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Literatur


04.1

Gedichte


Die Selbstdeutung

Autobiografische Einleitung zu „Das Nordlicht“



EINE Erläuterung der Idee des Nordlichtes, wie sie im Gedicht gestaltet wurde, kann nur durch ein paar einleitende, autobiografische Sätze versucht werden.

Autobiografisch, in einem gleichnishaften Sinn, ist nämlich auch die Dichtung, besonders in ihrem ersten Teil: sie gibt das Emporleuchten der Vision, ihr Wachstum und Gedeihen, ihre hervorgreifende Verbreiterung. Bleiben wir zuerst beim ursprünglich visionären, nicht beim verdichteten Erdämmern der urweltlichen Anschauungen, die in diesem Werk zur Hämmerung gelangten.

Um die Klarlegung durchzuführen, muss ich aber beinah in meine naive Kindheit zurückschweifen: etwa ins 14. Lebensjahr.

Meine Eltern waren durchaus aufgeklärte Menschen. Auch unser Bekanntenkreis gehörte der radikalen Richtung an. Dienstboten wussten das und versuchten meine Einbildung mit Katholizismen zu beschäftigen. Dadurch entstand in mir, einem religiös veranlagten Kind, ein großer Konflikt: der entscheidendste fürs ganze Leben!

Oft fragte ich Verwandte um tiefere Gründe des Lebens: natürlicherweise konnte ich da nichts erkunden: du bist noch ein Kind und kannst das nicht versehen! Der Eifer der Katholiken begeisterte mich wohl, ich blieb aber auch ihm gegenüber argwöhnisch, irgendwie witterte ich die Kulissen, den Bühnenbetrieb ohne eigentlich handelnde Person, in einem großen Passionsschaustück, das von Feiertag zu Feiertag das ganze Jahr beherrschen kann. Einmal beschloss ich ganz ernst, in der Richtung, die mir die Erziehung meiner Eltern wies, zu forschen! Mein Gemüt neigte zur Mystik, aber ich glaubte trotzdem nicht. Ganz klar stand es vor mir: alles Leben kommt von der Sonne. Meine Zweisprachigkeit – ich bin Triestiner – kam mir da zustatten. Im Italienischen heißt es; il sole (männlich), la luna (weiblich); ich verglich und entschied mich in meiner kindlichen Privatmythologie für die italienische Einsetzung der Geschlechter bei den Gestirnen. Das Sonnenlicht war väterlich, die Erde mütterlich, der Mond unentschieden, aber mit stärkerem weiblichen Einschlag. Ich sah in unserm silbernen Nahgestirn etwa eine Traumgottheit: oft eine Amme, ja sogar Hebamme. Aber auch eine Vorstellung vom Arzt hatte schon sehr früh in diese kindlichen Einbildungen hineingespielt. Die Vorgänge bei Zeugung und Geburt waren mir bereits sehr früh verraten worden. Schlaf und Traum, somit der Mond, sind mir immer so rätselhaft und dadurch besonders wichtig vorgekommen. Die Nacht liebte ich vor allen, und schön lebte ich nur im Traum: den Mond hielt ich geradezu für den Retter des Lebens. Ohne ihn, sagte ich mir, müsste ja alles, was die Sonne hervorgezaubert, emporgesogen hat, sofort am Abend, bei Sonnenuntergang, verschwinden; bei Sonnenaufgang aber das Leben ganz neu und kurzfristig, ohne Zusammenhang mit seinem Gestern, wiederentstehen.

Der Mond wurde mir zum ersten Architekten, da er eine silberne Brücke durch die Nacht, den Schlaf der Wesen, zu bauen imstande war. Aber genügte er zum hohen Aufbau bis zum Menschen, der in sich die Wesensart der Sterne fühlt und erkennt? Mir, dem Kinde, nicht! Ich sann weiter. Jemand hatte mir einmal gesagt, dass Sonne und Erde, vor furchtbar langer Zeit, eins gewesen wären. Ich spekulierte: jetzt sind Sonne und Erde getrennt: bevor die Scheidung eintrat, mussten diese, heute vor unserem Verstand und unsrer Sinnesart herrschenden Kräfte unterirdisch (zugleich und eigentlichst untersonnig), gewühlt, auseinanderzerrend gewirkt haben. Schließlich siegten sie. Und nun: die früher alle vom Mittelpunkt losstrebenden Gewalten im Zaume haltende Sonnenkraft ist jetzt zum großen Aufruhr geworden. Die Starrheit der Erde muss, von der Sonne aus, dereinst bezwungen werden. Und die Erde selbst gebiert aus sich Kräfte, die, der Schwerkraft entgegen, zur Sonne zurück wollen: ich sah darin die mechanische Gesetzmäßigkeit, durch die Leben wird. Jede Pflanze, jedes Tier umhüllt seinen Sonnenflug. Also nicht um die Wärme, Elektrizität, Magnetismus usw. handelt es sich im Grunde für seelisches und leibliches Wachstum: verschiedene bekannte und unerforschte Gewalten umkörpern uns mit Sonne-Mond- und Sterneninhalt. Eigentlich heißt Dasein: Rückkehr zur Sonne. Bei Tag und bei Nacht ist unser Planet der Sonne tributpflichtig. Pflanzen, Tiere, Menschen bleiben der Schwerkraft, der eigentlichen Natur der Erde, entgegengesetzt: Opfer, die die Erde aus ihren Gebeinen dem helleren, vollendeteren Gestirn darbringt. Nach dieser Art die Welt zu schauen, ist das Sonnenlicht Gott und Herrscher.

