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Literatur


04.1


Mein Leben bis zum Krieg

(Erstdruck Berlin - Ernst Rowohlt 1931)






Auf der Presse

Frau Fischer nahm ihren Sohn vom Gymnasium fort und brachte ihn auf eine jener Drillschulen, die wir Presse nannten. Auch mich steckte man in ein solches Institut. Es hieß nach seinem Direktor »Tollersche Privat-Realschule«. In der Stadt war diese Schule berüchtigt.

Latein fiel weg. In den andern Fächern fand ich mich dort um einen Grad besser zurecht als im Gymnasium. Höchstens um einen Grad.

Am schwersten fiel mir die französische Sprache. Sächsisch gelehrt war sie wohl auch von einem Sachsen nicht zu lernen. »Schö nä ba, dü na ba, il na ba, nu nawong ba, wu nawä ...« Leider wusste ich mir für teures Geld ein für Schüler verbotenes und schwer zu erlangendes Buch zu verschaffen. Eine wörtliche Übersetzung des Lehrbuches von Plötz. Mit Hilfe dieses Schlüssels fertigte ich Hausübersetzungen an, die erstaunlich wenig Fehler aufwiesen. Musste ich aber unter Aufsicht des Lehrers nach Diktat übersetzen, so entstand etwas, was von Fehlern wimmelte. Dieser Lehrer, er hieß Rochlitz, war ein graumelierter Herr. So wie er aussah, stellte ich mir damals einen Marquis vor. Er zeigte jedoch weit mehr Interesse für mich als ich für ihn.

Ich hatte mir angewöhnt, allzeit an den Fingernägeln zu kauen. Wenn ich während des französischen Unterrichts mich so recht innig und fernsinnend diesem Sport hingab, beschlich mich Rochlitz und schlug mir unversehens mit dem Lineal gehörig auf die Hand. Das half aber nur für kurze Zeit. Später musste ich ihm vor Beginn jeder Stunde meine hässlich verstümmelten Fingerspitzen hinhalten, und er schmierte mir zum Gaudium der ganzen Klasse Ochsengalle darauf. Ochsengalle ist gelb und schmeckt bitter. Aber meine Leidenschaft nahm das mit in Kauf und gewöhnte sich rasch daran. Als man dieser üblen Angewohnheit von mir keine Aufmerksamkeit mehr schenkte, verlor sie sich von selber.

Rochlitz beschlich mich auch auf einem anderen Gebiete. Während der öden Schulstunden vertrieb ich mir die Zeit damit, mit Buntstift, ich glaube sogar mit Wasserfarben, Bilder zu malen. Feuersalamander, Reiter, rote Husaren oder sogar politische Bilder. Politisch deswegen, weil ich in ihnen irgend etwas Aufgeschnapptes oder dem Kladderadatsch Abgesehenes darzustellen versuchte. Etwa den großen Russischen Bären neben der zierlichen Französischen Marianne. Rochlitz beobachtete mich dann heimlich, und auf einmal sprang er zu mir und entriss mir das Bild. Zufällig immer dann, wenn es fertig war. Er sah stets von einer Bestrafung ab, und es war mir gleichgültig, dass ich das Bild nicht zurückerhielt.

Wie sollte dabei Französisch in mich kommen. Auch als mein Vater sich persönlich meiner annahm und mir daheim Unterricht erteilte, ergab sich nichts anderes als Peinlichkeiten. Ich gestand nicht, dass ich die Anfangsgründe nicht begriff, schämte mich zu sagen, dass ich gar nichts, rein gar nichts wusste. Und der Privatunterricht endete damit, dass mein Vater wieder den Klemmer verlor, mich an seine raue Backe drückte, und wir beide weinten.

Englisch fiel mir leicht, aber ich war völlig uninteressiert. – Dem Religionsunterricht misstraute ich im Unterbewusstsein. – In Geografie war ich faul. – In Geschichte schwitzte ich Angst.

Naturbeschreibung hatte scheinbar nichts mit Natur zu tun. Naturlehre auch nicht. (Ich beschreibe diese Aufzählung nach einem Zensurenverzeichnis, das vor mir liegt. Den vorgedruckten Fächern sind handschriftlich Zensuren hinzugefügt.)

