Gedichte
Die
Selbstdeutung
Autobiografische
Einleitung zu „Das Nordlicht“
EINE
Erläuterung der Idee des Nordlichtes, wie sie im Gedicht gestaltet
wurde, kann
nur durch ein paar einleitende, autobiografische Sätze versucht werden.
Autobiografisch,
in einem gleichnishaften Sinn, ist nämlich auch die Dichtung, besonders
in
ihrem ersten Teil: sie gibt
das Emporleuchten der Vision, ihr Wachstum und
Gedeihen, ihre hervorgreifende Verbreiterung. Bleiben wir zuerst
beim
ursprünglich visionären, nicht beim verdichteten Erdämmern der
urweltlichen Anschauungen,
die in diesem Werk zur Hämmerung gelangten.
Um
die Klarlegung durchzuführen, muss ich aber beinah in meine naive
Kindheit
zurückschweifen: etwa ins 14.
Lebensjahr.
Meine
Eltern waren durchaus aufgeklärte Menschen. Auch unser Bekanntenkreis
gehörte
der radikalen Richtung an. Dienstboten wussten das und versuchten meine
Einbildung mit Katholizismen zu beschäftigen. Dadurch entstand in mir,
einem
religiös veranlagten Kind, ein großer Konflikt: der entscheidendste fürs ganze
Leben!
Oft
fragte ich Verwandte um tiefere Gründe des Lebens: natürlicherweise konnte ich
da nichts erkunden: du
bist noch ein Kind und kannst das nicht versehen! Der
Eifer der Katholiken begeisterte mich wohl, ich blieb aber auch ihm
gegenüber
argwöhnisch, irgendwie witterte ich die Kulissen, den Bühnenbetrieb
ohne
eigentlich handelnde Person, in einem großen Passionsschaustück, das
von
Feiertag zu Feiertag das ganze Jahr beherrschen kann. Einmal beschloss
ich ganz
ernst, in der Richtung, die mir die Erziehung meiner Eltern wies, zu
forschen!
Mein Gemüt neigte zur Mystik, aber ich glaubte trotzdem nicht. Ganz
klar stand
es vor mir: alles Leben kommt
von der Sonne. Meine Zweisprachigkeit – ich bin
Triestiner – kam mir da zustatten. Im Italienischen heißt es; il sole
(männlich),
la luna (weiblich); ich verglich und entschied mich in meiner
kindlichen
Privatmythologie für die italienische Einsetzung der Geschlechter bei
den
Gestirnen. Das Sonnenlicht war väterlich, die Erde mütterlich, der Mond
unentschieden, aber mit stärkerem weiblichen Einschlag. Ich sah in
unserm
silbernen Nahgestirn etwa eine Traumgottheit: oft eine Amme, ja sogar Hebamme.
Aber auch eine Vorstellung vom Arzt hatte schon sehr früh in diese
kindlichen
Einbildungen hineingespielt. Die Vorgänge bei Zeugung und Geburt waren
mir
bereits sehr früh verraten worden. Schlaf und Traum, somit der Mond,
sind mir
immer so rätselhaft und dadurch besonders wichtig vorgekommen. Die
Nacht liebte
ich vor allen, und schön lebte ich nur im Traum: den Mond hielt ich geradezu
für den Retter des Lebens. Ohne ihn, sagte ich mir, müsste ja
alles, was die
Sonne hervorgezaubert, emporgesogen hat, sofort am Abend, bei
Sonnenuntergang,
verschwinden; bei Sonnenaufgang aber das Leben ganz neu und
kurzfristig, ohne
Zusammenhang mit seinem Gestern, wiederentstehen.
Der
Mond wurde mir zum ersten Architekten, da er eine silberne Brücke durch
die
Nacht, den Schlaf der Wesen, zu bauen imstande war. Aber genügte er zum
hohen
Aufbau bis zum Menschen, der in sich die Wesensart der Sterne fühlt und
erkennt? Mir, dem Kinde, nicht! Ich sann weiter. Jemand hatte mir
einmal
gesagt, dass Sonne und Erde, vor furchtbar langer Zeit, eins gewesen
wären. Ich
spekulierte: jetzt sind Sonne
und Erde getrennt: bevor die Scheidung eintrat,
mussten diese, heute vor unserem Verstand und unsrer Sinnesart
herrschenden
Kräfte unterirdisch (zugleich und eigentlichst untersonnig), gewühlt,
auseinanderzerrend gewirkt haben. Schließlich siegten sie. Und
nun: die früher
alle vom Mittelpunkt losstrebenden Gewalten im Zaume haltende
Sonnenkraft ist
jetzt zum großen Aufruhr geworden. Die Starrheit der Erde muss,
von der Sonne
aus, dereinst bezwungen werden. Und die Erde selbst gebiert aus sich
Kräfte,
die, der Schwerkraft entgegen, zur Sonne zurück wollen: ich sah darin die
mechanische Gesetzmäßigkeit, durch die Leben wird. Jede Pflanze, jedes
Tier
umhüllt seinen Sonnenflug. Also nicht um die Wärme,
Elektrizität, Magnetismus
usw. handelt es sich im Grunde für seelisches und leibliches Wachstum:
verschiedene bekannte und unerforschte Gewalten umkörpern uns mit
Sonne-Mond-
und Sterneninhalt. Eigentlich heißt Dasein: Rückkehr zur Sonne. Bei Tag
und bei
Nacht ist unser Planet der Sonne tributpflichtig. Pflanzen, Tiere,
Menschen
bleiben der Schwerkraft, der eigentlichen Natur der Erde,
entgegengesetzt: Opfer, die
die Erde aus ihren Gebeinen dem helleren, vollendeteren Gestirn
darbringt. Nach dieser Art die Welt zu schauen, ist das Sonnenlicht
Gott und
Herrscher.
