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Literatur


04.2


Gedichte - Karl Henckell





Täuschung

Sieh dort, mein Freund, das Mädchenbild –
Wie schwebt dahin sie lieblich leicht!
Ihr blasses Antlitz, süß und mild,
Den Engeln auf dem Bilde gleicht.
Zu meiner Seele rührend spricht’s:
O, keuscher, frommer Taubensinn!
Ach Gott, und ist doch weiter nichts,
Als eine schöne Sünderin.

In diesem Leib die Anmut wohnt,
In jedem Glied geoffenbart,
Auf diesen feinen Zügen thront
Der Schönheit Zauber stolz und zart,
Und aus den blauen Augen bricht’s
Wie Glanz der Himmelskönigin –
Ach Gott, und ist doch weiter nichts,
Als eine schöne Sünderin.

Verfluchte Lügnerin Natur,
Die du mit falschem Pinsel malst,
Des Sündenelends Kreatur
Mit reiner Glorie überstrahlst:
Nie schufst du keuscher des Gesichts
Gestaltung, Trugverkünderin! –
Ach Gott, und ist doch weiter nichts,
Als eine schöne Sünderin.

Vorüber, Freund, vorbei im Flug,
Ich mag das Bild nicht länger schaun,
Ich kannte längst des Lebens Trug,
Doch hier beschleicht mich eisig Graun.
Die Kinder sind wir ja des Lichts,
Auch sie, so wahr ich selig bin –
Ach Gott, und ist doch weiter nichts,
Als eine schöne Sünderin!








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Textgrundlage: Gedichte: "Am Brückenrande" Karl Henckell,
aus: Poetisches Skizzenbuch bis 1884,  Verlag Karl Henckell, & Co.
ED: 1898, E-Ort: Zürich und Leipzig, gemeinfrei
Digitalisat Uni-Düsseldorf 


Logo 471: “Fausts Vision”, Franciszek Zmurko, 1890,
gemeinfrei

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