Zahlenrechnen fand ich entsetzlich. – Mathematik entsetzlich. – Für Freihandzeichnen zu unbegabt. – Geometrisches Zeichnen: Darüber spreche ich noch. – Schreiben ganz schlimm.
Gesang: nur ein Strich. –

Turnen: Lehrer und Schüler sich gegenseitig nicht im klaren. – Alle übrigen Fächer kamen, weil sie fakultativ waren, für mich nicht in Betracht.

Im deutschen Aufsatz und in deutscher Grammatik unterrichtete der gestrenge Direktor selbst. »Den besten Aufsatz haben geschrieben«, sagte er zu Beginn der Stunde und nannte dann die Namen der zwei oder drei Belobten. Da war ich häufig dabei. Und ich freute mich dann. Denn Vater hatte mir für die Zensur 1 eine Mark versprochen. Indessen bezog sich das »besten« nur allgemein auf den Aufsatz als solchen. Bei der nun folgenden Verlesung der Zensuren stellte sich heraus, dass ich die schlechteste erhalten hatte. Weil mein Aufsatz unerhört unorthographisch und unschön geschrieben, das Schreibheft außerdem durch Kleckse, einradierte Löcher sowie Fingerabdrücke total versaut war. Dabei entwarf ich manchmal heimlich Aufsätze für andere Schüler, wofür ich Bezahlung oder Geschenke annahm. Meine Glanzleistung hatte ich im ersten Tollerschen Schuljahr vollbracht, als ich aus meinem Heft ganz fließend einen Hausaufsatz vorlas, der gar nicht darin stand. Ein jüdischer Mitschüler, der auch keinen Aufsatz geschrieben hatte, versuchte, meine Frechheit nachzuahmen, geriet aber gleich ins Stocken und wurde bestraft.

Herr Toller war sehr gefürchtet. Nur wenige Schüler, und zwar die, die bei ihm in Privatpension lebten, bewegten sich freier vor ihm. Darunter war zufällig der Primus. Kurze Zeit nach meiner Aufnahme in die Realschule starb ein alter Lehrer, ein herzensguter, treuer, leider sehr kranker Mann. Ich habe auch etwas dazu beigetragen, ihn zu Tode zu quälen. Denn wir nutzten die Hilflosigkeit des Greises dazu aus, in seinen Stunden grausamen Unfug zu treiben. Und ich war auch bei Toller sehr bald der Haupthanswurst geworden.

Da auf eine solche Presse Jungens geschickt wurden, die von besseren Schulen abgestoßen waren, kann man sich denken, dass wir eine recht gemischte Rotte bildeten.

Unser weitaus genialster und intelligentester Schüler hieß Harich. Er hatte ein schön geschnittenes Gesicht und imponierte mir in allem. Besonders aber durch sein sicheres und unerschrockenes Verhalten bei einer fatalen Gelegenheit, da Rochlitz ihm eine obszöne Photographie abnahm. Rochlitz vertuschte diesen Vorfall.

Arthur Tausig war der Sohn eines Rabbiners. Er hatte als Jude viel unter unserem Spott zu leiden.

Als geistig unzurechnungsfähig wurde Bonz sehr bald zum Spott der ganzen Klasse. Mir erschien er nur ein bisschen verrückt. Und ich mochte ihn gerade darum leiden. Sein Vater war übrigens auch wie Harichs Vater ein hoher und geschätzter Beamter.

Der körperlich stärkste von uns hieß Lakorn, ein großer frühreifer Junge, ungeschlacht, aber höchst gutmütig und ehrlich. Wie ein brauner, junger Jagdhund war er. Er half abends seinem Vater, einem Kneipenwirt in der Vorstadt, beim Bedienen der Gäste und war dadurch schon mit den Schatten- und Sonnenseiten des Arbeiterstandes vertraut. Deshalb wurde er von einigen bürgerlichen Lehrern als feindliches Element gehasst und sehr ungerecht behandelt. Als ich ihn einmal besuchte, war ich allerdings auch verblüfft darüber, wie vertraulich er mit seinem Vater stand, dass er ihm zum Beispiel lachend vor mir berichtete, ich hatte das harmlose Haus vis-à-vis für einen Puff gehalten.

Da war ein ganz kleiner, winziger Knirps unter uns. Den warfen Lakorn und Harich sich manchmal hin und her wie einen Fangball zu.

