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Literatur


04.2


Gedichte - Karl Henckell





Des Todtengräbers Töchterlein

 
Du Purpur unter Bleichen,
Du Rose unter Leichen,
Daheim im Todtenland,
Von frischem Leben glühend,
Von jungen Reizen sprühend,
Für dich bin ich entbrannt.
Die Trauerweiden winken,
Die lichten Sterne blinken,
Der Mond glänzt silbergleich.
Mag sich die Liebe härmen,
Mich läßt sie lüstern schwärmen
Im düstern Todtenreich.
Die Trauerweiden rauschen,
Hier möchte‘ ich Küsse tauschen,
Von Liebesglut entfacht!
Von hundert Todtengrüften
Aufwallt berauschend Düften,
Süß lockt die schwüle Nacht.
In deinen weichen Armen
Mag selbst der Tod erwarmen
Zum Leben und zur Luft.
O, Wonne unermessen
Wär’s, einmal dich zu pressen
An meine fieberheiße Brust!


oben
Unsterblich
 
Still, o still, die Lüfte klingen,
Und ein weihevolles Singen
Weht vom Aether nieder;
Geisterhafte Zauberweisen
Schwellend mir das Haupt umkreisen,
Ahnungsvolle Lieder.
„Sollst nicht ganz zu Asche werden,
Wenn der Tod, der Herr der Erden,
Einst dich auserkoren.
All’ dein Leben war ein Singen,
In den Lüften wirst du klingen
Vor der Träumer Ohren.
Frei und leidlos wirst du ziehen,
Ein Akkord von Melodieen,
Ewig unzerstörbar;
Doch nur Denen, die ihr Leben
Stillem Sinne hingegeben,
Wesenhaft und hörbar.“








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Textgrundlage: Gedichte, Karl Henckell,
aus: Poetisches Skizzenbuch bis 1884,  Verlag Karl Henckell, & Co.
ED: 1898, E-Ort: Zürich und Leipzig, gemeinfrei
Digitalisat Uni-Düsseldorf 


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"Late Autumn at Barbazon", 1879, Thomas Milliiie Dow,
 gemeinfrei
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