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Literatur


04.2

Gedichte - Karl Henckell





Der Sünder I

Hohl durch die Gasse ging der Sturm,
Im Hirne brannten Feuersgluten,
Und quälend scholl ’s: Du Menschenwurm,
Peitscht dich die Hölle selbst mit Ruten?

Nichts gilt der Geist, die Größe nichts,
Wenn dich beschlich die Pest der Sünde,
Bang vor dem Throne des Gerichts
Erheb', was dumpf es dir verkünde!

Du hast gefehlt in arger Lust
Und wissend sankst du in Verirrung,
Du buhltest an der Dirne Brust
Und fröntest frecher Keuschheitskirrung.

Wohl hast du oft dir selbst geflucht,
Wohl rangst du wild in heißer Reue,
Doch hast die Sünde du gesucht,
Ein schwacher Dämon, stets aufs neue.

Drum dulde, dulde, wenn zur Nacht
Durch's Hirn dir die Gedanken lodern,
Wenn das Gewissen jäh erwacht
Und grause Geister Sühne fordern!

Ich wankte, ein zertret’ner Wurm,
Und krümmte weinend meine Glieder,
Hohl durch die Gasse ging der Sturm,
Unbd tiefaufstöhnend brach ich nieder.


  Der Sünder II

Kein milder Schlummer, der zur Ruh
Mir weich gedrückt die Augen zu;
Eh' noch der Schatten niedersank,
Streckt' ich zu Bett mich, matt und krank.
Es brannte heiß, es quälte wild,
Kein Trost, der meine Reu' gestillt;
Kein Gottesgruß, kein winkend' Heil
Ward meinem brünst’gen Flehn zu theil.
Ich rief des Himmels Segen nieder,
Da troff ein blut’ger Regen nieder,
Und jeder Tropfen ward ein Meer,
Das wälzte schwer sich zu mir her
Und stieg hinan und staute sich
Auf meiner Brust – starr schaute ich
Und athmete bang und raffte mich auf,
Doch die rothen Wogen, sie stiegen herauf
Und presßten die Glieder und rissen mich nieder
Und brodelten schaurig – und wanderten wieder.
Mein Sinn trieb wirr, die Luft zog schwül,
Da lag ich auf dem Marterpfühl.
Der süßte Gott umfing mich nicht,
Und hell erglomm das Morgenlicht.






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Textgrundlage: Gedichte, Karl Henckell,
aus: Poetisches Skizzenbuch bis 1884,  Verlag Karl Henckell, & Co.
ED: 1898, E-Ort: Zürich und Leipzig, gemeinfrei
Digitalisat Uni-Düsseldorf 

Logo 495: "Bildschmuck von Fidus" aus Gedichte von Karl Henckell,
1884, gemeinfrei - neu bearbeitet und farbig gestaltet von gisela rieger
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