Es gab auch zwei schwere Jungens in dem Institut. Der eine unternahm eines Tages einen regelrechten Einbruch und stahl Gurken. Andermal, als er mit mir und noch zwei Knaben durch einen Wald ging und wir darüber klagten, dass wir gar kein Geld hatten, sagte er: »Einen Moment! Das verschaffe ich.« Lief uns voraus und trat nun – ärmlich gekleidet war er – mit gezogenem Hut an alle Passanten heran und bettelte sie an. Das Geld teilte er redlich mit uns.

Das andere mauvais sujet war ein sehr undurchsichtiger, wirklich übler Sohn eines sehr mysteriösen, wirklich üblen Besitzers einer Animierkneipe. Diese beiden Schüler spie die Schule im Laufe der Zeit aus, nach zwei für uns höchst sensationellen Ereignissen.

Am 28. März 1899 wurde ich in der Matthäikirche eingesegnet. In dem vorangegangenen Konfirmationsunterricht hatte ich mich auch schlecht betragen und besonders durch Juckpulver Ärgernis erregt.

Wieder verbrachten wir die großen Ferien in Tautenburg und Umgebung. Man zeigte uns Weimar, erzählte uns von Goethe, und Vater führte uns vom »Elefanten« auf den bunten Gemüsemarkt, um Sinn für künstlerisches Farbenverständnis und für volkstümliches Leben in uns zu wecken. In Jena aßen wir Kalbsnierenbraten in der »Sonne«. Papa erzählte vom Kämmerer-Karl und der Himmelsziege und zeigte uns die sieben Wunder der Stadt. Einmal wehte an der Zeise eine lange schwarze Trauerfahne. Jemand sagte, Bismarck wäre gestorben. Vater sah die Studenten unter jener Fahne lustig beim Frühschoppen kneipen und wurde plötzlich sehr traurig.

Nach heißen Wanderungen setzte Vater manchmal eine köstliche Bowle an. Er war als sachverständiger Bowlenbrauer weit bekannt. Er war auch ein feiner Kenner von Moselweinen. Bei einem Preisausschreiben des Trarbacher Kasinos gewann er mit einem Moselweinlied den ersten Preis von 500 Flaschen edelsten Mosel- und Saarweins. Das gab dann auserlesene Festlichkeiten bei uns, bei denen auch schon Gnadentröpfchen auf uns Kinder fielen. Schmeckte so gut auf den Tollerschen Schulstaub.

Von Schwester und Bruder war ich inzwischen naturgemäß mehr und mehr abgerückt. Ottilie war ein schöner, umschwärmter und koketter Backfisch geworden. Sie besuchte eine Tanzstunde mit Liebesflirt, der sich immer dramatischer gestaltete. Wolfgang widmete sich schon vorstudentlichen und wissenschaftlichen Interessen, besonders der Zoologie und der Steinkunde, sammelte Petrifakten und Briefmarken. Während meine Eltern ihre Anteilnahme mehr auf meine Geschwister und deren Bekannte verlegten, verbrachte ich meine Zeit frech und froh in meinem jüngeren, freieren und raueren Freundeskreis. Das Erstrebenswerteste war mir damals etwa: mit diesen Freunden einen Stammtisch zu pflegen, wo man viel Bier zuprostend trank, dicke Zigarren rauchte und von Zeit zu Zeit eine allgemeine erschütternde Lache ausstieß. Wie ich das an vollbärtigen Spießern und Studenten so oft bewundert hatte. Unter den zirka fünfundzwanzig Schülern meiner Klasse fanden sich genügend zusammen, die diese meine Neigung nicht nur teilten, sondern von denen einige schon Überlegenheit mitbrachten. Sie konnten Billard und Skat spielen, verfügten über Kommentausdrücke und wussten sehr vorgeschrittene, schweinische Witze. Ein Stammtisch kam aber wegen Geldnot und Vorliebe zu Sahneschnitten anfangs nur in kleinen Kakaostuben zustande, und auch nur vorübergehend. Er endigte meistens mit Schulkrach, Zank, Klatscherei.

An das heimliche Rauchen war ich längst gewöhnt. Es galt für männlich, durch die Lunge zu rauchen. Es galt auch für männlich, keine Schulmappe zu benutzen, sondern die Bücher unterm Arm zu tragen.

