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Literatur


04.1


Die Selbstdeutung


Autobiografische Einleitung zu „Das Nordlicht“,
- Seite 2 -



Eines Tage, bei Bora, erschloss sich mir plötzlich folgender Sinn: selbst beschlossener Zwiespalt! Die Menschen nennen vieles Sünde: ich, der kecke Atheist, in der Pubertät, der bei Mondschein über den Karst dahinbrauste, wollte das Böse bloß als Schatten des Hochseligen erfasst haben.

Einmal auf einem Maskenball (ich selbst trug die Larve) sagte ich mir: das Leben ist nicht bloß gewollte Askese oder Zwang, Pflicht der Sonne gegenüber, damit wir uns zum Hochgestirn emporranken können, und die Erde nicht bloß Feindin, bestenfalls Vagina und Grab. Als Wirksamkeit ging mir auf: das Leben verlangt Fülle, die Geschöpfe dürfen göttlich emporjubeln.

Ich lief aus dem Saal, auf die Straße. Ich fühlte glücklich, die Erde birgt in sich noch viel Sonne, die mit uns, gegen die Schwere verbunden, selbst wieder zur Sonne zurück will. Überall. Sogar im Eis. Gerade dort, an den Polen, wo die Nacht am tiefsten, am längsten, besonders mächtig! Eine leuchtende Umschlingung von erlöster Sonne aus der Erde und himmlischer Sonne bringt den monatelangen Nächten um die Pole das Polarlicht. Die Erde sehnt sich, wie ein leuchtender Stern zu werden. Meine Privatkosmologie hatte ihre Ergänzung erhalten!

Diese Idee von der Nordkrone ließ mich nicht mehr los. Schnell wusste ich, dass sie eigentlich in uns Wunsch, Freude, Glück, Vertrauen sein konnte. Der Grund dazu lag für mich, ich sahs geradezu, in der Erde. Vielleicht in einem feuerflüssigen noch sonnenähnlicheren Innern! Das Lichterziel, die leuchtenden Kränze um die Pole wurden mir zum Sinnbild von Geschichte aus innerstem Geschehen. Ich erlebte einen Nordschein der Seele; was da vorging, verdunkelte alles am Tage Geschöpfte. Die Sonne verfinstere sich mir. In meinen Nächten dämmerte das Vertrauen zu einer letzten, zu einer mittleren Sonne. Nordlicht kann uns den Weg zu ihr weisen: es nähert uns dem Urlicht. Von dem stammen wir Menschen, die alle sichtbaren Sonnen beschlossen, erwogen, zu ihrer Tag gemacht haben, ab. Ich scheute mich, in meinen naiven Atheismus nunmehr einem himmlischen Glauben an Hierarchien und überirdische Geistigkeit anzuvertrauen. Der Sprung ins Religiöse war aber dennoch ein Entschluss! Ganz kindlich wollte ich alle Bekannten umarmen, ihre Seelen als Wege zum Norden aller Völker ansehen. Also wiederum in Menschen: als Erwühler des Urlichts gleichwertig! Oft hatte ich geheim, vor mir selbst verschlossen, gebetet, nun gestand ich mir Beten zu. Durch das Nordlicht bekam mir unser Geschlecht seine Freiheit. Jeder Mensch, sagte ich mir, benützt sie zur Wahl einer Vision: jeder einzelne kann auch bestimmen, wo und wann er geboren werden will. Wir sind nicht bloß Untertanen einer sichtbaren Sonne!

Folgendes aber bleibt die Aufgabe des Menschen: Wir verkünden: die Zukunft der Erde durchs Nordlicht zu erfüllen!die Erde wird wieder leuchtend werden, aber die Völker sind verantwortlich, dass dieser Stern, der ein dunkler ist, einst der aller hellste sei. Nicht ein Durchgangsplanet, sondern das Feld unsrer heiligsten Aufgabe ist von nun an unser strahlender Zukunftsstern. An den Polen versucht es die Erde schon wieder, wiederholt aufzuleuchten. In strengen Seelen glüht der Beruf, im Menschen das Urlicht zu ergründen. Denn der Mensch birgt der Erleuchtung: in uns wird Zeugnis fürs erste Licht abgelegt werden; im Kosmos geschieht‘ s durch den Nordschein. Noch bevor auf dem Planeten unsre Aufgabe erfüllt ist, steht es geistig fest, dass alle Sterne von der Erde bewegt werden, sich um sie, als ihren geistigen Mittelpunkt, schmiegen. Denn aus dem Menschen wird die Ursonne hervorstrahlen.

Daher fasste ich schon damals das Leben als keine persönliche Angelegenheit auf, sondern jedem Dasein musste, davon war ich überzeugt, eine überpersönliche Aufgabe mitgegeben sein. Wir sollten hier nicht bloß lernen, sondern es bleibt unsre Pflicht, die Erde zu sich, das heißt, zu ihrem eigentlichen Licht zu bringen. Sie wird brennen, ihren feurigen Kern zur leuchtenden Schale hervordämmern lassen. Die Erde, eine dunkle Frucht, keimt bereits empor in eine Welt des erblühenden Lichtes. Religionen erglimmen, um Völker im inner‘n Feuer umzugebären. Wir sind dafür verantwortlich, dass überall, aus allem Tun und Geschehen, das Licht der Hilfe ersprieße. Keine Verkettung im Dasein: Ursprünglichkeit! Das ist die Auferstehung des Fleisches!

