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Literatur



04.7



Gedichte
Jahreswechsel

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Neujahrsgruß

Ans Tor des Türmers hab ich heut’
Gepocht mit lautem Rufen:
„Komm, führe mich vor Mitternacht
Zum Turm hinauf die Stufen!
Denn ein Gelüsten treibt mich heut’,
Mit mächtig hallendem Geläut
Die Welt zu meinen Füßen
Zu grüßen.“

Und an des Alten Seite stumm
Bin ich emporgestiegen.
Tief lag die Erde schneeverhüllt,
Geruhig und verschwiegen.
Die weite Stadt – ein Lichtermeer!
Das blinkte hold von unten her
Wie gold’nes Sterngewimmel
Vom Himmel.

Und oben hab’ ich tiefen Zugs
Den Hauch der Nacht getrunken;
Berauscht von tausend Bildern, ist
Mein Geist in sich versunken –:
Jed’ Licht dort unten schien ihm da
Ein Auge, das ins Ferne sah,
An Tagen, die vergangen,
Zu hangen.

 Und jeder Blick erspähte bald
Aus grauem Nebeldampfe
Ein eignes und besondres Bild
Vom ewigen Erdenkampfe.
Wie manche leise Träne rann,
Wie manches feste Herz begann
In still erneuten Fluten
Zu bluten! …

Hob sich aus fernem Dunkel nicht
Hier – dort – ein Totenhügel?
Flog nicht ein freundlich Antlitz her
Auf traumbewegtem Flügel?
O ja, in stiller Neujahrsnacht
Der Toten wird zuerst gedacht,
Der Lieben, die im Hafen
Nun schlafen.

Doch mehr als Tod ist Lebensnot –
Horch, horch – in mancher Kammer
Gellt jäh durch die Erinnerung
Ein lauter, wilder Jammer!
Ein nie verglomm’nes Weh entfacht
So manchem diese stille Nacht,
Dem alles, was er träumte,
Zerschäumte.

Und ewig Kampf und ewig Streit
Mit Leiden und Gefahren,
Mit Elend, Krankheit, Lug und Trug
Seit tausend, tausend Jahren!
Und war’s ein Jahr des Glücks vielleicht,
So hat’s uns doch das Haar gebleicht,
So ist es doch verronnen –
Zerronnen –

Wir kämpfen mit der Nagerin,
Der Zeit, der nimmermüden –
Still! War mir’s doch, als ob zur Lust
Von fern Gesänge lüden –
Fürwahr: ein leises Kling und Klang …
Zum Mund mit Jubel und Gesang
Den Trank voll Glut und Leben
Sie heben! …

Ja! Eine Freudensonne glüht
Inmitten wilden Krieges:
In allen edlen Herzen ist’s
Die Zuversicht des Sieges!
Doch wo das Schwert, das ihn erwirbt,
Das jeden Höllengeist verdirbt?
Wo glänzt die blanke Wehre,
Die hehre?

Nun Mitternacht! – Da ließ ich weit
Die Glocke donnernd schwingen,
Und meine Seele schrie hinein
Mit Beben und mit Klingen:
Sie soll uns Schwert des Lichtes sein,
Die reine Siegerin allein
In Nacht- und Sturmgetriebe:
Die Liebe.

Otto Ernst


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 Sylvester 1919

Auf den Kehricht, Jahr des Jammers!
Jahr des Fäulnis, auf den Mist! –
das des fluch geschwungnen Hammers
stumpfer Block gewesen ist.
In das Dungloch der Historie,
wo der Glanz der Talmiglorie
ewigen Abscheus Rost zerfrisst!

 Aus den Grüften tiefster Nöte
leuchtend stieg empor das Jahr,
das dem Volk die Morgenröte
nach des Schiffbruchs Ängsten war.
Menschen, jubelnd mit Gesängen
flutetet in frohem Drängen
zu der Freiheit Hochaltar.

 Ach, der Freiheit rotes Laken
war gestohlenes Ornat.
Hinter holden Worten staken
Meuchelmord und Volksverrat.
Fromme Sehnsucht brach in Stücke.
Aus den Trümmern hob in Tücke
neu sich der geborstne Staat.

 Neunzehnhundertneunzehn, scheide!
Wenig Liebe folgt dir nur.
Ungezählte falsche Eide
zeichnen deine Daseinsspur.
Doch aus Grabgebeinen knöchern
und aus dumpfen Kerkerlöchern
dröhnt dir nach ein wahrer Schwur:

 Auf den Kehricht, Jahr der Schande!
Und das neue trete vor!
Aber keine Festgirlande
schmücke ihm das Einfahrtstor.
Eh wir wieder Fahnen schwenken,
lasst uns erst an Rache denken.
Dann das rote Tuch empor!

Erich Mühsam
 
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 Silvesternacht

Und nun, wenn alle Uhren schlagen,
So haben wir uns was zu sagen,
Was feierlich und hoffnungsvoll
Die ernste Stunde weihen soll.

 Zuerst ein Prosit in der Runde!
Ein helles, und aus frohem Munde!
Ward nicht erreicht ein jedes Ziel,
Wir leben doch, und das ist viel.

Noch einen Blick dem alten Jahre,
Dann legt es auf die Totenbahre!
Ein neues grünt im vollen Saft,
Ihm gelte unsre ganze Kraft!

Wir fragen nicht: Was wird es bringen?
Viel lieber wollen wir es zwingen,
Dass es mit uns nach vorne treibt,
Nicht rückwärts geht, nicht stehen bleibt.

Nicht schwächlich, was sie bringt, zu tragen,
Die Zeit zu lenken, lasst uns wagen!
Dann hat es weiter nicht Gefahr.
In diesem Sinne: Prost Neujahr!

Peter Schlemihl

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Gedicht: "Neujahrsgruß, Otto Ernst, aus: Siebzig Gedichte,
S. 48-50, ED: 1907, Verlag L. Staackmann, Leipzig

Wikisource

Gedicht: "Sylvester 1912", Erich Mühsam, aus Brennende Erde,
Verse eines Kämpfers, S. 92-93.
ED: 1920, Kurt Wolff-Verlag, München

Wikisource

Gedicht: "Silvesternacht, Ludwig Thoma unter Pseudonym
Peter Schlemihl, aus: Zeitschrift Simplicissimus, ED: 30. Dez. 1912,
Verlag Albert Langen, München

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R. Guggenheim Museum, 
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