Meine Eltern waren nach dem Vorort Gohlis verzogen. Auf dem weiten Schulweg dahin steckte ich mir dreist eine Zigarre an. Ein fremder Herr trat auf mich zu, zog mir ein Buch unterm Arm weg, schlug es auf, las meinen Namen, gab es mir schweigend zurück und entfernte sich. Das war zweifellos ein Lehrer einer anderen Schule. Die mit mir gehenden Freunde meinten, ich würde nun wohl in der Nachmittagsstunde vom Direktor etwas zu hören kriegen. Ich war sehr bedruckst. Jedoch nicht lange. »Ihr werdet sehen, dass mir gar nichts passiert«, sagte ich. Denn schon hatte ich einen Plan gefasst. Über Mittag kaufte ich mir in einem Laden für Scherzartikel eine Feuerwerkszigarre. Die rauchte ich in einem Keller ganz eilig so weit, bis sie explodierte. Den Rest löschte ich und verwahrte ihn in der Firmentüte. Das wollte ich vorzeigen. »Ich habe nur eine Scherzzigarre geraucht«, wollte ich sagen. Ich war stolz auf meinen Einfall.

Als ich nachmittags nach Schluss der Geografie zum Direktor gerufen wurde, lachte ich meinen Freunden siegesgewiss zu.

»Du hast geraucht!« brüllte mich Herr Toller an.

»Nein, Herr Direktor, ich habe nur eine Feuer –«

Weiter ließ mich der Direktor nicht reden. »Du Lausejunge! Zwei Stunden Arrest!« Dabei gab er mir links und rechts gewaltige Ohrfeigen und stieß mich zuletzt so heftig aus der Tür, dass ich durchaus nicht in Siegerstellung auf meine draußen wartenden Kameraden prallte.

Dannhäuser, der selber aussah wie ein Osterhase, bekam ein lebendes Kaninchen geschenkt, das ich nun besichtigen sollte. Er hatte es vorläufig in ein Goldfischglas gesteckt und auf das Glas einen schweren Deckel gesetzt. Als wir hinkamen, lüftete er diesen, beugte sich nieder und sagte: »Es scheint traurig zu sein, es lässt den Kopf hängen.« Ich trat prüfend näher und sagte ernst wie ein Arzt im Sterbezimmer: »Es ist erstickt.« Und hatte recht.

Linkes Eltern betrieben eine angesehene Fischhandlung. Ich durfte dort manchmal beim Verkaufen helfen und musste dann auch Fische schlachten und ausnehmen. Linke trieb sich mit dem schlimmsten Gassenpack herum und war schon sehr gewieft. Er kannte den Jargon der Stromer und Schnapsbrüder und hatte dafür, doch auch für anderes, ein humorvolles Verständnis. Wir unterhielten uns ausgezeichnet miteinander. Durch ihn kam ich auch zu den Kindern einer Schornsteinfegerfamilie und verkehrte eine Zeitlang in deren Heim. Ich staunte, wie wohlerzogen, wie höflich und taktvoll diese Leute sich benahmen, ohne dass sie mehr gelernt hatten, als Leute des Handwerks damals lernten.

Am häufigsten besuchte ich Bodensteins. Drei Jungens, die alle zu Toller, aber in verschiedene Klassen gingen. Alle drei robust und gutmütig. Erwin war ein stiller, etwas schwachsinniger Mensch. Aber er half, wie seine Brüder, dem Vater tüchtig im Beruf. Eine große Weinhandlung und ein alt renommiertes Weinlokal, wo auch mein Vater allein oder mit dem Künstlerverein »Die Stalaktiten« gelegentlich hinkam. Der alte Bodenstein hatte sein Geschäft mit Fleiß und Umsicht sehr hochgebracht. Er war immer ernst und streng. Ich fürchtete ihn besonders, weil er mir sehr auf die Finger sah. Denn ich neigte dazu, seine Kinder all zu oft zu einer Flasche Wein anzuregen, die sie mit der Zeit dann heimlich heranschafften. Ich nutzte überhaupt die Wohlhabenheit dieser höchst anhänglichen Freunde zu viel aus. Sodass mich der älteste, Adolph, eines Tages, als ich Erwin um ein paar Groschen anpumpen wollte, auf der Treppe eindrucksvoll und doch herzlich verdrosch. Dabei waren alle Bodensteins, auch die Mutter, gastfreie Menschen. Ich verlebte bei ihnen viele amüsante und ausgelassene Stunden. Zuweilen war dann ein gleichaltriger Knabe Namens Bruno Wille dabei. Der besuchte nur eine Volksschule und war ein Waisenkind. Er hatte sich aber autodidaktisch schon weitergehende Kenntnisse angeeignet und war von einem wissenschaftlichen Bildungsdrang beseelt. Er setzte es auch durch, dass wir – ein paar Mann hoch – einen höchst gelehrten Verein konstituierten, der allwöchentlich einmal zusammenkam. Umschichtig musste dann jeder von uns einen Vortrag über ein selbst zu wählendes Thema halten. Dem schloss sich eine Diskussion an. Wir fühlten uns sehr würdig dabei. Der Verein hieß »Das Nachtlicht«.

