Von
mir über mich
Kein
Ding sieht so aus, wie es ist. Am
wenigsten der Mensch, dieser lederne Sack voller Kniffe und
Pfiffe. Und -
auch abgesehen - von den Kapriolen und Masken der Eitelkeit. Immer,
wenn man
was wissen will, muss man sich auf die zweifelhafte Dienerschaft des
Kopfes und
der Köpfe verlassen und erfährt nie recht, was passiert ist. Wer ist
heutigen
Tages noch so harmlos, dass er Weltgeschichten und Biographien für
richtig
hält? Sie gleichen den Sagen und Anekdoten, die Namen, Zeit und Ort
benennen,
um sich glaubhaft zu machen. Sind sie unterhaltlich erzählt, sind sie
ermunternd und lehrreich oder rührend und erbaulich, nun gut! So wollen
wir's
gelten lassen. Ist man aber nicht grad ein Professor der Beredsamkeit
und sonst
noch allerlei, was der heilige Augustinus gewesen, und will doch
partout über
sich selbst was schreiben, dann wird man wohl am besten tun, man fasst
sich
kurz. Und so auch ich.
Es
scheint verwunderlich; aber weil andere über mich geschrieben, muss
ich's auch
einmal tun. Dass es ungern geschähe, kann ich dem Leser, einem tiefen
Kenner
auch des eigenen Herzens, nicht weismachen, dass es kurz geschieht,
wird ihn'
eine angenehme Enttäuschung sein.
Ich
bin geboren am 15. April 1832 zu Wiedensahl als der Erste von Sieben.
Mein
Vater war Krämer, klein, kraus, rührig, mäßig und gewissenhaft; stets
besorgt,
nie zärtlich; zum Spaß geneigt, aber ernst gegen Dummheiten. Er rauchte
beständig Pfeifen, aber, als Feind aller Neuerungen, niemals Zigarren,
nahm
daher auch niemals Reibhölzer, sondern blieb bei Zunder, Stahl und
Stein oder
Fidibus. Jeden Abend spazierte er allein durchs Dorf, zur
Nachtigallenzeit in
den Wald. Meine Mutter, still und fromm, schaffte fleißig in Haus und
Garten
und pflegte nach dem Abendessen zu lesen. Beide lebten einträchtig und
so
häuslich, dass einst über zwanzig Jahre vergingen, ohne dass sie
zusammen
ausführen.
Wir
lebten in einem kleinen Überfluss, zu essen gab's genug, und wenn
gespart
wurde, so geschah's für die Zukunft der Kinder. Diese Liebe und
Entsagung rührt
mich noch immer, obwohl ich doch schon ziemlich lange hübsch abgeschabt
bin auf
dieser Erdkruste. Liebe und Strenge sowohl, die mir von den Eltern
zuteil
geworden, hat der Schlafittich der Zeit aus meiner dankbaren Erinnerung
nicht
zu verwischen vermocht.
Was
weiß ich denn noch aus meinem dritten Jahr? Knecht Heinrich macht
schöne Flöten
für mich und spielt selber auf der Maultrommel, und im Garten ist das
Gras fast
so hoch wie ich, und die Erbsen sind noch höher; und hinter dem
strohgedeckten
Hause, neben dem Brunnen, stand ein Kübel voll Wasser, und ich sah mein
Schwesterchen drin liegen wie ein Bild unter Glas und Rahmen, und als
die
Mutter kam, war sie kaum noch ins Leben zu bringen.
Mein
gutes Großmütterlein war zuerst wach in der Früh. Sie schlug Funken am
p-förmigen
Stahl, bis einer zündend ins »Usel« sprang, in die halbverkohlte
Leinwand am
Deckelkästchen des Feuerzeugs, und bald flackerte es lustig in der
Küche auf
dem offenen Herde unter dem Dreifuß und dem kupfernen Kessel; und nicht
lange,
so hatte auch das Kanonenöfchen in der Stube ein rotglühendes
Bäuchlein,
worin's bullerte.
Als
ich sieben, acht Jahre alt war, durft' ich zuweilen mit aufstehen, und
im
Winter besonders kam es mir wonnig geheimnisvoll vor, so früh am Tag
schon
selbstbewusst in dieser Welt zu sein, wenn ringsumher noch alles still
und tot
und dunkel war. Dann saßen wir zwei, bis das Wasser kochte, im engen
Lichtbezirk der pompejanisch geformten zinnernen Lampe. Sie spann. Ich
las ein
paar schöne Morgenlieder aus dem Gesangbuch vor. Gesangbuchverse,
biblische
Geschichten und eine Auswahl der Märchen von Andersen waren meine
früheste
Lektüre.
