Mein Leben bis zum Krieg
(Erstdruck Berlin - Ernst Rowohlt 1931)
Meine
Onkels
Vaters Bruder war unser Onkel Karl. Er
besaß eine Fabrik. Es ging ihm gut. Seine wohlhabend und gut erzogenen
Kinder
wurden uns immer wieder als Musterbeispiele hingestellt. Das waren
Mädchen,
apart und sicher wie ihre Mutter, die Tante Emmy. Nur dass wir vor
deren kühler
Liebenswürdigkeit nie zutraulich wurden. Onkel aber trat groß
gebend,
breit,
natürlich und lustig auf. – »Kinder«, sagte er, »als ich so alt war wie
ihr jetzt,
da habe ich euren Vater manchmal so lange gekitzelt, bis er seine
Laubsäge,
oder was ich gerade wünschte, mir schenkte. Er ist ja so kitzlig. Nun
passt
auf: Wenn er jetzt hereinkommt, dann überfallt ihr ihn und piekst ihn
so lange
mit dem Zeigefinger in die Seiten, bis er euch eine Mark spendiert.« –
Wir
jubelten über diesen Einfall. Vater betrat die Stube. Wir stürzten auf
ihn und
pieksten in seinen Bauch und seine Seiten. Er aber, der schon längst
nicht mehr
kitzlig war, verstand gar nicht, was wir wollten. Unsere Enttäuschung
löste der
Onkel doch noch in Freude auf.
Onkel
Karl war ein stattlicher Mann. Er
legte seine Nase zeitweilig nachts in Gips, um sie schöner zu formen.
Ein
Dienstmädchen verriet uns das.
Der
Bruder meiner Mutter war Onkel
Martin, der Kapitän in China, den wir vorläufig nur aus Bildern und
Erzählungen
kannten. Er sandte wertvolle Geschenke zu den Festen, Silberbecher,
geschnitzte
Waffen, alte Vasen und Holzschnitte. Mir goldene Manschettenknöpfe, die
ich
heute noch trage. Und eine goldene Schlipsnadel. Dann einen
Spazierstock aus
Ebenholz. Auch seine silberne Uhr, die ihm einmal ins Rote oder ins
Gelbe - in
irgendein farbiges Meer gefallen war und die ein Taucher zufällig
wiederfand.
Zu
Weihnachten erhielt Ottilie von
Onkel Martin entzückende, weiße, prachtvoll bestickte Seide für ein
Kleid. Ich
warf ein glühendes Streichholz auf den Stoff und hinderte meine
Schwester
gewaltsam, das zu entfernen. Auf ihr Gezeter sprangen Mutter und Bruder
hinzu.
Sie entdeckten, dass mein Streichholz ein angekohltes, aber längst
ausgekohltes
Zündholz war. An der Stelle, wo Verkohlt und Unverbrannt sich trafen,
hatte ich
einen schmalen roten Stanniolstreifen um das Hölzchen gewunden. Der
wirkte in
der Kerzenbeleuchtung wie Glut. Ich freute mich meiner kleinen
Erfindung.
»Streichholz
groß, Streichholz klein,
Armes Streichholz, ganz allein.«
(Alter Spielreim)
Den Onkel
Fries in Marksuhl besuchten
wir während der Sommerfrische. Er war ein rauer Weidmann, der selbst
vor dem
Kaiser, der gelegentlich bei ihm jagte, kein Blatt vor den Mund nahm.
Zu dem
herrlichen Gutshof gehörte ein alter gespenstischer Turm. Die
Fledermäuse, die
sich in dessen Gebälk aufhängten, brannte ein Knecht von Zeit zu Zeit
am Tag,
wenn sie schliefen, mit einer brennenden Kerze herunter. – Ich sah
lebendig gerupfte
Puten und Hühner ohne Kopf, die noch lange fürchterlich zuckten.
Auf
einer der schönen Spazierfahrten,
bei denen ein Jagdhund neben den Pferden herlief, warf der Onkel seinen
Schlüsselbund ins Dickicht. Als wir auf der Rückfahrt in die
Oberförsterei
einbogen, rief Fries dem Jagdhund zu: »Such! Verloren!« Eine Stunde
später
brachte das Tier den Schlüsselbund an unseren Abendtisch im Garten.
Früchte
gab's in Hülle und Fülle. Beim
Einfahren des Korns hatte ich einmal auf einer Kreuzotter gesessen, was
mir
einen heldenhaften Nimbus verlieh.
Zuweilen
ritt meine Mutter mit dem
Onkel aus. Man musste der kleinen Frau dann erst auf eine Kiste helfen,
damit
sie aufs Pferd kam.
Vom
Onkel Hilgenfeld, Theologe in Jena,
und von dessen Familie sind mir nur noch eine tiefe Bassstimme und
Stachelbeeren in Erinnerung.
Und der Leipziger Professor und
Prediger Georg Rietschel und seine Angehörigen traten für mich erst
viel später
in Erscheinung.
Wir hatten
viele Nenn-Onkels.
Edwin
Bormann, sächsischer
Dialektdichter und wissenschaftlicher Verfechter der Idee, die
Shakespeare-Dramen hätten eigentlich Bacon zum Verfasser. Onkel Bormann
war in
allem von einer unvergleichlichen, oft pedantischen Gewissenhaftigkeit,
was
mich sehr für seine Bacon-Theorie einnahm, über die ich im übrigen
nichts
Näheres wusste. Aber er schien mir andererseits nicht immer logisch.