Zu Hause benahm ich mich weniger würdig und ärgerte besonders meine Mutter. Oder sie mich. Manchmal nach einem Zank mit ihr murmelte ich drohende Worte vor mich hin, riss dabei im Kinderzimmer meine Kommodenschublade geräuschvoll immer wieder auf und zu und legte meine kleinen Habseligkeiten heraus, als gedächte ich, das Haus für immer zu verlassen. Packte auch Dinge zusammen, die eigentlich nicht ganz mein Besitz waren, wie beispielsweise Strümpfe. Und dann ärgerte ich mich, wenn niemand hinzukam und mich beschwichtigte. In einem dieser Fälle trat aber mein Vater zu mir und sagte kopfschüttelnd: »Junge, was hast du nur mit deiner Mutter?«

»Ich hasse sie!« rief ich theatralisch.

Mutter hatte mir auf meine Bitte hin ein altertümliches, herzförmiges Flakon aus Goldblech geschenkt. Das schenkte ich weiter an Maggy Porter, ein englisches Mädchen, das ich in X-dorf bei zwei Tanzstundenfreundinnen meiner Schwester kennenlernte. Ich hatte mich mit deutscher und sächsischer Bewunderung sofort in die Miss verschossen. Einige Tage später gaben meine Eltern einen Hausball für die Teilnehmer der Tanzstunde. Auch die zwei X-dorfer Freundinnen von Ottilie und auch Maggy Porter waren eingeladen. Am Tag danach vermisste meine Schwester ein hübsches, wenn auch nicht wertvolles Armband. Der Verdacht fiel auf mich. Mutter erinnerte sich an das Herzflakon und fragte mich mittags, ob ich das Armband etwa auch meiner Maggy geschenkt hätte. Ich schwieg beleidigt, legte nach dem Essen einen Zettel auf meinen Spieltisch mit der mysteriösen Aufschrift »Ich soll gestohlen haben« und ging davon. Bummelte, mich in ganz törichte Gedanken einbohrend, stundenlang ziellos durch die Straßen. Spät abends griff mich meine Mutter auf. Sie hatte den Zettel gefunden, in der Besorgnis, ich könnte mir ein Leid antun, mich bang gesucht und brachte mich nun schluchzend heim.

An sich kümmerte ich mich wenig um Ottiliens Liebeszauber und Tanzschwestern und Tanzbrüder. Von den jungen Herren imponierte mir einer, namens Swiderski, weil er ein bekannter Schachspieler war, der an öffentlichen Turnieren teilnahm. Und weil er einmal in der Schwimmanstalt mit mir von dem ganz hohen Gerüst ins Wasser springen wollte. Er sprang auch. Aber ich tat aus Feigheit nicht mit. Ferner war da Hermann Mitter, auch ein Verehrer Ottiliens, nicht so verwegen, aber immer lieb und gleichbleibend treu.

Wurde ich auch hin und wieder zu den Bällen dieser Tanzstunde zugezogen, so bestand meine Hauptbeziehung doch eigentlich darin, dass ich gelegentlich Verse für die Veranstaltungen schrieb und die Verse bebilderte.