Später
beim Kaffee nahmen Herrschaft, Knechte und Mägde, wie es guten Freunden
geziemt, am nämlichen Tische Platz.
Um
diese Zeit meines Lebens passierte eine kleine Geschichte, die recht
schmerzhaft und schimpflich für mich ablief. Beim Küster diente ein
Kuhjunge,
fünf; sechs Jahre älter als ich. Er hatte in einen rostigen
Kirchenschlüssel,
so groß wie dem Petrus seiner, ein Zündloch gefeilt; und gehacktes
Fensterblei
hatte er auch schon genug, bloß das Pulver fehlte ihm noch zu Blitz und
Donner.
Infolge seiner Beredsamkeit machte ich einen stillen Besuch bei einer
gewissen
steinernen Kruke, die auf dem Speicher stand. Nachmittags zogen wir mit
den
Kühen auf die einsame Waldwiese. Großartig war der Widerhall des
Geschützes.
Und so beiläufig ging auch ein altes Bäuerlein vorbei, in der Richtung
des
Dorfes. - Abends kehrte ich fröhlich heim und freute mich so recht auf
das
Nachtessen. Mein Vater empfing mich an der Tür und lud mich ein, ihm
auf den
Speicher zu folgen. Hier ergriff er mich am linken Flügel und trieb
mich
vermittels eines Rohrstockes im Kreise umher, immer um die Kruke herum,
wo das
Pulver drin war. Wie peinlich mir das war, ließ ich weithin
verlautbaren. Und
sonderbar! Ich bin weder Jäger noch Soldat geworden.
Als
ich neun Jahre alt geworden, beschoss man, mich dem Bruder meiner
Mutter in
Ebergötzen zu übergeben. Ich freute mich darauf. Wie Kinder sind, halb
froh,
halb wehmütig, plätscherte ich am Abend vor der Abreise mit der Hand in
der
Regentonne, über die ein Strauch von weißen Rosen hing, und sang
»Christine!
Christine!« versimpelt für mich hin.
Früh
am Tag wurde das dicke Pommerchen in die Scherdeichsel des Leiterwagens
gedrängt. Das Gepäck ist aufgeladen; als ein Hauptstück der
wohlverwahrte Leib
eines alten Zinkedings von Klavier, dessen lästig gespreiztes
Beingestell in
der Heimat blieb; ein ahnungsvolles Symbol meiner musikalischen
Zukunft. Die
Reisenden steigen auf: Großmutter, Mutter, vier Kinder und ein
Kindermädchen,
Knecht Heinrich zuletzt. Fort rumpelt's durch den Schaumburger Wald.
Ein Rudel
Hirsche springt über den Weg; oben ziehen die Sterne; im Klavierkasten
tunkt
es.
In
Wirtshäuser' einkehren taten wir nicht; ein wenig seitwärts von der
Straße
wurde stillgehalten, der Deckel der Ernährungskiepe wurde aufgetan und
unter
anderm ein ganzer geräucherter Schinken entblößt, der sich bald
merklich
verminderte. Nach zweimaligem Übernachten bei Verwandten erreichten wir
glücklich das Ebergötzener Pfarrhaus.
Gleich
am Tage nach der Ankunft schloss ich Freundschaft mit dem Sohne des
Müllers. Wir
gingen vors Dorf hinaus, um zu baden. Wir machten eine Mudde aus Erde
und
Wasser, die wir »Peter und Paul« benannten, überkleisterten uns damit
von oben
bis unten, legten uns in die Sonne, bis wir inkrustiert waren wie
Pasteten, und
spülten's im Bach wieder ab. Die Freundschaft ist von Dauer gewesen.
Alljährlich besuch' ich ihn und schlafe noch immer gut beim Rumpumpeln
des
Mühlwerkes und dem Rauschen des Wassers.
Auch
der Wirt des Ortes, weil er ein Piano besaß, wurde bald mein guter
Bekannter.
Er war rauh wie Esau. Ununterbrochen kroch das schwarze Haar in die
Krawatte
und aus den Ärmeln wieder heraus bis dicht an die Fingernägel. Beim
Rasieren
musste er weinen, denn das Jahr 48, welches selbst den
widerspenstigsten Bärten
die Freiheit gab, war noch nicht erschienen. Er trug lederne
Klapp-Pantoppfeln
und eine gelbgrüne Joppe, die das hintere Mienenspiel der blassblauen
Hose nur
selten zu bemänteln suchte. Seine Philosophie war der Optimismus mit
rückwirkender Kraft; er sei zu gut für diese Welt, pflegte er gern und
oft zu
behaupten. Als er einst einem Jagdhunde mutwillig auf die Zehen trat
und ich
meinte, das stimmte nicht recht mit seiner Behauptung, kriegt' ich
sofort eine
Ohrfeige. Unsere Freundschaft auch. Doch die Erschütterung währte nicht
lange.
