lifedays-seite

moment in time





 
Literatur


04.2


Gedichte - Karl Henckell





Irmgard I

Eh' du dem heitern Zauberland
Der Kindesträume noch entglitten,
Hat dir des Todes rauhe Hand
Die gold’ne Locke abgeschnitten.

O, grausam ist der finstre Geist,
Der über unserm Leben waltet!
Den ihr als ew’ge Güte preist,
Hat unbarmherzig hier geschaltet.

In Blumen hüllt den kleinen Schrein
Und sing die dumpfen Abschiedslieder,
Auf ewig muß geschieden sein,
Und keinen Engel seht ihr wieder.


Irmgard II

Ein Lachen hör ich klingen,
Das klingt so silberklar,
Wer naht auf Traumesschwingen?
Ein Kind in gold’nem Haar.

Sei mir gegrüßt in Träumen,
Du lichtumfloss ’nes Kind,
Nun mußt du bei mir säumen,
Eh' all mein Traum zerrinnt.

Gieb mir die kleinen Hände,
Du warst ja jederzeit
Zur Hülfe und zur Spende
An Klein und Groß bereit.

Im Blick den Wunsch zu lesen,
War dir geliebtes Amt,
Uns schien, als sei dein Wesen
Dem Himmel selbst entstammt.

Aus deinen Äuglein glänzte
Des Himmels Sonnenlicht,
Im Winter selbst es lenzte
Auf deinem Angesicht.

Wer war, der im Gemüthe
Dich, süßes Ding, nicht pries?
Du warst der Blüthen Blüthe
Im Kinderparadies.

Komm, schau mir in die Augen,
Bannst jede Herzensqual,
Laß Sonnenschein mich saugen
Aus deinem Augenstrahl!

Sie sagen, längst erblichen
Sei deiner Augen Glanz,
Blauveilchen sei gewichen
Dem Immortellenkranz.

Sie sagen, daß du, Kleine,
Nicht mehr umher dich trollst,
Daß du nun ganz alleine
Im Grabe ruhen sollst.

Du Kind mit bleichem Munde,
Wo sind die Lippen roth?
Irmgard, so gieb mir Kunde,
Du Süße, bist du todt?

„Ich bin nicht todt, ich lebe,
Ich habe Flügel an,
Damit ich niederschweben
Zu meiner Mutter kann.

Damit der Schwester leise
Ich nahe früh und spät,
Damit im Kinderkreise
Mein Lachen nicht vergeht.

Viel Thränen muß ich lindern.
Der Mutter große Pein,
Im Schwarm von frohen Kindern
Muß ich Gespielin sein.

Und sieh', ich alt’re nimmer
Und werde grau und blind,
Ich bleibe immer, immer
Ein kleines Engelkind"






oben


_______________________________
Textgrundlage: Gedichte, Karl Henckell,
aus: Poetisches Skizzenbuch bis 1884,  Verlag Karl Henckell, & Co.
ED: 1898, E-Ort: Zürich und Leipzig, gemeinfrei
Digitalisat Uni-Düsseldorf 


Logo 21:
: "Angel", 2006, Urheber Nevit Dilmann
Lizenz:  GNU-Lizenz für freie Dokumentation, Version 1.2
Wikimedia

   lifedays-seite - moment in time