Mein Leben bis zum Krieg
(Erstdruck
Berlin - Ernst Rowohlt 1931)
Autobiografisches
Fruehestes
Ein
Dienstmädchen trug mich auf dem Arm oder führte mich an
der Hand. Es war noch jemand dabei. Wir standen am Rande eines trostlos
schlammfarbenen Wassers, das in die Straße eingedrungen war und – wenn
mein
Kleinkindergehirn recht verstand – immer höher stieg. Und der Himmel
war
gewitter gelb. So schlimm, so trostlos war das!
Das
Dienstmädchen machte mich offenbar
gern gruseln. Denn andermal zog sie mich auf einem Friedhof trotz
meines
weinenden und schreienden Protestes vor ein Kreuz, an das ein großer,
schrecken
einflößender, nackter Mann genagelt war.
Das ist
meine am weitesten
zurückreichende Erinnerung.
Von den
Eltern oder Geschwistern erfuhr
ich später kleine Geschichtchen. Man fand mich, der ich eben gehen
gelernt
hatte, auf dem Außensims eines hohen Fensters stehend, und ich jubelte:
»Sonne!
Sonne!« – Wenig später war ich einmal verschwunden. Der beste Freund
meines
Vaters brachte mich wieder. Er hatte mich mitten auf dem weit
entlegenen
Marktplatz angetroffen. Aber das wurde mir, wie gesagt, erst später
berichtet.
Ich kann es nicht nachprüfen und kann auch damit nichts für meine
Selbstbetrachtung anfangen.
Von dem,
worauf ich mich besinne, was ich noch weiß, zurückgedacht: Hat alles
seine Frucht gebracht. So oder So.
oben
An der Alten Elster
An der
Stelle, wo wir wohnten, floss die
Alte Elster zwischen zerklüfteten Abhängen trüb und ernst dahin. Unsere
Straße
säumte ihr linkes Ufer und hieß danach »An der Alten Elster«.
Von unserem
hohen Stockwerk aus hatten wir
über den Fluss hinweg einen weiten Ausblick. Da waren – für uns Kinder
unermessliche
– blumige Wiesen. Ich sah über diesem Gelände einen Fallschirmabsprung
aus
einem Freiballon. Der Schirm entfaltete sich nicht. Aus den Gesprächen
erwachsener Leute entnahm ich dann, dass der kühne Springer ein
Bein
gebrochen hätte. Hinter der Wiese parallel zum Fluss eine Chaussee mit
gleichmäßigen Bäumen. Um eine gewisse Stunde schritt dort eine lange
Reihe von
gleich aussehenden Bauersfrauen mit Tragkörben vorbei. Wie Tillergirls.
Berta
machte mich lachend darauf aufmerksam, dass diese Weiber plötzlich alle
wie auf
Kommando stillstanden und Pipi machten. Ich verstand Berta nicht ganz.
Noch weiter
im Hintergrund lag die
Sporthalle. Ich sah sie abbrennen. Berta hatte mich dazu geweckt.
An der Alten
Elster spielte meine
Kindheit, spielten drei Geschwister: meine zwei Jahre ältere Schwester,
mein
vier Jahre älterer Bruder und ich. Die Altersunterschiede waren derzeit
belanglos. Wir hatten unsere Freunde und Freundinnen. Auch das
Geschlecht
spielte keine Rolle. Es waren verwahrloste Armeleutekinder unter uns.
Wir
hatten auch Feinde und führten erbitterte und unbedacht gefährliche
Schlachten
mit ihnen. Die von der Fregestraße waren besonders rohes Pack.
Abgesehen
von den allgemeinen,
überlieferten Kinderspielen unternahmen wir, was Großstadtkindern nach
gegebenen dürftigen Gelegenheiten einfällt. Ein Lastwagen – ohne
Pferde, ohne
Kutscher – wurde erklettert. Eins von uns machte sich an der Bremse zu
schaffen. Wie schrien wir, als der Wagen plötzlich ins Rollen geriet!
Ein
schimpfender Riese brachte ihn endlich zum Stehen.
Beim
Soldatenspiel trugen die
Ruhmreichsten von uns schwere Metallschilde, geflochten aus den
Blechstreifen
vom Abfall einer Blechfabrik. Wir kamen mit Beulen, Blut und
Teerflecken
bedeckt nach Hause und wurden bestraft oder gescholten. Gescholten auch
dann
zum Beispiel, als Ottilie und ich eines Tages der Mutter
freudestrahlend ein
totes Huhn brachten, ein Strandgut, das wir mit Aufregung und
Lebensgefahr aus
dem Wasser geborgen hatten. Mit Ottilie hatte ich eine Geheimsprache:
die
Mongseberrongsprache.
Mongseberrong
hieß bei uns Stachelbeere.
