Mein Leben bis zum Krieg
(Erstdruck Berlin - Ernst Rowohlt 1931)
Gymnasium II
Bei meinen alchimistischen Versuchen brachte ich
elektrischen Strom aus Wolfgangs Trockenbatterie und angerußte
Glasscherben mit
Urin in Verbindung. Das Resultat war: kleine aufsteigende Bläschen. Und
im
übrigen wie immer Flecken und Schaden an Kleidern und Möbeln.
Auf der anderen Seite unseres Hauses führte ein
Weg zu
dem Fluss Elster. Dort war der Anlegeplatz für einen, nein, für den
einzigen
Vergnügungsdampfer von Leipzig. Und zwar an der Stelle, wo Marschall
Poniatowski 1813 ertrank. Der Dampfer war immerhin so groß, dass er in
dem
schmalen Fluss nie wenden, sondern nur vor- und rückwärts fahren
konnte. Auf
diesem Dampfer mitzureisen, war mir höchste Wonne. Ich kannte bald das
Schiffspersonal und fühlte mich sehr seemännisch, wenn ich an Sonntagen
den
einsteigenden Fahrgästen die Billetts abnehmen oder zur Abfahrt die
Glocke
schlagen durfte.
All das war so viel ergötzlicher als
Schularbeiten. Ich
bestand das erste Examen im Gymnasium nicht, musste deshalb Sexta noch
ein
zweites Jahr durchmachen. Mein Vater ermahnte mich, erteilte mir
Vorwürfe,
redete, wie man so sagt »einmal vernünftig« mit mir, drohte. Half
alles nichts. Ich war in diesen
Angelegenheiten so scheu geworden, dass ich nur noch auf den Ton, nicht
auf den
Sinn der Worte hörte.
Bei festlichen Gelegenheiten führten meine Eltern
den
Gästen ein sehr seltenes Schaustück vor, das Vater einmal aus Paris
mitgebracht
hatte. Es war ein, mich deucht, nahezu lebensgroßer Pfau aus Metall,
aber mit
richtigem Pfauengefieder. Der wurde auf den Tisch gestellt und begann
dann,
wenn sein Uhrwerk aufgezogen war, sich anmutig zu bewegen. Nicht etwa
gleichmäßig. O nein! Er trippelte ein paar Schritte vorwärts, blieb
stehen,
wendete sich plötzlich oder trat zurück, und auf einmal schlug er ein
Rad. Über
dieses kostbare Kunstwerk waren die Motten gekommen und hatten die
Federn
zerstört. Da eine Reparaturwerkstätte dafür in Leipzig nicht zu finden
war,
wurde der metallene Balg irgendwo verwahrt, wo ich ihn aufstöberte und
entführte. Stundenlang lag ich in den nächsten Tagen unter meinem Bett
und ging
dort in der Verborgenheit mit einem Stemmeisen dem Vogel zu Leibe. Bis
ich die
zauberhafte Mechanik seines Inneren in Zahnräder, Rädchen, Spiralen,
Achsen und
Splitter zertrennt hatte. Mir ist, als wären Wolfgang und Ottilie dabei
beteiligt gewesen, aber jedenfalls wurde ich von Mutter mit Recht als
Hauptschuldiger dem Vater zugeführt. Es war das einzige Mal, dass mich
mein
Vater schlug. Sonst – zum Beispiel, als er dahinterkam, dass ich teure
Lexika
meines Bruders heimlich beim Antiquar verkauft und das Geld verjubelt
hatte –
war sein Verhalten ein anderes, obwohl von mir weit mehr gefürchtet.
Ich wurde
dann in sein Zimmer gerufen, wo er am Schreibtisch saß. Er begann mit
strengen,
sachlichen Worten, die, je zerknirschter sie mich machten, immer
weicher
wurden. Bis ich in Tränen ausbrach, worauf mein Vater seinen Klemmer
verlor,
meinen Kopf an seine stachlige Backe zog und sich selber Tränen aus den
Augen
wischte. Mit irgendeiner versöhnlichen und gütigen Betrachtung oder
Ermahnung
entließ er mich dann. – Wir Kinder liebten »Väterchen« über die Maßen.
