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Literatur


04.2


Gedichte
 

Marie Eugenie Delle Grazie





 Im grauen Nachbarhause 

Im grauen Nachbarhause
Sonnt sich tagaus, tagein
Auf schmalem Fenstersimse
Ein Kätzchen, schmuck und fein.

Es putzt die weißen Pfoten
Und blinzt mir in’s Gemach,
Am liebsten aber flög’ es
Den grauen Spatzen nach.

Die zwitschern in der Rinne
Und streiten um ein Korn,
Es gellt die halbe Straße
Von ihrem lauten Zorn.

Zwei Mönche wandern bettelnd
Und müd’ von Haus zu Haus:
Hier schmäht man sie, dort schreiten
Sie fromm bedacht heraus.

Die Eseltreiber nicken
Auf ihren Karren ein,
Und nur die Brunnen schwatzen
Im lieben Sonnenschein; 

Und nur die Tauben flattern
Erregt von Dach zu Dach –
Da ruft Kanonendonner
Die Mittagsglocken wach.

 

 Ringsum zerfallene Reste 

Ringsum zerfallende Reste,
Zerbröckelnd und morsch Gestein,
Und drüber hangende Äste,
Und flutender Sonnenschein.... 

In Diocletian’s Thermen
Ein prächtiges Gotteshaus,
Am Corso Hasten und Lärmen,
Der Weltstadt erregt Gebraus!

Und melancholisches Schweigen
Am Ufer des Tiberstrom’s –
Gespenstisch wachsen und steigen
Aus ihm die Geschicke Rom’s:

Gigantisch winkt, aber traurig,
Das Grab der Vergangenheit,
Von seiner Zinne droht schaurig
Der Engel im Schuppenkleid.

Und dort – Sankt Peter – der prächtig
Das leuchtende Haupt erhebt –
Die Gegenwart, die noch mächtig
Nach Schönheit und Täuschung strebt;

Dieweil die Zukunft schon düster
In Lumpen die Stadt durchirrt –
O Grauen, wenn ihr Geflüster
Zum Schrei des Frohlockens wird! 

Noch einmal, Rom, wirst du fallen,
Wie einst das Kreuz dich gefällt –
Die Wahrheit ruft ihr: „Weh’ Allen!“
Dann über die ganze Welt....


 Sie haben sich grausam zerstritten

Sie haben sich grausam zerstritten
Und sind sich doch täglich so nah,
Die schmucksten der schmucken Modelle
Vor Santa Trinità; 

Er pfaucht in der Tracht der Campagna
Gewuchtigen Schritt’s auf und ab;
Sie lacht zur Piazza di Spagna
Mit süßem Mund hinab.

Er fühlt es, doch will es nicht sehen –
Sie merkt es und quält ihn noch mehr,
Und möcht’ doch vor Sehnsucht vergehen,
Denn ach! sie fühlt wie er....

Kein Kosen, kein Winken, kein Nicken
Wie sonst – o gepeinigtes Herz!
Wie qualvoll, so frostig zu blicken,
Wie grausam dieser Scherz!

Da schlendert vom Pincio herunter
Ein Maler und hält vor ihr ein –
„Du stehst mir noch heute! Sei munter,
Ein schöner Preis ist dein!

Solch Lärvchen just sucht’ ich schon lange –
Doch sag mir, wo find’ ich dein Paar?“ –
Er fragt es und streicht ihr die Wange,
Das schwarze, sammt’ne Haar.... 

Sie nestelt verlegen am Tuche –
Giuseppe! – nun hat er’s geseh’n!
Schon naht er mit zornigem Fluche –
Sein Dolch – gleich ist’s gescheh’n – –

„Signor!“ doch er lacht nur, der Fremde:
 „Beim Himmel! Just frug ich nach dir,
Bandit du, im bauschigen Hemde,
Ich male dich mit ihr!

Doch dürft ihr so trotzig nicht blicken,
Ich brauch’ heut’ ein zärtliches Paar!“
Sie kichert – er lächelt – sie nicken
Und treten aus der Schar.






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Textgrundlage: Marie Eugenie Delle Grazie, aus:
Italische Vignetten, S. 63-67, ED: 1892,
Verlag: Breitkopf und Härtel, Leipzig
Im grauen Nachbarhaus, S. 32,   Ringsum zerfallene Reste, S.33,  
Sie haben sich grausam zerstritten, S. 23-24
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2005
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