Die
Selbstdeutung
Autobiografische
Einleitung zu „Das Nordlicht“,
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Eines
Tage, bei Bora, erschloss sich mir plötzlich folgender Sinn: selbst
beschlossener
Zwiespalt! Die Menschen nennen vieles Sünde: ich, der kecke Atheist, in der
Pubertät, der bei Mondschein über den Karst dahinbrauste, wollte das
Böse bloß
als Schatten des Hochseligen erfasst haben.
Einmal
auf einem Maskenball (ich selbst trug die Larve) sagte ich mir: das Leben ist
nicht bloß gewollte Askese oder Zwang, Pflicht der Sonne gegenüber,
damit
wir
uns zum Hochgestirn emporranken können, und die Erde nicht bloß
Feindin,
bestenfalls Vagina und Grab. Als Wirksamkeit ging mir auf: das Leben verlangt
Fülle, die Geschöpfe dürfen göttlich emporjubeln.
Ich lief aus dem Saal, auf
die Straße. Ich fühlte glücklich, die Erde birgt in sich noch viel
Sonne, die
mit uns, gegen die Schwere verbunden, selbst wieder zur Sonne zurück
will.
Überall. Sogar im Eis. Gerade dort, an den Polen, wo die Nacht am
tiefsten, am
längsten, besonders mächtig! Eine leuchtende Umschlingung von erlöster
Sonne
aus der Erde und himmlischer Sonne bringt den monatelangen Nächten um
die Pole
das Polarlicht. Die Erde sehnt sich, wie ein leuchtender Stern zu
werden. Meine
Privatkosmologie hatte ihre Ergänzung erhalten!
Diese
Idee von der Nordkrone ließ mich nicht mehr los. Schnell wusste ich,
dass sie
eigentlich in uns Wunsch, Freude, Glück, Vertrauen sein konnte. Der
Grund dazu
lag für mich, ich sahs geradezu, in der Erde. Vielleicht in einem
feuerflüssigen noch sonnenähnlicheren Innern! Das Lichterziel, die
leuchtenden
Kränze um die Pole wurden mir zum Sinnbild von Geschichte aus innerstem
Geschehen. Ich erlebte einen Nordschein der Seele; was da vorging,
verdunkelte
alles am Tage Geschöpfte. Die Sonne verfinstere sich mir. In meinen
Nächten
dämmerte das Vertrauen zu einer letzten, zu einer mittleren Sonne.
Nordlicht
kann uns den Weg zu ihr weisen: es nähert uns dem Urlicht.
Von dem stammen wir
Menschen, die alle sichtbaren Sonnen beschlossen, erwogen, zu ihrer Tag
gemacht
haben, ab. Ich scheute mich, in meinen naiven Atheismus nunmehr einem
himmlischen Glauben an Hierarchien und überirdische Geistigkeit
anzuvertrauen.
Der Sprung ins Religiöse war aber dennoch ein Entschluss! Ganz kindlich
wollte
ich alle Bekannten umarmen, ihre Seelen als Wege zum Norden aller
Völker
ansehen. Also wiederum in Menschen: als Erwühler des Urlichts
gleichwertig! Oft
hatte ich geheim, vor mir selbst verschlossen, gebetet, nun gestand ich
mir
Beten zu. Durch das Nordlicht bekam mir unser Geschlecht seine
Freiheit. Jeder
Mensch, sagte ich mir, benützt sie zur Wahl einer Vision: jeder einzelne kann
auch bestimmen, wo und wann er geboren werden will. Wir sind
nicht bloß
Untertanen einer sichtbaren Sonne!
Folgendes
aber bleibt die Aufgabe des Menschen: Wir verkünden: die Zukunft der Erde durchs
Nordlicht zu
erfüllen!die Erde wird wieder leuchtend werden, aber die Völker
sind verantwortlich, dass dieser Stern, der ein dunkler ist, einst der
aller
hellste sei. Nicht ein Durchgangsplanet, sondern das Feld unsrer
heiligsten
Aufgabe ist von nun an unser strahlender Zukunftsstern. An den Polen
versucht
es die Erde schon wieder, wiederholt aufzuleuchten. In strengen Seelen
glüht
der Beruf, im Menschen das Urlicht zu ergründen. Denn der Mensch birgt
der
Erleuchtung: in uns wird Zeugnis fürs erste Licht abgelegt werden; im
Kosmos
geschieht‘ s durch den Nordschein. Noch bevor auf dem Planeten unsre
Aufgabe
erfüllt ist, steht es geistig fest, dass alle Sterne von der Erde
bewegt
werden, sich um sie, als ihren geistigen Mittelpunkt, schmiegen. Denn
aus dem
Menschen wird die Ursonne hervorstrahlen.
Daher fasste ich schon damals das
Leben als keine persönliche Angelegenheit auf, sondern jedem Dasein
musste,
davon war ich überzeugt, eine überpersönliche Aufgabe mitgegeben sein.
Wir
sollten hier nicht bloß lernen, sondern es bleibt unsre Pflicht, die
Erde zu
sich, das heißt, zu ihrem eigentlichen Licht zu bringen. Sie wird
brennen,
ihren feurigen Kern zur leuchtenden Schale hervordämmern lassen. Die
Erde, eine
dunkle Frucht, keimt bereits empor in eine Welt des erblühenden
Lichtes.
Religionen erglimmen, um Völker im inner‘n Feuer umzugebären. Wir sind
dafür
verantwortlich, dass überall, aus allem Tun und Geschehen, das Licht
der Hilfe
ersprieße. Keine Verkettung im Dasein: Ursprünglichkeit! Das ist die
Auferstehung des Fleisches!
