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Literatur


04.2



Gedichte  - Friederike Brun





 Der Sonnenaufgang im Winter
 (1783)

Sonne komm hervor!
Sonne steig’ empor!
Sieh’, es neiget
Sich der Tanne Wipfel!
Sieh’ es beuget,
Halb im Schnee versteckt,
Halb im Morgenroth entdeckt,
Jedes Hälmchen seine Spitze dir!

Leise schwebt, wie nur der Geist empfindet,
Hauch der Liebe ungesehen,
Wie ein Kind der Mutter Arm umwindet,
Auf den kleinsten Hälmchen deines Athems Wehen!
Und es steigt empor zu Himmelshöhen
Leise das Erhaltungsflehen
Aller Creatur,
Und von der erstarrten Flur
Das Dankopfer der Natur!

Halb gesehn, und halb verschwunden,
Neigt, nach still durchwallten Stunden,
Cynthia ihr mattes Haupt;
Schön mit Rosen ihre Stirn’ umwunden,
Früh’ Aurorens Kranz geraubt.

Fliege schnell, wie sanfter Liebe Sehnen,
 Morgenroth! zum besten Vater hin;
Hin zur stillen Ruhestätte,
Wo, nach innigem Gebete,
Frohe Träume seine Stirn’ umziehn!

Und mit leisem, liebevollem Säuseln,
Wie dem Abendhauch sich Bäche kräuseln,
Sag’ ihm mit der Liebe Laut: Daß seine
Fern von ihm getrennte Tochter weine,
Daß sie nicht den heitern Morgengruß
Heut empfängt, und ihres Vaters Kuß.


oben

 Klage
(1785)

Deh! omai quest’ alma del suo velo sciolta,
Voli altrove a posar.
 FILICAJA.
 
Hingebeugt von bangem tiefem Sehnen,
Such’ ich, Einsamkeit, ach’! deinen Schoß.
Fließt, o fließt nun ungeseh’n, ihr Tränen!
 Herz! du bist jetzt deiner Fesseln los!
 
Hüllt mich ein, ihr nächtlich schwarzen Schatten;
Seufzend sucht euch mein beklommnes Herz!
Finstrer Hain, ihr stillen grünen Matten,
Nur bei euch ergieße sich mein Schmerz!

Ach! warum, warum bist du, o Seele,
Voll Gefühl, voll Lieb’ und voll Natur?
Ward, damit sie peinlicher dich quäle,
 Dir die Fülle der Empfindung nur;

Der Empfindung, die die Welt verkennet,
Die sie stolz verlachet, kalt verhöhnt;
Die empor zu reinen Sphären brennet,
Und nach einer Unschuld Welt sich sehnt?

Törichte! bist du genug geläutert,
Zu genießen bessrer Welten Glück?
Schwaches Herz! wie oft bist du gescheitert,
Wie umwölkt ist noch dein trüber Blick!

Ach! nicht rein genug für höhre Freuden,
Noch nicht reif zum seligern Genuss,
Ist dies Herz; geläutert erst durch Leiden,
Werd’ ich wert der Engelschwestern Gruß!









oben

_________________________
Textgrundlage: Friederike Brun, aus: Gedichte - Herausgeber:
Friedrich von Matthisson, ED: 1795, Verlag: Orell, Gessner,
Füssli u. Co., Zürch

"Der Sonnenaufgang im Winter"   "Klage"
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