Gedichte
Marie Eugenie Delle Grazie
Prolog
Du steinern Buch, darin in mächt’gen Zügen
Das hohe Lied der Weltgeschichte steht,
Mit ihren Kämpfen, ihren schönsten Lügen
Und ihrer Wahrheit herber Majestät;
Du
Marmorchronik, die noch im Zerfallen
Der Macht und Schönheit
stolze Sprache führt,
Du herrlichste Ruine unter allen,
Die je des Todes Flügelschlag berührt –
O Roma, Ew’ge du, so lange leben,
Erscheinen,
Ringen und Versinken heißt –
Wirst du dem kecken
Sängermut vergeben,
Wenn er am Flore deiner Trauer reißt?
Und dennoch! Wehen nicht die grünsten Ranken
Gerad von deinen Mauern ernste Stadt?
Die
Schwermut deiner traurigsten Gedanken,
Umschmeicheln sie
nicht prangend Blüt’ und Blatt?
Clematis wallt in Prachtguirlanden nieder,
Wo goldig einst des Cäsars Thron erglänzt,
Um öde Tempel duftet süß der Flieder
Und
selbst das Colosseum ward bekränzt –
O
Rom, du steinern
Buch voll Weltgedanken
Und
Weltleid – stolze Marmorchronik du –
Vignetten
gleich nur soll mein Lied umranken
Die
Schicksalshieroglyphen deiner Ruh’!
Mit elegischem Geflüster
Blickt vom öden Palatin
Eine einz’ge Pinie düster
Nach dem stillen Forum hin.
Oben
lien die Paläste
Der
Cäsaren all’ im Staub,
Unten
klagen Säulenreste:
Schändung,
Brand und Tempelraub.
„Oben
sank der Imperator,
Unten
stürzten Götter hin
Und
der Tod blieb Triumphator –“
Seufzt
der Baum am Palatin ...
Stachelfeigen und Kakteen
Prunken jetzt im Heiligtum
Cäsars, und die Palmen wehen
Kühlung in’s Triklinium.
Wo die Füße scheuer
Sklaven
Lautlos hin- und hergehuscht,
Haben Schlingkraut und Agaven
Nun den Mosaik umbuscht.
Eingesunken seine Thermen
Und der Säle gold’ne
Pracht –
Trümmer und gestürzte Hermen
Halten rings die Totenwacht.
Faul sein Purpur, morsch sein Zepter,
Doch sein Atem und sein Geist,
Noch in den Ruinen lebt
er,
Wie ein Aar, der sie umkreist!
Steige noch so keck und munter
Hier hinauf, Despotenfeind, –
Trüb und stumm kehrst du hinunter,
Schauerst, wo du leicht
verneint!
Ihrer Stimmen mächtig Dröhnen
Schallt vernehmbar an dein Ohr,
Ihre Opfer hörst du stöhnen,
Doch auch ihren Siegeschor
Mit
dem Roth der Abendgluten
Flammt
dir ihres Purpurs Saum.
Vor
den Augen – und verbluten
Siehst
du ihren Weltentraum...
Schreite
sacht auf diesen Fliesen
Tadler,
ob dein Herz auch
grollt,
Denn
sie waren Willensriesen
Und
wir – werden nur gewollt!
oben
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Textgrundlage: Marie Eugenie Delle
Grazie, aus: Italische Vignetten,
S. 63-67, ED: 1892, Verlag: Breitkopf und Härtel, Leipzig
Prolog,
S. 3,
Motto,
S. 4, Stimmen des Palatin,
S. 6-7
wikisource
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266: "Coliseum at dusk" Diliff, 2007
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