Ich
konnte mir damals nicht vorstellen, dass ich einmal seinen Tod
überwinden
würde.
Wie kam ich nur dazu und warum konnte es niemand
verhindern, dass ich in der Schule wie daheim so gar nicht gut tat,
immer
wieder auf Verbotenes aus war, alberne, eitle Streiche und sogar
Rohheiten
beging? Wie war es möglich, dass ich zum Beispiel längere Zeit hindurch
Tiere
quälte? Nicht nur, wie die meisten Kinder
tun, Maikäfer, Schmetterlinge in unzulängliche Gehäuse einsperrte und
sie in
plumper Behandlung lädierte oder fallen ließ. Ich riss Fliegen die
Flügel aus.
Entsetzlich grausam behandelte ich einen Kolbenkäfer aus dem Aquarium
meines
älteren und verständigeren Bruders. Ich legte den Käfer rücklings auf
den
äußeren Fenstersims und begoss ihn mit Schwefelsäure, von deren
schrecklicher
Wirkung ich unterrichtet war. Nie werde ich den Anblick vergessen, wie
das
Insekt vor Schmerz hochschnellte und vom Sims herab auf die Straße
fiel. Aber
auch damals schon überkam mich ein Grausen.
Es war keine Spur von sadistischen Gelüsten in
mir. Aber
warum quälte ich Tiere? Aus Wissbegierde? Ich spießte Libellen und
Schmetterlinge auf, um eine Sammlung anzulegen, wie Onkel Wolfram das
mustergültig
tat. Aber ich handhabte diesen Sport mit unzureichenden Kenntnissen und
Mitteln. Ich wollte Tiere konservieren, setzte eine kleine lebende
Schleie in
Spiritus, Brennspiritus, der sie rasch betäubte. Aber nachts ließ mir's
keine
Ruhe. Ich stand auf, entzündete ein Streichholz und beleuchtete das
Einmachglas. Wie tief erschrak ich, als die Schleie plötzlich anfing,
lebhaft
mit dem Schwanz zu schlagen.
Ganz offensichtliche Gewinnsucht war es, wenn ich
im
Zoologischen Garten den Strauß oben fütterte und ihm unten gleichzeitig
Federn
ausrupfte. Oder wenn ich vergeblich das Stachelschwein heranzulocken
suchte, um
ihm einen Stachel auszureißen, aus dem ich mir einen Federhalter machen
wollte.
Als ich einmal das Kamel, da es dicht am Gitter
stand, in
den Wanst zwickte, machte das Tier – wie um mir eine Lehre zu erteilen
– eine
geringe Bewegung, durch die mein Zeigefinger zwischen Gitterstab und
Kamelbauch
eingeklemmt wurde. Noch nicht schmerzhaft, aber immerhin so, dass ich
eine
Minute lang bedenklich gefangen war.
Die Ferien hatten uns in die Sommerfrische
gebracht. Und
ich zählte zehn Jahre, als mein Vater mich und meine älteren
Geschwister in
Frauenprießnitz in Thüringen taufen ließ. Bei dieser Zeremonie
gebrauchte der
Pastor eine Art Sahnenkännchen. Über dieses Kännchen und über den
ungewöhnlich
tief herabhängenden Hosenboden des Küsters brach ich in ein nicht zu
unterdrückendes Lachen aus.
Ferien! Das Wort klang wie Freiheit. Vater nahm
uns dann
meist nach Thüringen mit. Durch dieses, sein engeres Heimatland, führte
er uns
in herrlichen Wanderungen. Er wusste dabei ebenso lustig wie
spannend zu erzählen, und er kannte
die Gegend und ihre Geschichte genau. Auch durften wir uns genügend
allein
umhertummeln, Wolf gang Steine sammelnd, ich Insekten, Schlangen und
Eidechsen
fangend, Ottilie Blumen und Beeren pflückend.
Das einzige Verlockende am Königlichen
Staatsgymnasium
waren Senfgurken, die der Pedell selber einlegte, und davon er uns
gegen
geringe Bezahlung verkaufte. Sie zergingen auf der Zunge wie Butter und
schmeckten ungleich köstlicher als die gewohnten Mahlzeiten daheim.