Bald wurde mir‘s klar, dass dieses Vorgehen mit eigner Vorstellung stark spekulativ-materialistisch war. Ein Mensch hätte dabei sein müssen, als sich Sonne und Erde trennten, damit man sagen kann: was einst, als unterlegen, wühlte, wurde schließlich das Herrschende; was früher geherrscht hatte hingegen, besorgt nun den kosmischen Aufruhr. Bei solchem Grübeln verstand ich mich plötzlich folgendermaßen: das alles vollzog sich auch, aber nicht vor den Augen eines Menschen, sondern im Menschen selbst, der sonnengeborenen Auges ist. Daher ergänzen wir: solches geschieht immer noch! Und die Sonne endet nicht dort, wo wir ihren Rand sehen: ebenso nicht die Erde da, wo ihr Saum Menschen gestattet, bei Sonne und im Sturm, zu leben und zu schauen. Tatsächlich verhält sich‘s so: wir selbst sind Sonne und Erde. Mit den äußeren Sinnen fühlen und sehen wir den Boden unter uns, die Sonne über uns. Mit dem innersten Sinn sind wir einig, urverbunden mit allen Welten: Sonne ist bloß unser herrlichster Inhalt.

Später erklärte ich mir dieses Verhältnis in folgenden Versen:

Du schwache Nacht, du bist der Schatten unsrer Erde,
Wir sind die Sonne, der die Erde Sterne zeigt,
Denn unsre Erde ist dir richtige Gebärde,
Die gütige Menschen in den Sternenhimmel neigt.

Und etwas weiter:

Die Nacht steht da, wir haben sie aus Macht erschaffen.
Die Erde ward und stand dem Menschen hilfreich bei,
Die Erde lässt die Nacht aus einem Abgrund klaffen,
Und da geschieht die Ewigkeit durch unsern Schrei.

Wir sind vom Licht und sollen Finsternis gebären,
Drum schufen wir die Erde, und da kam die Nacht.
So konnten wir dem Himmel seine Macht bescheren.
Dann lachten wir: die Sonne hat aus uns gelacht.

Wir Männer, die dem Mut zu unsrer Tat entstammen,
Die aus der Flut das Ich bei Nacht ans Land gebracht,
Sind da, den Tag zum Überschwange zu entflammen:
Beflügelt war der Mensch vor seiner Welt gedacht.

Ich soll die Nacht mit meiner Sicherheit belauschen:
Wir haben witternd ihren Untergang gewusst.
Kometen kommt, ihr könnt die Dunkelheit berauschen:
Mein Wissen ist das Licht, die Sonne unsre Lust.

In diesen Versen aus der „Hymne an Venedig“ spreche ich meine Kosmogonie aus.
Die Stadt Venedig war ja das größte Erlebnis meiner Kindheit! Zur Zeit der Geschlechtsreife flog ich oft hinüber, sowohl leiblich als hauptsächlich im Traum; alles was ich da sah, ging auf einem fantastischen Markusplatz vor sich.

Mein Glaube an Sonne, Mond und Sterne war mir ungemein lieb geworden. Ohne ihn und Venedig wäre ich verdorben, denn die Menschen verstanden mich nicht. Ich war ein schlechter Lerner, ein vergrübeltes Kind. Im Grunde hielt ich allerdings nichts von meinen Visionen, ich liebte sie nur ganz naiv, denn sie waren meine einzigen Freunde.

Die Weckeruhr stellte ich auf 4,1/25 Uhr, um am Morgen ausgeruht, bevor das Feindliche des Tages beginnen sollte, etwas in Glück nachdenken zu können. Dichterische Äußerungen von mir erlebte ich nur spärlich: zwei italienische Schulaufsätze fielen allerdings meinen Hauslehrern als sehr erstaunlich auf, mein Wesen haben aber auch sie nicht begriffen.



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"Selbstdeutung"  aus: Theodor Däubler, Das Nordlicht, Erstes Buch, Seite 1-40,
Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig, Genfer Ausgabe, Insel Verlag, Leipzig 1922

Reprint: Arno-Schmidt-Referenzbibliothek der GASL


Logo 336: "
Die Planeten" G. Holst, 1995,  autor Zoro Mettini

Lizenz: CCO 1.0 Public Domain Dedication Universelle
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Bild: Portrait Theodor Däubler - gemeinfrei
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