Naturalismus 1890 - 1910
Geschichte
Schon
im 18. Jahrhundert wurde Jean-Jacques Rousseaus „Zurück zur Natur“ als
Naturalismus bezeichnet. Der Naturalismus des 18. Jahrhunderts fordert
den unverbildeten Künstler („Als Sänger ist er Naturalist“ hieß: Er hat
nie akademischen Gesangsunterricht genossen.), während der Naturalismus
des späteren 19. Jahrhunderts den Experten als Naturbeobachter
voraussetzt. Dem älteren wie dem neueren Naturalismus gemeinsam ist das
Bemühen, dem Ungeschliffenen, Unterprivilegierten, „Hässlichen“ einen
Platz in der Kunst zu verschaffen.
Ende
des 19. Jahrhunderts prägten große gesellschaftliche Veränderungen
Europa: Die Industrialisierung, der Imperialismus, die Verstädterung,
wobei durch letztere Armut und Elend in konzentrierter Form beobachtet
werden mussten. Auf diesem Boden entstand der Naturalismus.
Naturalistische Künstler behaupten, die Wirklichkeit möglichst genau
darzustellen, und arbeiten mit exakten, gleichsam
naturwissenschaftlichen Methoden. Diese Wissenschaftlichkeit berechtigt
und verpflichtet sie, auch das Hässliche und Verdrängte abzubilden.
Émile Zola orientierte den literarischen Naturalismus in seiner Schrift
Le roman expérimental (1880) an der experimentellen Medizin. In seinen
Romanen entwickelte er „dokumentarische“ Erzählformen wie den
Sekundenstil oder die akribische Beschreibung von Räumen, um ein
soziales Milieu zu charakterisieren. Ein Hauptwerk des literarischen
Naturalismus ist Zolas Romanzyklus Les Rougon-Macquart.
Die
führenden deutschen Dramatiker des Naturalismus waren Gerhart Hauptmann
mit den Dramen Vor Sonnenaufgang (1889) und Die Weber (Originaltitel
„De Waber“, 1892), in dem zum Beispiel Manufaktur-Arbeiter als
tragische Figuren erscheinen, und das Autorenpaar Arno Holz und
Johannes Schlaf mit dem bahnbrechenden Drama Die Familie Selicke
(1890). Johannes Schlaf schrieb das streng naturalistische Drama
Meister Oelze (1902) im thüringischen Dialekt.
Zum
Naturalismus im Theater gehören neben der entsprechenden Textvorlage
auch die Spielweise der Schauspieler und die Einrichtung und
Beleuchtung der Bühne. In Russland prägte sich unter dem Einfluss des
französischen und des deutschen Naturalismus sowie der „Meininger“
Theatertruppe, die sich um historisch getreue Theateraufführungen
bemühten, ein naturalistischer Schauspielstil aus. Konstantin
Stanislawski, der modellhafte Inszenierungen von Tschechows Dramen
schuf, gilt als sein Begründer.
Naturalismus
und Moderne
Der
Naturalismus prägte in Deutschland den Begriff der Moderne. „Moderne“
wurde aus dem Adjektiv „modern“ abgeleitet, das bereits in der
Frühromantik bei Schlegel auftaucht. Die substantivierte Form „Die
Moderne“ wurde, als Kontrastbegriff zu „die Antike“, von dem
Germanisten Eugen Wolff im Jahre 1886 im Rahmen eines Vortrages in dem
deutschen Naturalisten-Club „Verein 'Durch!'“ eingeführt.
Ob
der Naturalismus den Beginn der literarischen Moderne bedeutet, ist
nicht so leicht zu beantworten. Einerseits ist er wegweisend für die
thematische Behandlung sozialer Probleme der modernen Großstadt und
bricht außerdem mit sämtlichen Poetiken, nach denen der Mensch als
autonomes Wesen gedacht wird. Aber auf der anderen Seite stützt sich
der Naturalismus auf den Gedanken von der Erkennbarkeit der Welt durch
die materialistisch-positivistischen Wissenschaften seiner Zeit, ist
also wissenschaftshörig.
Aber
diese angebliche Objektivität der Wissenschaften gerät ab 1890 immer
mehr unter Beschuss: Sigmund Freud entdeckt das Unbewusste im angeblich
rational bestimmten Individuum, Albert Einstein verweist auf die
Subjektivität von Zeit und Raum, Hofmannsthal formuliert ein virulentes
Misstrauen in menschliches Ausdrucksvermögen (Sprachkrise). Insofern
erscheint es ratsam, den Beginn der Moderne erst mit dieser
Krisenkonstatierung beginnen zu lassen, mit der Einsicht, dass es keine
objektiv realisierbare Wirklichkeit gibt, sondern lediglich
Subjektivität in der Weltanschauung. In dieser Folge können die vielen
Ismen des frühen 20. Jahrhunderts als Ausdrucksversuche gelten, dem
individuellen – nicht länger allgemeinen – Wahrnehmen Ausdruck zu
verleihen.
Bereits
um 1890 verlor der Naturalismus an Einfluss. Doch die sozialen Themen,
die er literaturfähig gemacht hatte, die Präzision der Darstellung und
die Verwendung der Umgangssprache zur Charakterisierung sozialer
Schichten behielten in neuen Ausprägungen ihre Bedeutung.