Was wir aber weiter in dieser Sprache redeten, war purer,
unverständlicher
Quatsch und wurde nur vor anderen Kindern gequasselt, um uns als
Ausländer
sächsisch wichtig zu tun. – Wir drangen in fremde Hausflure ein,
durchstreiften
forschend wunderreiche Kellergänge. Weil uns niemand so ernst nahm, um
einzuschreiten, stolperte meine Schwester in der Düsterheit und fiel in
einen
Korb mit Harzer Käse. – Wir fanden ausgespuckte Pflaumenkerne im
Hof, knackten
sie mit unseren Stiefelabsätzen auf und aßen die blausäurigen Kerne.
Unsere
empfindlichen Eltern verübelten uns diesen Sport. – Bei manchen Spielen
gebrauchten wir Metallstücke, Tonkugeln, Holzpflöckchen und anderes.
Aber
fremdartiges Material reizte unsere Neugier am meisten. – Wir kamen zu
spät,
mit bösem Gewissen, nach irgend etwas abscheulich stinkend, heim ins
Elterngericht.
Für
mich war der größte Eindruck der Fluss mit seiner Uferromantik.
Zwischen den
Löchern und dem wirren Gestrüpp der steilen Abhänge kletternd,
kämpfend, forschend,
erlebte ich die Abenteuer meiner Sehnsucht voraus. Der Fluss trug
seltsame
Gegenstände vorbei. Am andern Ufer war eine Pferdeschwemme. Es war ein
spannendes Schauspiel, wenn dort Rosse ins Wasser geritten oder geführt
wurden.
Einmal, zweimal trieben dort Leichen an. Noch unheimlicher waren die
hohen
alten Pappeln an unserem Ufer. Die hohen Pappeln mit ihrem zitternden
und
schillernden Blättermillionen-Gewoge. Im Sturme neigten sie sich so
beängstigend tief hin und her, als drohten sie, jeden Moment auf uns
hereinzubrechen. Sie rauschten unsagbar unheimlich in meine einsame
Kinderfantasie.
Wenn
der kleine, verwachsene Brotmann zu
meinen Eltern kam, erhielt er von uns die angesammelten Knochenreste
für den
mageren Hund, der sein Wägelchen ziehen half. Vom Fenster aus sahen wir
dann
zu, wie das Brotmännchen sich auf das Holzgeländer unter die Pappeln
setzte und
die für seinen Hund bestimmten Knochen erst selber noch einmal
gründlich
abnagte.
Wo
die Pappelallee endete, stand hinter
einem verstachelten Zaun zwischen wucherndem Unkraut ein fahles, totes
Haus.
Unter uns Kindern war die Überzeugung verbreitet, daß dort Jack hauste.
Der
berüchtigte Jack, von dem wir sangen:
Seht einmal,
dort sitzt er,
Jack, der Bauchaufschlitzer.
Holte sich ein Weibchen,
Schnitt ihm auf das Leibchen,
Holt sich Lung' und Leber raus,
Machte sich ein Frühstück draus.
Ich
habe ein Ölbild gemalt, dem ich den
Titel »Am Fluß« gab. Und mein Rowohlt-Buch »Flugzeuggedanken« enthält
ein
Gedicht:
»An der Alten Elster«
Wenn die
Pappeln an dem Uferhange
Schrecklich sich im Sturme bogen,
Hu, wie war mir kleinem Kinde bange!
Drohend gelb ist unten Fluss gezogen.
Jenseits,
an der Pferdeschwemme,
Zog einmal ein Mann mit einer Stange
Eine Leiche an das Land.
Meine Butterbemme
Biss ein Hund mir aus der Hand.
O wie war mir bange,
Als der große Hund plötzlich neben mir
stand!
Längs
des steilen Abhangs waren
Büsche, Höhlen, Übergangsgefahren.
Dumme abenteuerliche Spiele ließen
Mich nach niemand anvertrauten Träumen
All zu oft und all zulange
Schulzeit, Gunst und Förderndes versäumen.
Hulewind beugte die Pappelriesen.
O wie war mir bange!
Pappeln,
Hang und Fluss, wo dieses Kind
Soviel heimlichstes Erleben hatte,
Sind nicht mehr. Mir spiegelt dort der
glatte
Asphalt Wolken, wie sie heute sind.
Beide
Arbeiten entstanden 1929, beide
entkeimt aus den Erinnerungen an meine Kindheit an der Alten Elster,
sechsunddreißig Jahre und länger zurück.
(Anpassung an die heutige deutsche
Rechtschreibung)
oben
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Bild : Herbstbaum im Winter, Schiele Egon -
EJ: 1912, Sammlung Leopold, Wien - Gemeinfrei
Quelle: zeno.org
Geschichte: Joachim
Ringelnatz - Mein Leben
bis zum Krieg
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk
in sieben Bänden.
Band 6: Mein Leben bis zum Kriege, Zürich 1994, S.
5-8,
gemeinfrei
Frühestes
An der
alten Elster
Bild 1:
Ringelnatz-Porträt, gemeinfrei
wikimedia
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