Er ist mir immer ein lieber und drolliger Mensch geblieben. Er war ein
geschmackvoller Blumenzüchter, ein starker Schnupfer und hat sich
dreimal
vermählt.
Bei
ihm fand ich einen dicken Notenband, der durchgeklimpert, und
freireligiöse
Schriften jener Zeit, die begierig verschlungen wurden.
Der
Lehrer der Dorfjugend, weil nicht der meinige, hatte keine Gewalt über
mich -
solange er lebte. Aber er hing sich auf, fiel herunter, schnitt sich
den Hals
ab und wurde auf dem Kirchhofe dicht vor meinem Kammerfenster begraben.
Und von
nun an zwang er mich allnächtlich, auch in der heißesten Sommerzeit,
ganz unter
der Decke zu liegen. Bei Tag ein Freigeist, bei Nacht ein Geisterseher.
Meine
Studien teilten sich naturgemäß in beliebte und unbeliebte. Zu den
ersteren
rechne ich Märchenlesen, Zeichnen, Forellenfischen und Vogelstellen.
Mein
Freund aus der Mühle, der meine gelehrten Unterrichtsstunden teilte,
teilte
auch meine Studien in freier Natur. Dohnen und Sprenkeln wurden eifrig
verfertigt,
und der Schlupfwinkel keiner Forelle den ganzen Bach entlang unter
Steinen und
Baumwurzeln blieb unbemerkt von uns.
Zwischen
all dem herum aber schwebte beständig das anmutige Bildnis eines
blondlockigen
Kindes. Natürlich sehnte ich oft die bekannte Feuersbrunst herbei mit
nachfolgendem Tode zu Füßen der geretteten Geliebten. Meist jedoch war
ich
nicht so rücksichtslos gegen mich selbst, sondern begnügte mich mit dem
Wunsch,
dass ich zauberhaft fliegen und hüpfen könnte, hoch in der Luft, von
einem Baum
zum andern, und dass sie es mit ansähe und wäre starr vor Bewunderung.
Von
meinem Onkel, der äußerst milde war, erhielt ich nur ein einziges Mal
Hiebe mit
einem trockenen Georginenstengel, weil ich den Dorftrottel geneckt
hatte. Dem
war die Pfeife voll Kuhhaare gestopft und dienstbeflissen angezündet.
Er
rauchte sie aus, bis aufs letzte Härchen, mit dem Ausdruck der
seligsten
Zufriedenheit. Also der Erfolg war unerwünscht für mich in zwiefacher
Hinsicht.
Es macht nichts. Ein Trottel bleibt immer eine schmeichelhafte
Erinnerung.
Etwa
ums Jahr 45 bezogen wir die Pfarre zu Lüethorst.
Unter
meinem Fenster murmelte der Bach. Gegenüber am Ufer stand ein Haus,
eine
Schaubühne des ehelichen Zwistes; der sogenannte Hausherr spielt die
Rolle des
besiegten Tyrannen. Ein hübsches natürliches Stück; zwar das Laster
unterliegt,
aber die Tugend triumphiert nicht. Das Stück fing an hinter der Szene,
spielte
weiter auf dem Flur und schloss im Freien. Sie stand oben vor der Tür
und
schwang triumphierend den Reiserbesen, er stand unten im Bach und
streckte die
Zunge heraus; und so hatte er auch seinen Triumph.
In
den Stundenplan schlich sich nun auch die Metrik ein. Dichter,
heimische und
fremde, wurden gelesen. Zugleich fiel mir die »Kritik der reinen
Vernunft« in
die Hände, die, wenn auch damals nur spärlich durchschaut, doch eine
Neigung
erweckte, in den Laubengängen des intimeren Gehirns zu lustwandeln,
wo's
bekanntlich schön schattig ist, oder in der Gehirnkammer Mäuse zu
fangen, wo es
nur gar zuviel Schlupflöcher gibt. Sechzehn Jahre alt, ausgerüstet mit
einem
Sonett und einer ungefähren Kenntnis der vier Grundrechnungsarten,
erhielt ich
Einlass zur Polytechnischen Schule in Hannover.