Oft kam mir‘ s vor, durch das metaphysische Erfassthaben der Idee „Nordlicht“ müsste es gelingen, hermetische Türen zu sprengen, damit Urlicht sich in die Schöpfung verströmen könne. Einmal, beim Schauen des Reigens hehrer Sternenbilder, glaubte ich auch, mir den Zusammenhang aller Bekenntnisse deuten zu dürfen.

Indien nannte ich das Gewissen der Tropen; alle Pflanzen, Tiere, Menschen sind dort zutiefst aufgewühlter Tribut der Erde: Opfer an die Sonne. Durch diese Wesen ist aber auch der Boden locker geworden, sodass Urlicht, polar nach Norden und Süden, aus dem Menschen herausstrebend, uns, durch seelisch aufgebrachte Freiwilligkeit, ins Sonnige hineinzugedeihen befähigt. Die sichtbare Aufforderung dazu, die planetarischen Beispiele bieten, wie gleich einzusehen ist, Süd- und Nordlicht. Soviel über der Tropen Lebenskraft. Des Inders Seele aber will die Erde durch die Beruhigung in seiner Seele, im Urlicht, im Ewig-Ungebornen verankern. Wo die Natur am üppigsten, wie im Sturme, aus dem Boden emporsteigt, findet der Mensch den Frieden: und bringt ihn auch. Seiner lebendigst entzündeten Kulturfantastik tritt die Stille des Einzelnen entgegen: sonst bräche die Welt zusammen. Sonnenergebenheit, Sonnenopfer, Leben nach Sonnengeheiß, alles Sonnentum im Irdischen zeitigt Schicksal. Unausweichliches: die Kulissen des Karma lassen uns erschaudern. Doch, wir sagten es schon, des Tropenwaldes Sonnensturm, des südlichen Tieres Sonnentoben, des religiös entzündeten Menschen Sonnenerhobensein wird im allgemeinen Weltgeschehen durch das Brunnensuchen in der Seele bei den Edlen unter den Hindus besänftigt. In Freiheit schwebt ihre Seele: ein Leichtsein hebt den Schwerpunkt der Welt auf. Dadurch bleibt der Mensch mit seiner Schöpfung, der Erde, in den uns beschiedenen Maßen und Bahnen des Kosmos. Des Inders Geist ist der Tod der Tropen.

Auf von Indien, in magischer Verzücktheit, bricht der Genius der Geschichte! Jedes Land hat seine Sendung: jedes Volk erklimmt das ihm zugedachte Land, um des Bodens Aufgaben zu überdauern. Irgendeinmal entsteht in Indien der Entschluss, sich selbst mit der eignen überirdischen Belastung zu verpflanzen, von einem Gedankengang verschleppen  zu lassen.

Über Irans sternwärts  gerichtete Höhen geht’s nordwärts: in der Spirale, künftigen weiterklimmenden Völkern zu. Jesus Christus erschließt uns die neue Aufgabe: das, was in uns gekommen ist, unsre vorgeburtliche Unvollkommenheit, als Kreuz, in diesem Leben auf uns zu nehmen: die eignen Leiden in heiligen Gemeinschaften auszudulden. Er wirbt um die Höhe aller Bekenntnisse und bringt sie uns, wo er Pfingsten vorbereitet. Das Fest im Geist! Des Urlichts Ausbruch aus der Natur kann uns, auf der nordwärts gerichteten Heimreise, zum Ruhepol in uns, immer zu einem überraschenden Feiertag werden. Pfingsten erfüllt und erwartet den Nordwärts-Schreitenden. Den Nordwärts-Denkenden. Den, der den Norden erleidet.

Solches schaute ich von nun an immer wieder. Ich hielt aber im Grunde nichts von dem Gesicht, weil nicht von mir. Ein paar Gedichte schrieb ich wohl in größter Traurigkeit, zerriss sie jedoch oder zeigte sie keinem. Ich hoffte vielleicht dereinst Maler werden zu können.

Doch einmal erzählte ich einem Altersgenossen etwas vom Nordlicht, und er ermunterte mich, die Geschichte zu verdichten: lange zweifelte und zauderte ich.
Endlich, in Neapel, drängten sich solche Visionen bidlhaft klar, blumenmäßig und feurig vor: ich schrieb. Plötzlich erfasste ich den Plan zum Werk.

Autobiografisch sollte der erste Teil sein: ein Sonnenpilgertum, das Eigne, in ihm gefasst werden. Erlebtes in Verdichtungen wollte ich um mein Eigen-Ich stellen! Allerdings musste schon der erste Teil entschieden gleichnishaft zum zweiten hinüberleiten!


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"Selbstdeutung"  aus: Theodor Däubler, Das Nordlicht, Erstes Buch, Seite 1-40,
Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig, Genfer Ausgabe, Insel Verlag, Leipzig 1922

Reprint: Arno-Schmidt-Referenzbibliothek der GASL


Logo 336: "
Die Planeten" G. Holst, 1995,  autor Zoro Mettini

Lizenz: CCO 1.0 Public Domain Dedication Universelle
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Bild: Portrait Theodor Däubler - gemeinfrei
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