Bald
wurde mir‘s klar, dass dieses Vorgehen mit eigner Vorstellung stark
spekulativ-materialistisch
war. Ein Mensch hätte dabei sein müssen, als sich Sonne und Erde
trennten,
damit man sagen kann: was einst, als unterlegen, wühlte, wurde
schließlich das
Herrschende; was früher geherrscht hatte hingegen, besorgt nun den
kosmischen
Aufruhr. Bei solchem Grübeln verstand ich mich plötzlich
folgendermaßen: das
alles vollzog sich auch, aber nicht vor den Augen eines Menschen,
sondern im Menschen
selbst, der sonnengeborenen Auges ist. Daher ergänzen wir: solches geschieht
immer noch! Und die Sonne endet nicht dort, wo wir ihren Rand
sehen: ebenso
nicht die Erde da, wo ihr Saum Menschen gestattet, bei Sonne und im
Sturm, zu
leben und zu schauen. Tatsächlich verhält sich‘s so: wir selbst
sind Sonne und
Erde. Mit den äußeren Sinnen fühlen und sehen wir den Boden unter uns,
die
Sonne über uns. Mit dem innersten Sinn sind wir einig, urverbunden mit
allen
Welten: Sonne ist bloß unser
herrlichster Inhalt.
Später
erklärte ich mir dieses Verhältnis in folgenden Versen:
Du
schwache Nacht, du bist der Schatten unsrer Erde,
Wir
sind die Sonne, der die Erde Sterne zeigt,
Denn
unsre Erde ist dir richtige Gebärde,
Die
gütige Menschen in den Sternenhimmel neigt.
Und
etwas weiter:
Die
Nacht steht da, wir haben sie aus Macht erschaffen.
Die
Erde ward und stand dem Menschen hilfreich bei,
Die
Erde lässt die Nacht aus einem Abgrund klaffen,
Und
da geschieht die Ewigkeit durch unsern Schrei.
Wir
sind vom Licht und sollen Finsternis gebären,
Drum
schufen wir die Erde, und da kam die Nacht.
So
konnten wir dem Himmel seine Macht bescheren.
Dann
lachten wir: die Sonne hat aus uns gelacht.
Wir
Männer, die dem Mut zu unsrer Tat entstammen,
Die
aus der Flut das Ich bei Nacht ans Land gebracht,
Sind
da, den Tag zum Überschwange zu entflammen:
Beflügelt
war der Mensch vor seiner Welt gedacht.
Ich
soll die Nacht mit meiner Sicherheit belauschen:
Wir
haben witternd ihren Untergang gewusst.
Kometen
kommt, ihr könnt die Dunkelheit berauschen:
Mein
Wissen ist das Licht, die Sonne unsre Lust.
In
diesen Versen aus der „Hymne an Venedig“ spreche ich meine Kosmogonie
aus.
Die
Stadt Venedig war ja das größte Erlebnis meiner Kindheit! Zur Zeit der
Geschlechtsreife flog ich oft hinüber, sowohl leiblich als
hauptsächlich im
Traum; alles was ich da sah, ging auf einem fantastischen Markusplatz
vor sich.
Mein
Glaube an Sonne, Mond und Sterne war mir ungemein lieb geworden. Ohne
ihn
und Venedig wäre ich verdorben, denn die Menschen verstanden mich
nicht. Ich
war ein schlechter Lerner, ein vergrübeltes Kind. Im Grunde hielt ich
allerdings nichts von meinen Visionen, ich liebte sie nur ganz naiv,
denn sie
waren meine einzigen Freunde.
Die
Weckeruhr stellte ich auf 4,1/25 Uhr, um am Morgen ausgeruht, bevor das
Feindliche des Tages beginnen sollte, etwas in Glück nachdenken zu
können. Dichterische
Äußerungen von mir erlebte ich nur spärlich: zwei italienische Schulaufsätze
fielen allerdings meinen Hauslehrern als sehr erstaunlich auf, mein
Wesen haben
aber auch sie nicht begriffen.
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"Selbstdeutung" aus:
Theodor Däubler, Das Nordlicht, Erstes Buch, Seite 1-40,
Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig, Genfer Ausgabe, Insel
Verlag, Leipzig 1922
Reprint: Arno-Schmidt-Referenzbibliothek
der GASL
Logo 336: "Die Planeten" G. Holst, 1995, autor Zoro
Mettini
Lizenz:
CCO 1.0 Public Domain Dedication
Universelle
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Bild: Portrait Theodor Däubler - gemeinfrei
wikipedia
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