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Literatur


04.2


Gedichte - Karl Henckell





Die Woge brandet

Die Woge brandet, der Fels erkracht,
Die Wimpel sind vom Sturm geraubt,
Das Glück ist hin, die Angst erwacht –
Schlag deine Schwingen, dunkle Nacht,
Zusammen über meinem Haupt!

Du Schlummerwelle, ersehnte Ruh,
Gib mir der Selbstvergessenheit Glück!
Ich weiß nicht, was ich denk und tu –
Die Augen zu, sanft schlafe du
Und kehr in’s Paradies zurück!


Berliner Abendbild

Wagen rollen in langen Reih’n,
Magisch leuchtet der braune Schein,
Bannt mich arabische Zaubermacht?
Tageshelle in dunkler Nacht!
Hastig huschen Gestalten vorbei,
Keine fragt, wer die and’re sei,
Keine fragt dich nach Luft und Schmerz,
Keine horcht auf der andern Herz.
Keine sorgt, ob du krank und schwach,
Jede rennt ihrem Glücke nach,
Jede stürzt ohne Rast und Ruh
Der hinrollenden Kugel zu.
Langsam schlend’r ich im Schwarm allein –
Magisch leuchtet der blaue Schein.
Kaufmann, Werkmann, Student, Soldat,
Bettler in Fetzen, Dirne im Staat.
Rechnend drängt sich der Kaufmann hin,
Rechnet des Tages Verlust und Gewinn.
Werkmann bebt vor des Winters Noth:
„Fänd“ ich, ach fänd ich mein täglich Brot!
Hungernd wartet die Kinderschar,
‚s ist ein böses, ein böses Jahr.“
Bruder Studio zum Freunde spricht:
„Warte, das Mädel entkommt uns nicht!
Siehst du, sie guckt; brillant, famos!
Walter, nun sieh doch – die Taille bloß!“

Steht der Gardist in Positur,
Weil der Hauptmann vorüber fuhr,
Ließ seine Donna im Stich – allein:
„Ja, liebste Rosa, Respekt muß sein.“
„Blumen, Blumen, o kauft ein Bouquet,
Rosen und Veilchen, duftend und nett!
Bitte, mein Herr, ach so sei’n Sie so gut!“
„Scheer dich zum Teufel, du Gassenbrut!
Retzow, auf Ehre, wahrer Skandal.“
„Unter Kam’raden, ganz egal.“
„Sehen Sie, bitte! Grandiose Figur,
Wirklich charmant, merveilleuse Frisur.“
„Echt garantiert? Doch das macht nichts aus
Hm! Begleiten wir sie zu Haus?“

„Neuestes Extrablatt! Schwurgericht!“
Hei, das drängt sich neugierig dicht.
„So ein Schwindler, ein frecher Hund,
Schlägt erst tot und leugnet es rund.“
Wie das rasselt, summt und braust!
Wie es mir vor den Ohren saust!
Jahrmarkt des Lebens, so groß – so klein!
Magisch leuchtet der blaue Schein.







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Textgrundlage: Gedichte: "Am Brückenrande" Karl Henckell,
aus: Poetisches Skizzenbuch bis 1884,  Verlag Karl Henckell, & Co.
ED: 1898, E-Ort: Zürich und Leipzig, gemeinfrei
Digitalisat Uni-Düsseldorf 


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