Ein Fahrrad erhielt ich. Wunderbar! Brennabor! Dreihundert Mark! Bald waren Roß und Reiter verwachsen. Ich stieg aufs Rad, wenn ich einen Brief in den Postkasten werfen sollte, obwohl der Kasten neben unserem Haustor befestigt war. Ich radelte zur Schule. Ich machte weite Ausflüge im Rasetempo. Ich konnte im Fahren die kühn geschwungene Lenkstange loslassen oder mich auf den Sattel stellen. Ich konnte mit einem verwegenen Schwung nach vorn abspringen. Ich stürzte hundertmal, oft auf groteske, bedrohliche Weise. Stets ohne inneren Schaden zu nehmen. Ich fiel in Gewässer, überfuhr Hunde, prallte an Spaziergänger, konnte mein Fahrrad allein zerlegen und wieder zusammensetzen oder die Reifen flicken. Ich trainierte sogar auf der steilkurvigen Rennbahn. Ich war der Schrecken der Droschkenkutscher und Fußgänger. Ich klingelte wie ein Besessener. Heute würde ich mein rad fahrendes Ich von damals, wenn es mir als fremd begegnete, anhalten und durch bläuen. Mein Traum war derzeit, ein Rennfahrer zu werden wie Robl oder Arend. Ich hatte mich einer Bande Rowdys zugesellt, die allabendlich im Rosental Wettrennen improvisierten und nur vom Radfahrsport und nur in Fachausdrücken redeten. Der angesehenste von diesen Halbstarken war ein Mechanikergehilfe, der schon zweimal an richtigen Rennen auf der Rennbahn in Merseburg teilgenommen hatte. Ich selber schlug einmal einen engeren Rekord, indem ich von Leipzig nach Halle – ich glaube in 75 Minuten – sauste. Leider war niemand Zeuge, und die, denen ich es erzählte, glaubten mir nicht oder interessierten sich nicht dafür.

Auch die Schule hatte kein Verständnis für meinen Sport oder doch nicht so viel, dass man mir dafür im Geistigen etwas nachsah. In der Turnstunde wurden zwar Ballspiele getrieben und Wettkämpfe veranstaltet. In der letzten Klasse erhielten wir sogar Florettunterricht. Aber das wurde alles so trottmäßig betrieben und war so langweilig. Dass ich, um diese Unterrichtsstunde zu beleben, eines Tages einen geborgten Footoapparat mitbrachte und sechzig Minuten lang damit manipulierte, um die malerisch um den Lehrer gruppierte Klasse zweimal zu knipsen. Dabei verstand ich gar nichts von der Kunst des Fotografierens und hatte auch gar keine Platten mitbekommen. Später log ich, die Platten wären beim Entwickeln entzweigegangen. – Und die blanken Floretts, die  wir mit soviel Stolz empfangen hatten, waren rostig geworden. Wir spießten Äpfel darauf und trieben sonsterlei Unfug damit.

Der dicke Oberlehrer Bartels mochte mich etwas leiden. Er war so auf treudeutsch, »Gut Holz« und »Wandern mit Gesang« eingestellt. Wir schenkten ihm zu einem Jubiläum eine Fahne, deren Stock aus einem vom Schulausflug heimgebrachten Eichenast gedrechselt war, und ich schrieb dazu ein Bartels verherrlichendes, patriotisches Gedicht. Seitdem hatte ich bei ihm einen Stein im Brett. Auch er war im Grunde nur ein egoistischer und seiner Bequemlichkeit lebender Pauker.

Ich habe dort und überhaupt nur einen Lehrer gehabt, der mir imponierte und an den ich mit aufrichtiger Hochachtung zurückdenke. Dr.Dörry, ein damals jüngerer Herr. Er unterrichtete in geometrischem Zeichnen. Ich habe stets Angst vor den Lehrern gehabt. Meine Frechheiten wagte ich nur in Abwesenheit der Lehrer. Dr. Dörry war zudem als ein Mann respektiert, der nicht mit sich spaßen ließ. Und dennoch – ich weiß noch heute nicht, was in mich gefahren war – hob ich eines Tages in seiner Stunde die Hand, und als er fragte: »Was willst du?« gab ich die deutliche Antwort: »Darf ich fünf Minuten lang in den Puff gehen?«

Die ganze Klasse erstarrte. Dr. Dörry blickte mich fest an, mir ist, als hätte er ganz flüchtig gelächelt. Dann zog er seine Uhr und sagte: »In fünf Minuten bist du zurück.« Ich ging hinaus.

