studium
des Chinesischen am Orientalischen Seminar der Universität Berlin;
Berufswunsch: fernöstlicher diplomatischer Dienst; parallel dazu
Bewerbung um die Stelle eines Fahnenjunkers bei mehreren Regimentern: "Ich
weiß nicht mehr, wo mein Weg hingeht. [...] Am liebsten wäre ich, man
denke sich, Kürassierleutnant, - heute - und morgen wäre ich am
liebsten Terrorist."
Reise nach München.
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1912
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Reise
nach Metz. Am Nachmittag des 16. Januar bricht H. bei Schwanenwerder
beim Schlittschuhlaufen auf der Havel ein und ertrinkt (wohl bei dem
Versuch, seinen im Eis eingebrochenen Freund Ernst Balcke zu retten,
der ebenfalls ertrinkt).
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Werke:
(e = entstanden)
Gedichte
1911
(1910-11 e)
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Der
ewige Tag (u.a. Berlin
I, Berlin II, Robespierre, Die Vorstadt, Ophelia, Der Winter, Der Gott
der Stadt, Columbus)
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1912
(1910-12 e)
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Umbra
vitae (43
nachgelassene Gedichte; u.a. Deine
Wimpern, die langen; Der Krieg I; Umbra vitae [Die
Menschen stehen vorwärts in den Straßen...];
Die Morgue)
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1914
(1956)
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Marathon I-XII (I-XXII) (Zyklus)
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Novellen
1913
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Der
Dieb. Ein Novellenbuch (Der fünfte Oktober, Ein Nachmittag, Jonathan,
Das Schiff, Der Irre, Der Dieb)
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Dramen
1907
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Der
Athener Ausfahrt (Trauerspiel
in einem Aufzug; = Der
Feldzug nach Sizilien, I. Akt)
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1911
e
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Atalanta (Tragödie)
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Schrift
1909
e
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Versuch
einer neuen Religion
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Gesamtausgaben
1922
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Dichtungen; hg.
v. E. Löwenson und K. Pinthus, München 1922 (mit 50 unveröffentlichten
Gedichten aus dem Nachlass)
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1960-68
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Dichtungen
und Schriften. Gesamtausgabe; hg.
von K. L. Schneider, 4 Bde., Hamburg/München (mit Tagebuch)
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