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Literatur


04.2


Gedichte - Karl Henckell






Was treibt die Thräne dir in’s Auge?

„Was treibt die Thräne dir in’s Auge?
Wie scheu und gramverhüllt dein Blick?
Sie sind nicht würdig  deiner Thränen,
Sie tragen schuldig ihr Geschick.“

Und sind sie’s schuld, ich will’s nicht wissen,
Dem Wesen Fluch, das sie erschuf!
Mir klingt im Ohre dumpf und traurig
Des Elends jammervoller Ruf.

„So raff dich auf aus deinem Schmerze,
Dein Fluch verhallt ja ungehört;
Wer lauscht auf deine Trauerweise,
Die nur das lust’ge Treiben stört?“

Und hören Menschen, Luft und Sterne
Nicht auf mein qualgezeugtes Lied,
Ich muß doch klagen ohne Ende,
Bis mir der letzte Hauch entflieht.



Die blaue Blume

Mit fünfzehn Jahren ging ich aus
Und suchte die blaue Blume,
Die Sehnsucht trieb mich früh hinaus
Zum Waldesheiligthume.
Ich suchte her und suchte hin,
Ich suchte viele Stunden,
Mein Herz ward schwer und bang mein Sinn –
Ich habe sie nicht gefunden.

Die Bücher warf ich weinend fort,
Sie wußten mir nichts zu sagen,
Ich stahl mich an stillen heimlichen Ort,
Den Lüften mein Leid zu klagen.
Ich rief: Du Welt, so frostig kalt!
Wenn Gott mein Sehnen wüßte,
Er ließe die Blume sprießen im Wald
Und stillte mein Gelüste!

Die Blume sprosste nimmermehr,
Und Tag und Jahre schwanden,
Mein Sinn war bang, mein Herz war schwer,
Daß sie sie noch nicht fanden.
Und Vater und Mutter und Haus und Heim
Trieb mir in’s Auge die Thränen.
Der Freunde Spiel war mir zur Pein
Und meinem trotzigen Wähnen …

Du einsam, freundlich Lampenlicht,
Du lächelst auf mich nieder
Und sprichst: Die blaue Blume nicht,
Wie vordem, suchst du wieder.
Auf deinen Lippen hab ich’s geseh’n,
Wie mild du lispeltest leise:
Es muß auch ohne die Blume geh’n
Auf dieser Erdenreise …






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Textgrundlage: Gedichte: "Am Brückenrande" Karl Henckell,
aus: Poetisches Skizzenbuch bis 1884,  Verlag Karl Henckell, & Co.
ED: 1898, E-Ort: Zürich und Leipzig, gemeinfrei
Digitalisat Uni-Düsseldorf 


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