Sein Sohn,
mein lieber Gespiele Fritz, erbat sich einmal 50 Pfennige, um sich ein
Radrennen anzusehen. Sein Vater gab ihm die mit der Ermahnung, dann
pünktlich
heimzukommen. – Fritz kam pünktlich heim, berichtete exakt und
anschaulich von
dem Verlauf der einzelnen Rennfahrten, auch von dem entsetzlichen,
tödlichen
Sturz eines Fahrers. Worauf der Vater ihn übers Knie legte, gründlich
verwichste und dabei ausrief: »Solch grausiges Schauspiel siehst du
Rohling dir
an!«
Bormanns
besaßen ein eigenes Haus mit
Garten in einem traulichen alten Winkel der Stadt. Mit ihren Kindern
haben wir
dort herrlich gespielt. Zwischen Suse und mir bestand eine eigens
erdachte
Begrüßung, der Hexenkuss, bei dem wir uns mit den Nasen berührten.
Julius
Lohmeyer schrieb Kinderbücher
und anderes und liebte Kinder.
Dieser Onkel lebte in Berlin. Er war stets modisch gekleidet. Über
seine
katastrophale Zerstreutheit hörten wir immer neue Anekdoten oder
erlebten sie
mit.
Einmal
war er und waren wir bei einem
anderen Onkel zu Gast, dem Zeichenlehrer und Katzenmaler Flinzer.
Lohmeyer musste
die Gesellschaft frühzeitig verlassen, um den Zug noch zu erreichen.
Alles
drängte sich auf den Balkon, um dem Freunde Abschiedsgrüße
nachzuwinken. Onkel
Lohmeyer trug einen seidenhaarigen Zylinderhut, den ich schon einmal in
unserem
Vorraum zu Mutters Entsetzen ausführlich gegen den Strich gebürstet
hatte. Mit
diesem Hut winkte er nun der Gesellschaft zurück, als er eine Droschke
bestieg.
Er hatte aber gleichzeitig einen zweiten, versehentlich mitgenommenen
Zylinderhut auf dem Kopf.
Auch
der Anatom Wilhelm Roux war einer
von meinen berühmten Nenn-Onkeln. Mit ihm kam ich aber kaum in
Berührung. Es
gab auch Freunde von Vater, die wir Kinder nicht mit Onkel anredeten.
Von
Johannes Trojan wusste ich, dass er
Sitzredakteur des »Kladderadatsch« war und für einen guten und witzigen
Dichter
galt. Ich konnte mich auch davon überzeugen, dass er viel von Getränken
und
Pflanzen wusste und mit Kindern entzückend umzugehen verstand.
Der
Dichter Victor Blüthgen schenkte
meinen poetischen Anfängen freundliche Aufmerksamkeit und manches Lob.
Deswegen
gefiel er mir. Seiner Frau oder seiner Schwester oder, Gott weiß wem,
trug ich
zur Hochzeit als Page gekleidet die Schleppe. Da man mir aber Wein zu
trinken
gegeben hatte und ich übermüde war, trat ich mehrmals auf die Schleppe,
worüber
die Braut sehr unhold zu mir war.
Mein
Vater war mit sehr viel
merkwürdigen Zeitgenossen bekannt. Er suchte uns die Art und Bedeutung
derselben klarzumachen, und es freute ihn sichtlich, wenn sich uns
Gelegenheit
bot, solche Leute persönlich kennenzulernen. Uns Kindern machte das nur
selten
Spaß. Meistens fühlten wir uns vor Respekt und Verlegenheit
unglücklich, und es
blieb uns auch nichts übrig, als blöde zu schweigen oder mit Ja und
Nein zu
antworten.
»Ich
gehe jetzt auf einen Sprung in
dieses Haus, um Moritz Busch zu besuchen«, sagte Papa und erklärte mir
nochmals
eilig, wer Moritz Busch war. Dann ließ er mich allein warten. Aber
sehr bald kam er zurück und
sagte: »Der
alte Busch will dich sehen. Du kennst außerdem seine Nichte.«
Ich seine
Nichte kennen?? Und da stand
ich nun dem kleinen Herrn gegenüber, der der Eckermann Bismarcks
gewesen war.
Und ich wurde noch verdatterter, als ich in seiner Nichte ein Mädchen
wiedererkannte, dem ich einmal auf der Eisbahn den Hof gemacht und ein
Veilchensträußchen überreicht hatte. – Man quälte mich indessen nicht
lange.
So
zeigte uns Vater öfters berühmte
oder originelle Menschen. Was er dazu sagte, war immer exakt gewusst
und ohne
Überhebung aus einer ganz bescheidenen Neutralität heraus gesprochen.
Er selbst
blieb gern im Schatten. Nur war ich leider viel zu unreif und
abgelenkt, um
solchen Ausführungen die Aufmerksamkeit zu schenken, deren sie wert
waren.
Trotzdem ist
mir von allen Gesprächen
Vaters und von jeder Erzählung aus seiner Jugend, aus seiner Pariser
Zeit, aus
seinem Leben immer ein Pünktchen im Gedächtnis geblieben. Ich meine:
Ich könnte
heute daraus ein deutliches Bild zusammensetzen. Vaters Bild. Leider
erst
heute. Manchmal meine ich sogar, ich könnte daraus mein eigenes Bild
zusammensetzen.
Joachim
Ringelnatz
(Rechtschreibung
der heutigen Schreibweise angepasst)
oben
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Bild : Herbstbaum im Winter, Schiele Egon - EJ:
1912,
Sammlung Leopold, Wien - Gemeinfrei
zeno.org
Geschichte:
Joachim Ringelnatz - Mein Leben
bis zum Krieg
Joachim
Ringelnatz: Das Gesamtwerk
in sieben Bänden. Band 6:
Mein Leben bis zum Kriege, Zürich 1994, S.
5-8. Gemeinfrei
Meine Onkels
Bild 1:
Ringelnatz-Porträt, gemeinfrei
wikimedia
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