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Literatur


04.2


Gedichte - Karl Henckell






Das Blumenmädchen

Was schleichst du so spät noch die Straße entlang
Durch die schwankenden Schatten der Nacht?
Ich bete für dich, du Kleine,
Daß droben im Sternenscheine
Ein Engel der Liebe dein Haupt bewacht.

Das Blumenkörbchen in zitternder Hand,
Das noch zum Rande gefüllt,
Eilst du zu Schmach und Schlägen
Dem fremden Heim entgegen,
Mit Lumpen den frierenden Leib umhüllt.

Dein sanftes Gesicht mit dem blauen Aug’
Ist rein, wie die Lilie im Feld;
Bald, wenn die Rosen glühen,
Wirst du zur Jungfrau erblühen,
Und schmeichlerisch lockt dich die rauschende Welt.

Und wählst du die Seide und wählst du das Gold,
Für Kupfer und grauen Kattun,
So gehst du im Taumel verloren,
Wärst besser nimmer geboren
Und möchtest im düsteren Grabe ruhn.

Was schleichst du so spät noch die Straße entlang
Durch die schwankenden Schatten der Nacht?
Ich bete für dich, du Kleine,
Daß droben im Sternenscheine
Ein Engel der Liebe dein Haupt bewacht.







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Textgrundlage: Gedichte: "Am Brückenrande" Karl Henckell,
aus: Poetisches Skizzenbuch bis 1884,  Verlag Karl Henckell, & Co.
ED: 1898, E-Ort: Zürich und Leipzig, gemeinfrei
Digitalisat Uni-Düsseldorf 


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„Flora“ Lovis Corinth, 1913, gemeinfrei
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