Kennzeichen
des Naturalismus
Der
Naturalismus ist eine gesamteuropäische literarische Strömung der
letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Impulse für die deutschen
Autoren kommen aus den psychologischen Romanen Iwan Sergejewitsch
Turgenews, Lew Nikolajewitsch Tolstois und Fjodor Michailowitsch
Dostojewskis, aus den sozialen „Experimentalromanen“ Zolas sowie den
gesellschaftskritischen Dramen Henrik Ibsens und August Strindbergs.
Der
Naturalismus versteht sich als literarische Revolution, weil er mit dem
Tradierten bricht und den (poetischen) Realismus überwindet, weil er
auf dessen verklärende Tendenzen verzichtet ebenso wie auf die Deutung
der Wirklichkeit durch den Dichter.
Die
naturwissenschaftlich exakte Gestaltung der empirischen Wirklichkeit
gilt als Ideal. Die Welt wird untersucht und naturgetreu,
wissenschaftlich exakt abgebildet. Die Kunst ist der Rationalität,
Kausalität, dem Determinismus und der Objektivität verpflichtet, auf
Subjektivität und Individualität des Dichters gilt es zu verzichten.
Charakter
und Schicksal des Menschen werden durch die historische Zeit, in der er
lebt, das psychische Erbgut sowie das Milieu determiniert gesehen (vgl.
Karl Marx, Auguste Comte, Hippolyte Taine und Charles Darwin).
Die
soziale Thematik, die Darstellung sozialer Not äußert sich weniger als
sozialpolitischer Kampf mit parteipolitischer Bindung, sondern eher als
eine Art soziales Mitgefühl am Beispiel gesellschaftlicher Außenseiter
im Geflecht von Großstadt (Anonymität, Entindividualisierung) oder
moderner Technik.
Das
soziale Drama stellt Charaktere in den Vordergrund, in ihrer
Bedingtheit durch Milieu und Vererbung, wobei die wenigen handelnden
Figuren durch detaillierte szenische Anmerkungen und Regieanweisungen
geleitet werden.
Gegen
alle Konventionen des Verses und der Strophe, gegen Tradition und
Epigonentum in Thematik und im Formalen wendet sich die „Revolution in
der Lyrik“ (Arno Holz) und orientiert sich stattdessen an einer
Prosalyrik, die einem natürlichen Rhythmus gehorchen soll.
Besonders
konsequenter Naturalismus findet sich im so genannten „Sekundenstil“.
Dabei gilt es, jedes noch so banale Detail geradezu protokollarisch
festzuhalten, dem natürlichen Sprechen möglichst nahe zu kommen
(Stottern, Stammeln, Dialekt, Ausrufe, unvollständige Sätze,
Atempausen, Nebengeräusche …), um dadurch mehr vom Milieu zu zeigen und
zu vermitteln als über Raumbeschreibungen.
Assoziative
Motivverknüpfungen lassen vielschichtige Sinnebenen entstehen (vgl. die
Montagetechnik Alfred Döblins).
Die
den Naturalismus ablösenden Kunstströmungen (Impressionismus,
Symbolismus, Expressionismus) bedienen sich ob der modernen komplexen
Welt differenzierterer, verfremdender Ausdrucksmittel statt des
begrenzten Zugriffs der bloßen Wirklichkeitsabbildung.
Kunst
= Natur - x (von Arno Holz definiert), wobei x die künstlerischen
Reproduktionsmittel und deren Handhabung durch den Künstler sei und
möglichst minimal gehalten werden soll, um die Differenz zwischen Kunst
und Natur klein zu halten. Da das x jedoch niemals verschwinden kann,
hat die Kunst nur „die Tendenz, wieder die Natur zu sein. Sie wird sie
nach Maßgabe ihrer jeweiligen Reproduktionsbedingungen und deren
Handhabung.“
Verwendung
der „phonografischen Methode“, welche, um das natürliche Sprechen
wiederzu- geben, folgende Mittel aufnimmt:
Dialekt
(geografische Ausdrucksweise)
Soziolekt
(schichtspezifische Ausdrucksweise)
Psycholekt
(situationsbedingte Ausdrucksweise)
Idiolekt
(individuelle Ausdrucksweise)
Naturalismus als
Steigerung des Realismus
Während
im Realismus das Negative ästhetisch aufgehoben und zugunsten
einer höheren, idealen Idee exkludiert wird, zielt der Naturalismus
darauf ab, genau dieses Negative mit einzubeziehen und detailliert
wiederzugeben. Indem der Naturalismus seine Daseins- berechtigung aus
der
positivistischen Wissenschaftsgläubigkeit, der sozialen Vererbung des
Menschen im Milieu und hieraus seine „Berechenbarkeit“ als Massenobjekt
definiert sieht, wird das idealistische Element des Bürgerlichen
Realismus aus der Literatur verbannt. Der Realismus zeigt ein
anthropologisches Idealbild objektiver Autonomie, hingegen geht der
Naturalismus von der Milieuzugehörigkeit jedes Menschen und der
Erkennbarkeit/Berechenbarkeit menschlichen Verhaltens mittels der
Wissenschaften aus. Dichtung: phonografische Genauigkeit und
Sekundenstil.
Textgrundlage: wikipedia.org