Oft
kam mir‘ s vor, durch das metaphysische Erfassthaben der Idee
„Nordlicht“
müsste es gelingen, hermetische Türen zu sprengen, damit Urlicht sich
in die
Schöpfung verströmen könne. Einmal, beim Schauen des Reigens hehrer
Sternenbilder, glaubte ich auch, mir den Zusammenhang aller
Bekenntnisse deuten
zu dürfen.
Indien
nannte ich das Gewissen der Tropen; alle Pflanzen, Tiere, Menschen sind
dort
zutiefst aufgewühlter Tribut der Erde: Opfer an die Sonne. Durch
diese Wesen
ist aber auch der Boden locker geworden, sodass Urlicht, polar nach
Norden und
Süden, aus dem Menschen herausstrebend, uns, durch seelisch
aufgebrachte
Freiwilligkeit, ins Sonnige hineinzugedeihen befähigt. Die sichtbare
Aufforderung dazu, die planetarischen Beispiele bieten, wie gleich
einzusehen
ist, Süd- und Nordlicht. Soviel über der Tropen Lebenskraft. Des Inders
Seele
aber will die Erde durch die Beruhigung in seiner Seele, im Urlicht, im
Ewig-Ungebornen verankern. Wo die Natur am üppigsten, wie im Sturme,
aus dem
Boden emporsteigt, findet der Mensch den Frieden: und bringt ihn auch. Seiner
lebendigst entzündeten Kulturfantastik tritt die Stille des Einzelnen
entgegen: sonst bräche die
Welt zusammen. Sonnenergebenheit, Sonnenopfer, Leben nach
Sonnengeheiß, alles Sonnentum im Irdischen zeitigt Schicksal.
Unausweichliches: die
Kulissen des Karma lassen uns erschaudern. Doch, wir sagten es
schon, des
Tropenwaldes Sonnensturm, des südlichen Tieres Sonnentoben, des
religiös
entzündeten Menschen Sonnenerhobensein wird im allgemeinen
Weltgeschehen durch
das Brunnensuchen in der Seele bei den Edlen unter den Hindus
besänftigt. In
Freiheit schwebt ihre Seele: ein
Leichtsein hebt den Schwerpunkt der Welt auf.
Dadurch bleibt der Mensch mit seiner Schöpfung, der Erde, in den uns
beschiedenen Maßen und Bahnen des Kosmos. Des Inders Geist ist der Tod
der
Tropen.
Auf
von Indien, in magischer Verzücktheit, bricht der Genius der
Geschichte! Jedes
Land hat seine Sendung: jedes
Volk erklimmt das ihm zugedachte Land, um des
Bodens Aufgaben zu überdauern. Irgendeinmal entsteht in Indien
der Entschluss,
sich selbst mit der eignen überirdischen Belastung zu verpflanzen, von
einem
Gedankengang verschleppen zu lassen.
Über
Irans sternwärts gerichtete Höhen
geht’s nordwärts: in der
Spirale, künftigen weiterklimmenden Völkern zu. Jesus
Christus erschließt uns die neue Aufgabe: das, was in uns gekommen ist,
unsre
vorgeburtliche Unvollkommenheit, als Kreuz, in diesem Leben auf uns zu
nehmen: die eignen Leiden in
heiligen Gemeinschaften auszudulden. Er wirbt um die Höhe
aller Bekenntnisse und bringt sie uns, wo er Pfingsten vorbereitet. Das
Fest im
Geist! Des Urlichts Ausbruch aus der Natur kann uns, auf der nordwärts
gerichteten Heimreise, zum Ruhepol in uns, immer zu einem
überraschenden
Feiertag werden. Pfingsten erfüllt und erwartet den
Nordwärts-Schreitenden. Den
Nordwärts-Denkenden. Den, der den Norden erleidet.
Solches
schaute ich von nun an immer wieder. Ich hielt aber im Grunde nichts
von dem
Gesicht, weil nicht von mir. Ein paar Gedichte schrieb ich wohl in
größter
Traurigkeit, zerriss sie jedoch oder zeigte sie keinem. Ich hoffte
vielleicht
dereinst Maler werden zu können.
Doch
einmal erzählte ich einem Altersgenossen etwas vom Nordlicht, und er
ermunterte
mich, die Geschichte zu verdichten: lange zweifelte und zauderte ich.
Endlich,
in Neapel, drängten sich solche Visionen bidlhaft klar, blumenmäßig und
feurig
vor: ich schrieb. Plötzlich
erfasste ich den Plan zum Werk.
Autobiografisch
sollte der erste Teil sein: ein
Sonnenpilgertum, das Eigne, in ihm gefasst
werden. Erlebtes in Verdichtungen wollte ich um mein Eigen-Ich
stellen!
Allerdings musste schon der erste Teil entschieden gleichnishaft zum
zweiten
hinüberleiten!
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"Selbstdeutung" aus:
Theodor Däubler, Das Nordlicht, Erstes Buch, Seite 1-40,
Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig, Genfer Ausgabe, Insel
Verlag, Leipzig 1922
Reprint: Arno-Schmidt-Referenzbibliothek
der GASL
Logo 336: "Die Planeten" G. Holst, 1995, autor Zoro
Mettini
Lizenz:
CCO 1.0 Public Domain Dedication
Universelle
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Bild:
Portrait Theodor Däubler -
gemeinfrei
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