Hier
ging mit meinem Äußeren eine stolze Veränderung vor. Ich kriegte die
erste Uhr
- alt, nach dem Kartoffelsystem - und den ersten Paletot - neu, so
schön ihn
der Dorfschneider zu bauen vermochte. Mit diesem Paletot, um ihn recht
sehen zu
lassen, stellte ich mich gleich den ersten Morgen sehr dicht vor den
Schulofen.
Eine brenzlige Wolke und die freudige Teilnahme der Mitschüler ließen
mich
ahnen, was hinten vor sich ging. Der umfangreiche Schaden wurde kuriert
nach
der Schnirrmethode, beschämend zu sehn; und nur noch bei äußerster
Witterungsnot ließ sich das einst so prächtige Kleidungsstück auf
offener
Straße blicken.
In
der reinen Mathematik schwang ich mich bis zu »Eins mit Auszeichnung«
empor,
aber in der angewandten bewegt' ich mich mit immer matterem
Flügelschlage.
Im
Jahre 48 trug auch ich mein gewichtiges Kuhbein, welches nie scharf
geladen
werden durfte, und erkämpfte mir in der Wachtstube die bislang noch
nicht
geschätzten Rechte des Rauchens und des Biertrinkens; zwei
März-Errungenschaften, deren erste mutig bewahrt, deren zweite durch
die
Reaktion des Alters jetzt merklich verkümmert ist.
Ein
Maler wies mir den Weg nach Düsseldorf. Ich kam, soviel ich weiß, grad
an zu
einem jener Frühlingsfeste, für diesmal die Erstürmung einer Burg, die
weithin
berühmt waren. Ich war sehr begeistert davon und von dem Maiwein auch.
Unter
Anwendung von Gummi, Semmel und Kreide übte und erlernte ich daselbst
die
beliebte Methode des »Tupfens, mit der man das reizende lithographische
Korn«
erzeugt. Nachdem ich mich recht und schlecht durch den Antikensaal
getüpfelt
hatte, begab ich mich nach Antwerpen in die Malschule, wo man, so hieß
es, die
alte Muttersprache der Kunst noch immer erlernen könne.
In
dieser kunstberühmten Stadt sah ich zum ersten Male die Werke alter
Meister:
Rubens, Brouwer, Teniers, Frans Hals. Ihre göttliche Leichtigkeit der
Darstellung
malerischer Einfälle, verbunden mit stofflich juwelenhaftem Reiz; diese
Unbefangenheit eines guten Gewissens, welches nichts zu vertuschen
braucht;
diese Farbenmusik, worin man alle Stimmen klar durchhört, vom Grundbass
herauf,
haben für immer meine Liebe und Bewunderung gewonnen; und gern verzeih'
ich's
ihnen, dass sie mich zu sehr geduckt haben, als dass ich's je recht
gewagt
hätte, mein Brot mit Malen zu verdienen wie manch anderer auch. Die
Versuche,
freilich, sind nicht ausgeblieben; denn geschafft muss werden, und
selbst der
Taschendieb geht täglich auf Arbeit aus. Ja, ein wohlmeinender
Mitmensch darf
getrost voraussetzen, dass diese Versuche, deren Resultate zumeist für
mich
abhanden gekommen, sich immerfort durch die Verhältnisse
hindurchziehen, welche
mir schließlich meinen bescheidenen Platz anwiesen.
Ich
wohnte am Eck der Käsbrücke bei einem Bartscherer. Er hieß Jan, seine
Frau hieß
Mie. Zu gelinder Abendstunde saß ich mit ihnen vor der Haustür, im
grünen
Schlafrock, die Tonpfeife im Munde; und die Nachbarn kamen auch herzu:
der
Korbflechter, der Uhrmacher, der Blechschläger, die Töchter in schwarz
lackierten
Holzschuhen. Jan und Mie waren ein zärtliches Pärchen, doch kinderlos,
sie
dick, er dünn; sie balbierten mich abwechselnd, verpflegten mich
während einer
Krankheit und schenkten mir beim Abschied in kühler Jahreszeit eine
warme rote
Jacke und drei Orangen. - Wie war mir's traurig zumut, als ich voll
Neigung und
Dankbarkeit nach Jahren dies Eck wieder aufsuchte, und alles war neu,
und Jan
und Mie gestorben, und nur der Blechschläger pickte noch in seinem
alten,
eingeklemmten Häuschen und sah mich trüb und verständnislos über die
Brille an.
Den
deutschen Künstlerverein, bestehend aus einigen Malern, aus politischen
Flüchtlingen und Auswanderungsagenten, besuchte ich selten, fühlte mich
aber
geehrt durch Aufnahme einiger Scherze in die Kneipzeitung.
Nach
Antwerpen hielt ich mich in der Heimat auf.
