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Literatur


04.7



Gedichte - Mai

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 Maimorgengang

                                                                                         So die bluomen ûz dem grase dringent,
                                                                                         same sie lachen gegen der spilnden sunnen
                                                                                         in eime meien an dem morgen fruo,
                                                                                         und diu kleinen vogellîn wol singent
                                                                                         in ir besten wîse die sie kunnen,
                                                                                         waz wünne mac sich da genôzen zuo?
                                                                                         ez ist wol halb ein himelrîche.

                                                                                                  Walther von der Vogelweide.


Maimorgengang, o still Entzücken:
Der Äther strahlt im reinsten Blau
Und bräutlich will der Wald sich schmücken
Mit zartem Grün und Silberthau.

Mit weichem träumerischem Schläfern
Strömt rings ein lauer Frühlingsduft,
und mit den Faltern und den Käfern
Durchfliegt ein Blüthenschnee die Luft;

 Die Halden blühn, die jüngst noch dorrten:
 Sieh! es ist Alles neu geworden.

Erneut im Licht! so will’s des Lebens
Gesetz, das allen Stoff durchkreist,
Ahriman’s Winter droh’n vergebens,
Der Sieg verbleibt dem guten Geist.

Sein weltverjüngend Maienwunder
Weckt Saft und Farbe, Ton und Klang,
Drum schallt von allen Wipfeln munter
Der Nachtigallen Lobgesang.

Sie jubeln feiner denn in Worten:
Sieh! es ist Alles neu geworden.

Im Kies verstrüppter Uferdämme
Schleicht heut mein Pfad feldaus waldein,
Da spiegeln wilde Birnbaumstämme
Mit Ulm und Esche sich im Rhein.

Auch ihn erfreun des Maien Wonnen,
Sein Schuppenvolk taucht wohlig vor,
Der Aal kommt schlängelnd sich zu sonnen,
Lautplätschernd schnalzt der Hecht empor,

Und murmelnd trägt’s die Fluth gen Norden:
Sieh! es ist Alles neu geworden.

Gekränktes Herz, wozu dein Härmen?
Streif’ ab den fleckendunkeln Rost,
Laß Dich von diesen Lüften wärmen
und schöpf’ aus dieser Landschaft Trost:

Kein Leid, kein Groll darf allzeit dauern,
Es kommt der Tag, da Alles grünt,
Da Kränkung, Schuld und herbes Trauern
In goldner Sonne Strahl sich sühnt.

Auch im Gemüth, wie allerorten,
Sieh! ist dann Alles neu geworden.

Und ruht im kühlen Schoß der Erde
Von allem Schmerz Dein sterblich Theil,
Getrost, getrost! ein kräftig „Werde!“
Beruft Dich einst zu bess’rem Heil.

Aus ird’schen Stoffs und Grams Verzehrung
Reift unsichtbar ein frischer Keim,
Den eines andern Mai Verklärung
Zur Blüthe bringt in anderm Heim.

Dort rauscht’s in höheren Accorden:
Sieh! es ist Alles neu geworden.

Am Rhein bei Dettenheim, den 1. Mai 1869.

Victor Scheffel




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Textgrundlage: Maimorgengang, Joseph Victor von Scheffel,
aus: Die Gartenlaube,
Herausgeber: Adolf Kröner, ED: 1869,
Verlag Ernst Keil’s Nachfolger, ‚EO: Leipzig

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of Fine Arts (USA)

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