Obwohl
Mutter, wie gesagt, sehr gut kochte. Mit Liebe kochte! Hatten wir Gäste
zu
Hause, so bekam sie in der Küche vor Eifer und Aufregung eine
purpurrote
Glanznase.
Wir Kinder mussten das essen, was die Eltern
wählten und
mussten im allgemeinen aufessen, was uns aufgelegt war. Wir hatten
Lieblingsgerichte, die uns zum Geburtstag beschert wurden. Auf meinem
Weihnachtswunschzettel stand einmal »Ich wünsche mir eine lederne Hose
und ein
Stück Butter«. Ich meinte eine Reithose. Die Butter, ein ganzes Pfund,
erhielt
ich, durfte sie aber nicht, wie ich das erträumt hatte, auf einmal
aufessen.
Ich verabscheute Linsen. Einst hatte ich
nachsitzen
müssen und kam um eine Stunde zu spät heim. Nun sollte ich nachessen,
und es
gab Linsen. Da ich indessen allein im Zimmer war, verteilte ich das
Gericht
nach allen Seiten. Ein paar Löffel ins Ofenloch, ein paar Löffel
hinters
Büfett, ein paar zwischen die Sofapolster, und so fort. Auch die tiefen
Schnitzereien
an unserem eichenen Esstisch boten Verstecke, um mittags unbeliebte
Bissen via Serviette
verschwinden zu lassen. Bob, der Dackel, war in dieser Beziehung auch
stets auf
unserer Seite.
Wir naschten selbstverständlich gern Süßigkeiten.
Zu
Ostern schenkte mir der reiche Onkel Karl einen Gigerlstock aus
massiver
Schokolade. Donnerwetter! – Kostbare Geschenke erhielten wir sonst nur
von dem
fernen Onkel Martin, der als Kapitän ein Schiff an der chinesischen
Küste
führte.
Freigebig waren unsere Eltern beide, und wir
wurden es
ebenfalls.
Ich wurde auch in der Quinta nicht versetzt,
sondern musste
ein neues Jahr dort bleiben. Das hatte den einzigen Vorzug, dass ich
von den
neuen Klassengenossen zunächst als Älterer respektiert wurde.
Meine Zeugnisse verschlechterten sich.
Unter Führung des Lehrers unternahm unsere Klasse
einen
Tagesausflug nach Schkeuditz. In einem Gartenrestaurant kehrten wir
ein. Dort
stand ein Automat, der eine Henne darstellte, die für zehn
Pfennige ein mit Bonbons gefülltes Ei
legte. Ein Konpennäler von mir kam auf einen geschickten Betrug. Wenn
man
nämlich, nachdem der Groschen in den Schlitz gefallen war, hinten in
die Henne
griff und auf einen gewissen Schnapper drückte, dann konnte man noch
gratis
weitere Eier erlangen. Mehrere von uns Jungens hatten sich bereits
derart
bereichert, als ich erst von dem Trick erfuhr. Das wollte ich auch
versuchen.
Ich warf ein Groschenstück ein, drückte hinten auf den Schnapper. Weil
aber ein
anderer Schüler in diesem Moment an der Kurbel drehte, wurde mein
Finger
eingeklemmt, und ich war mit der Hand im Popo der Henne gefangen. Der
Wirt musste
gerufen werden.
»Haben wir den Dieb endlich!« sagte er und
versetzte mir
eine Ohrfeige.
»Wie viel Eier hast du denn schon herausgeholt?«
»Noch keins – ich wollte nur –«
Er gab mir Wehrlosem wieder eine Ohrfeige. »Wie viel?«
»Eins«, log ich, um nur loszukommen.
(Bums Ohrfeige.) »Wie viel?«
»Zwei.«
(Bums Ohrfeige.) »Wie viel?«
»Noch keins!« rief ich aufheulend. Darauf befreite mich
der Wirt aus meiner Lage.
