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Literatur


04.7





Gedichte - Herbst

18. Jahrhundert

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 Der Herbst

Des Frühlings Sänger sind entflohn,
Auch Freundin Flora ist von uns gewichen,
Den fernen Wüsten klagt sie schon,
Dass gestern noch ihr jüngstes Kind erblichen.

Schon rauscht der Nord mit raschem Fuß
Durch Feld und Wald, den Aufenthalt der Weste,
Bedeckt mit dürrem Laub den Fluss,
Und störet wild der Hirten Freudenfeste.
 
Beraubt des Schmucks ist jede Flur,
Die Freude stirbt auf blumenleeren Wegen,
Und mütterlich beut die Natur
Mit grauem Haar uns schon den letzten Segen.
 
Bald schlummert sie, und bald verhüllt
Der Winter sie im ernsten Flockenkleide,
Ach! bald ist sie des Todes Bild,
Ein ödes Grab die holde Blumenweide! –
 
So komm dann, kleines Saitenspiel,
An der verwaisten Buche sollst du trauern,
Das letzte Laub, das ihr entfiel,
Mit einem leisen Seufzer auch bedauren.
 
Dort klage, bis der Lenz beginnt,
Bis Zephyrs Hauch die jungen Veilchen wecket,
Zum lauen Bach das Eis zerrinnt,
Die Liebe sich im Rosenhain verstecket.

Doch feige Toren klagen nur,
Entflieht das Glück mit seinen Flittergaben:
Ein Hirte sucht der Freude Spur,
Wie tief sie auch der Winter mag vergraben.
 
Der Musen edelstes Geschenk
Soll Unmut nicht, und Klageton entweihen,
Entflohner Freuden eingedenk,
Will ich die Winterflur mit Blumen streuen.
 
Was ist der Feen Wunderstab,
Was ist er sonst als diese Dichterleyer,
Die uns die holde Muse gab,
Und in der Brust dies schöpferische Feuer?

Die Fee spricht: es türmt ein Schloss
Aus düstern Sümpfen sich in stolze Höhen,
Sie wills: es reisst ein Fels sich los,
Sie winkt dem Berg, und sieht ihn vor sich stehen.
 
Der Dichter spricht: der Winter flieht,
Der Lenz erwacht aus seinem Grabe wieder,
Ihm singt der Hain sein Feierlied,
Ihm fährt der Mai, so bald er will, hernieder.

Er hilft in Cypris Myrthenhain
Den Grazien die ersten Rosen brechen.
Auch schafft er Götter groß und klein,
Fährt zum Olymp, und trinkt aus Nektarbächen.
 
Und was er sonst für Wunder schafft; –
Die härtsten Steine weiß er zu beseelen –
Doch lasst die hohe Schöpferkraft
Der kleinen Hirtenleyer immer fehlen:
 
O, zaubert sie an meinen Herd
Zufriedenheit und unschuldsvolle Freude
Mit, eurem Gold, was seid ihr wert,
Ihr Indien! besitz ich diese beide?

Karoline Christiane Louise Rudolphi
 

oben

 Herbstlied

Feldeinwärts flog ein Vögelein
Und sang im muntern Sonnenschein
Mit süßem wunderbaren Ton:
Ade! ich fliege nun davon,

Weit, weit,
Reis’ ich noch heut.

Ich horchte auf den Feldgesang,
Mir ward so wohl und doch so bang,
Mit frohem Schmerz, mit trüber Lust
Stieg wechselnd bald und sank die Brust,

Herz, Herz,
Brichst du vor Wonn’ oder Schmerz?

Doch als ich Blätter fallen sah,
Da sagt’ ich: ach! der Herbst ist da,
Der Sommergast, die Schwalbe zieht,
Vielleicht so Lieb’ und Sehnsucht flieht

Weit, weit,
Rasch mit der Zeit.

Doch rückwärts kam der Sonnenschein,
Dicht zu mir drauf das Vögelein,
Es sah mein tränend Angesicht
Und sang: Die Liebe wintert nicht,

Nein! nein!
Ist und bleibt Frühlingsschein!

Ludwig Tieck

oben



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Textgrundlage: "Der Herbst", Karoline Chr. L. Rudolphi, 1775, aus: Gedichte, S. 64-67,
Herausgeber Johann Friedrich Reichardt, 1. Auflage,
ED: 1781,
Verlag: In Commission bei August Mylius, Berlin

Wikisource

Textgrundlage: "Herbstlied", Ludwig Tiecke, aus: Friedrich Schiller, Musen-Almanach für das
Jahr 1799, S. 26-27, Herausgeber Friedrich Schiller, 1. Auflage, ED: 1799, Verlag J.G. Cotta, Tübingen.

Wikisource

Logo 56: "Gebirgslandschaft mit Regenbogen", Friedrich Casper David - 1910,
Museum Folkwang, Essen,  gemeinfrei

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