Alle wussten, dass es wirklich ein Bordell in der Nähe gab. Ich war noch nie in einem Bordell gewesen. Und ich dachte auch nun nicht daran, dorthin zu gehen. Ich wartete unten mit Herzklopfen vor einer Uhr. Bis die fünf Minuten um waren. Dann meldete ich mich in der Klasse zurück, ging an meinen Platz. Dr. Dörry sagte nichts. Der Vorfall hatte keinerlei Folgen. Nur dass ich acht Tage später, übermütig gemacht, leider nochmals die Hand hob und dann fragte: »Herr Doktor, erlauben Sie, dass ich ein Stück Quarkkuchen essen gehe?«

Er sah mich wieder kurz und scharf an, aber diesmal ernster und bestimmt ohne Lächeln. Dann sagte er: »Gut. In fünf Minuten bist du zurück.«

Ich eilte hinaus, hatte ein noch schlimmeres Gewissen als bei dem ersten Fall, kaufte ein Stück Quarkkuchen, schlang es lustlos würgend hinunter und war pünktlich wieder auf meinem Platz. Auch diesmal erfolgte keine Rüge, keine Anzeige. Aber seitdem passte ich auf. War bald der Beste, mindestens der begreifendste und begeistertste Schüler in Geometrie und liebte seitdem diesen Lehrer unsagbar. Nie wieder erlaubte ich mir ihm gegenüber eine Freiheit. Nur manchmal, wenn er mit langen Sätzen, drei Stufen auf einmal nehmend, die Schule verließ, bemühte ich mich, an seiner Seite ihm Schritt zu halten. O dass ich dem Dr. Dörry später nur einmal wieder begegnet wäre! Um ihm zu danken. Alle anderen Lehrer, die ich hatte, könnte ich heute kalt und unversöhnlich verprügeln. Meine ich.

Ich blieb in den drei Jahren bei Toller nicht sitzen, sondern schlüpfte immer noch eben so durch. Nach dem letzten Jahr, da man uns mit »Sie« anredete, kam das Hauptexamen, das Ziel. Ich hatte in letzter Stunde gebüffelt, war sehr abgespannt und in Sorge. Denn ich war unwissend wie eine Kanone.

Zum schriftlichen Examen trug ich in den Taschen, in der Unterhose und im Strumpf geheime Zettel zum Abschielen. Ich hatte mir Vokabeln und Zahlen auf die Manschetten und unter den Manschetten auf die nackte Haut geschrieben. Aber ich konnte alles das dann nicht verwerten. Man legte mir ganz andere Fragen vor. Meine Aussichten standen schlecht.

Das mündliche Examen vollzog sich feierlich im Gehrock und Beisein des Schulrats. Der von Toller begünstigte Primus wurde gefragt: »Wer war Iphigenie auf Tauris?« Er antwortete – eingepaukt und verwechselt – –: »Iphigenie war ein echtes deutsches Biederweib.« – Aber auch ich war höchst aufgeregt und gab die unsinnigsten Antworten, sprach dabei zag und stockend. Sodass Oberlehrer Bartels einmal scheinbar sarkastisch, in Wirklichkeit aber in bester Absicht sagte: »Nun, was ist denn Ihnen? Sie sind ja so blass. Sie pflegen doch sonst so lebendig zu sein.«

Ich bestand das Examen. Im März 1901. Der Primus fiel durch, was ich als eine Genugtuung empfand. Ich erhielt das Reifezeugnis mit der Berechtigung zum Einjährig-Freiwilligen-Militärdienst. Zu Hause wurde ich strahlend empfangen und gefeiert. Ich muss wohl selbst sehr glücklich gewesen sein und gefeiert haben. Und doch wohl nicht so glücklich, wie man meinen sollte. Denn ich weiß gar nicht mehr, wie sich das äußerte. Und von manchem anderen, ehrlicheren Glücklichsein blieben mir kleinste Details in Erinnerung.

Joachim Ringelnatz

(Rechtschreibung der heutigen Schreibweise leicht angepasst)


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Bild : Herbstbaum im Winter, Schiele Egon - EJ: 1912,
Sammlung Leopold, Wien - Gemeinfrei

zeno.org

Geschichte: Joachim Ringelnatz - Mein Leben bis zum Krieg
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 6:
Mein Leben bis zum Kriege, Zürich 1994, S. 5-8. Gemeinfrei

Auf der Presse


Bild 1: Ringelnatz-Porträt, gemeinfrei

wikimedia

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