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Geschichten
Kurt
Tucholsky
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Gruß
nach vorn
Lieber
Leser 1985 –!
Durch
irgendeinen Zufall kramst du in der Bibliothek, findest die „Mona
Lisa“, stutzt
und liest. Guten Tag.
Ich
bin sehr befangen: du hast einen Anzug an, dessen Mode von meinem
damaligen
sehr absticht, auch dein Gehirn trägst du ganz anders … Ich setze
dreimal an:
jedes Mal mit einem andern Thema, man muss doch in Berührung kommen …
Jedes Mal
muss ich es wieder aufgeben – wir verstehen einander gar nicht. Ich bin
wohl zu
klein; meine Zeit steht mir bis zum Halse, kaum gucke ich mit dem Kopf
ein bisschen über
den Zeitpegel … da, ich wusste es: du lächelst mich aus.
Alles
an mir erscheint dir altmodisch: meine Art, zu schreiben und meine
Grammatik
und meine Haltung … ah, klopf mir nicht auf die Schulter, das habe ich
nicht
gerne. Vergeblich will ich dir sagen, wie wir es gehabt haben, und wie
es
gewesen ist … nichts. Du lächelst, ohnmächtig hallt meine Stimme aus
der
Vergangenheit, und du weißt alles besser. Soll ich dir erzählen, was
die Leute
in meinem Zeitdorf bewegt? Genf? Shaw-Premiere? Thomas Mann? Das
Fernsehen?
Eine Stahlinsel im Ozean als Halteplatz für die Flugzeuge? Du bläst auf
alles,
und der Staub fliegt meterhoch, du kannst gar nichts erkennen vor
lauter Staub.
Soll
ich dir Schmeicheleien sagen? Ich kann es nicht. Selbstverständlich
habt ihr
die Frage: „Völkerbund oder Paneuropa?“ nicht gelöst; Fragen werden ja
von der
Menschheit nicht gelöst, sondern liegen gelassen. Selbstverständlich
habt ihr
fürs tägliche Leben dreihundert nichtige Maschinen mehr als wir, und im
übrigen
seid ihr genau so dumm, genau so klug, genau so wie wir. Was von uns
ist
geblieben? Wühle nicht in deinem Gedächtnis nach, in dem, was du in der
Schule
gelernt hast. Geblieben ist, was zufällig blieb; was so neutral war,
dass es
hinüberkam; was wirklich groß ist, davon ungefähr die Hälfte, und um
die
kümmert sich kein Mensch – nur am Sonntagvormittag ein bisschen, im
Museum. Es
ist so, wie wenn ich heute mit einem Mann aus dem Dreißigjährigen Krieg
reden
sollte. „Ja? Geht‘s gut? Bei der Belagerung Magdeburgs hat es wohl sehr
gezogen
…?“ und was man so sagt.
Ich
kann nicht einmal über die Köpfe meiner Zeitgenossen hinweg ein
erhabenes
Gespräch mit dir führen, so nach der Melodie: wir beide verstehen uns
schon,
denn du bist ein Fortgeschrittener, gleich mir. Ach, mein Lieber:
auch du
bist ein Zeitgenosse. Höchstens, wenn ich „Bismarck“ sage und du dich
erst
erinnern musst, wer das gewesen ist, grinse ich schon heute vor mich
hin: du
kannst dir gar nicht denken, wie stolz die Leute um mich herum auf
dessen
Unsterblichkeit sind … Na, lassen wir das. Außerdem wirst du jetzt
frühstücken
gehen wollen.
Guten
Tag. Dies Papier ist schon ganz gelb geworden, gelb wie die Zähne
unsrer
Landrichter, da, jetzt zerbröckelt dir das Blatt unter den Fingern …
nun, es ist
auch schon so alt. Geh mit Gott, oder wie ihr das Ding dann nennt. Wir
haben
uns wohl nicht allzuviel mitzuteilen, wir Mittelmäßigen. Wir sind
zerlebt,
unser Inhalt ist mit uns dahin gegangen. Die Form war alles.
Ja,
die Hand will ich dir noch geben. Wegen Anstand.
Und
jetzt gehst du.
Aber
das rufe ich dir noch nach: Besser
seid Ihr auch nicht als wir und die vorigen.
Aber
keine Spur, aber gar keine –

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Inhaltsverzeichnis
Seite 7
Vision / Die brennende Lampe
Seite 8
Der Floh
/ Der fromme Angler
Biografie
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