Was
damals die Leut ut oler Welt erzählten, klang mir sonderbar ins Ohr.
Ich
horchte genauer und sucht' es mir fleißig zu merken, doch wusst' ich
leider
zuwenig, um zu wissen, was wissenschaftlich bemerkenswert war. Das
Vorspuken
eines demnächstigen Feuers hieß »wabern«. Den Wirbelwind, der auf der
Landstraße den Staub auftrichtert, nannte man »warwind«; es sitzt eine
Hexe
drin. Übrigens hörte ich, seit der Alte Fritz das Hexen verboten hätte,
müssten
sich die Hexen überhaupt sehr in acht nehmen mit ihrer Kunst.
Von
Märchen wusste das meiste ein alter, stiller, für gewöhnlich wortkarger
Mann.
Einsam saß er abends im Dunkeln. Klopft' ich ans Fenster, so steckte er
freudig
den Trankrüsel an. In der Ofenecke steht sein Sorgensitz. Rechts von
der Wand
langt er sich die sinnreich senkrecht im Kattunbeutel hängende kurze
Pfeife,
links vom Ofen den Topf voll heimischen Tabaks, und nachdem er
gestopft,
gesogen und Dampf gemacht, fängt er seine vom Mütterlein ererbten
Geschichten
an. Er erzählt gemächlich; wird's aber dramatisch, so steht er auf und
wechselt
den Platz, je nach den redenden Personen, wobei denn auch die
Zipfelmütze, die
sonst nur leis nach vorne nickte, in mannigfachen Schwung gerät.
Für
Spukgeschichten dagegen von bösen Toten, die wiederkommen zum Verdrusse
der
Lebendigen, war der Schäfer Autorität. Wenn er abends erzählte, lag er
quer
über dem Bett, und wenn's ihm trocken und öd wurde im Mund, sprang er
auf und
ging vor den Tischkasten und biss ein neues Endchen Kautabak ab zur
Erfrischung. Sein Frauchen saß daneben und spann.
In
den Spinnstuben sangen die Mädchen, was ihre Mütter und Großmütter
gesungen.
Während der Pause, abends um neun, wurde getanzt, auf der weiten
Haustenne
unter der Stallaterne, nach dem Liede:
Maren
will wie Hawern meihn,
wer
schall den woll binnen?
Dat
schall Meiers Dortchen don,
de
will eck wol finnen.
Von
Wiedensahl aus besucht' ich auf längere Zeit den Onkel in Lüethorst.
Ein Liebhabertheater im benachbarten Städtchen zog mich in den
angenehmen Kreis seiner Tätigkeit; aber ernsthafter fesselte mich das
wundersame Leben des Bienenvolkes. Es hatte sich grad um einen
Grundsatz der Wissenschaft, nämlich, dass nur aus einem befruchteten Ei
ein lebendes Wesen entstehen könne, ein Streit erhoben. Ein schlichter
katholischer Geistlicher wies nach, dass die Bienen eine Ausnahme
machten. Mein Onkel als gewandter Schriftsteller und guter Beobachter
ergriff seine Partei und beteiligte sich lebhaft an dem Kampfe. Der
Wunsch und Plan, nach Brasilien auszuwandern, dem Dorado der Imker, hat
sich nicht verwirklichen sollen. Die Annahme, dass ich überhaupt
praktischer Bienenzüchter geworden, ist freundlicher Irrtum.
Auch
mich zog es unwiderstehlich abseits in das Reich der
Naturwissenschaften. Ich las Darwin, ich las Schopenhauer damals mit
Leidenschaft. Doch so etwas läßt nach mit der Zeit. Ihre Schlüssel
passen ja zu verschiedenen Türen in dem verwunschenen Schlosse dieser
Welt; aber kein »hiesiger« Schlüssel, so scheint's, und wär's der
Asketenschlüssel, passt je zur Ausgangstür.
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Textgrundlage:"Von
mir über mich", Wilhelm Busch, 1894, ED: 1960
Historisch-kritische
Gesamtausgabe in vier Bänden.
Hrsg. von Friedrich Bohne, Wiesbaden
und
Berlin, Vollmer Verlag (1960), Band 4, S. 205-211
Scans auf
commons
wikisource.org
Logo 49: "Die Hoffnung II" Gustav Klimt, EJ: 1907/08,
gemeinfrei
zeno.org
Bild 2: Selbstportrait Wilhelm Busch - gemeinfrei
Logo 49: "Die Hoffnung II"
Gustav Klimt, EJ: 1907/08, gemeinfrei
zeno.org
Bild:
Selbstportrait Wilhelm
Busch - gemeinfrei
Quelle
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