Eine gute Freundschaft verband mich mit dem Sohn
des
Universitätsrektors Sievers. Er konnte genau so ein gellendes
Kriegsgeheul
ausstoßen wie ich. Außerdem musste ich ihm auf dem Schulweg spannende
Geschichten erzählen, die ich immer improvisiert verlängerte, um
Sievers recht
lange zum Begleiter zu haben. Mein liebster Freund wurde Martin
Fischer. Er
hatte keinen Vater mehr. Seine Mutter war eine sarkastische Frau, die
mich
manchmal verspottete wegen meiner unmodischen Kleidung oder meiner
krummen
Beine. Fischer spielte hingegeben Geige. Mit ihm kam ich auch zu ersten
mal in
Gespräche über Erotik. Er hatte eine auffallend hübsche Schwester. Ich
lobte
sie und ihre Kleider vor ihm. Er lobte meine Schwester und deren
Kleider,
sodann schwärmten wir von Damenwäsche und sprachen uns derart
allmählich immer
intimer aus.
Mein Vater beschlagnahmte eine Sammlung von
Ansichtskarten, die ich mir angelegt hatte und auf denen halb nackte
Mädchen zu
sehen waren. Er beschlagnahmte auch ein sehr aufregendes Buch, das ich
von einem
Freund eingetauscht hatte,
und das den Titel trug »Der Frauenhandel in Wisconsin«. Nie habe ich
das Buch
wiedergesehen und suche es noch heute.
Das zweite Quintajahr ging zu Ende. Meine
Aussichten
waren hoffnungslos. Es ereignete sich ein Zwischenfall, der dem Fass
den Boden
ausschlug. Meine Eltern hatten mir ein Jahresabonnement für den Zoo
geschenkt.
Weil dieser Tiergarten direkt neben dem Gymnasium lag, benutzte ich
alle
Pausen, um hinüberzulaufen. Nun war dort seit einiger Zeit eine
Völkerschau zu
sehen, und zwar drei Samoaner mit dreiundzwanzig Samoanerinnen.
Herrliche,
stattliche Gestalten. Die Frauen trugen nur ein hemdartiges Gewand und
steckten
sich Blumen ins Haar.
Ich befand mich in den Pubertätsjahren und konnte
mich an
den bronzefarbenen, dunkelhaarigen Weibern nicht sattsehen. Da mein
kleines
Taschengeld für Geschenke nicht ausreichte, entwendete ich zu Hause
nach und
nach unseren gesamten Christbaumschmuck. Bald trugen alle
dreiundzwanzig
Insulanerinnen Glaskugeln, kleine Weihnachtsmänner, Schokoladeherzen
und
Zuckerfiguren, Wachsengel und Ketten im Haar. Sie dankten mir, indem
sie mich
anlächelten oder über mein blondes Haar strichen, was mich beseligte.
Aber eine
von ihnen erfüllte mir eines Tages meinen Wunsch, mir ein »H« auf den
Unterarm
einzustechen. Das geschah in der großen Unterrichtspause. Die dauerte
eine
Viertelstunde, das Tätowieren aber einundeinehalbe Stunde. Es tat ein
bisschen
weh und kostete auch ein Tröpfchen Blut.
»Wo bist du gewäsen?« fragte der Lehrer, als ich
unter
atemloser und schadenfroher Spannung meiner Klassengenossen den
Schulraum
betrat. Ich wusste: Nun ist alles aus. Aufrecht ging ich an dem Lehrer
vorbei
an meinen Platz und sagte, jedes Wort stolz betonend: »Ich habe mich
tätowieren
lassen!«
Es war aus. Consilium
abeundi.
Joachim
Ringelnatz
(Rechtschreibung
der heutigen Schreibweise leicht angepasst)
oben
Bild : Herbstbaum im Winter, Schiele Egon - EJ:
1912,
Sammlung Leopold, Wien - Gemeinfrei
zeno.org
Geschichte:
Joachim Ringelnatz - Mein Leben
bis zum Krieg
Joachim
Ringelnatz: Das Gesamtwerk
in sieben Bänden. Band 6:
Mein Leben bis zum Kriege, Zürich 1994, S.
5-8. Gemeinfrei
Auf dem Gymnasium
Bild 1:
Ringelnatz-Porträt, gemeinfrei
wikimedia
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