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Literatur


04.2


Gedichte - Karl Henckell





Gebet
 
An den Wassern bin ich hingegangen,
Feuchter Windhauch netzte meine Wangen.
Meine Seele, die das Licht verlor,
Meine Seele schrie zu Gott empor.
Der im Wolkenkleid am Himmel schreitet,
Der im Sturmhut durch die Lüfte reitet,
Der aus grünen Wipfeln raunend winkt,
Der aus Silberwellen plätschernd blinkt,
Der im Grashalm sprießt, als Regen feuchtet,
Der im Blitze schießt, als Sonne leuchtet:
Weltengeist, von dem auch ich ein Theil,
Schütte nieder deiner Gnade Heil!
Ach, ich habe meinen Werth vergessen,
Bin in der Verräther Rath gesessen,
Habe frech dem lichten Gott geflucht
Und bethört der Lüge Nacht gesucht!
Blöd und elend wank‘ ich wirre Pfade,
Wüstenirrend dürst‘ ich müd’ nach Gnade,
Meine Seele, die das Licht verlor,
Meine Seele schreit zu Gott empor.
Ohne dich, wie dürr sind meine Glieder!
Weltengeist, ach ströme, ströme nieder!



Natur

Natur, allheilige,
Heilende Göttin,
An deinen vollen,
Nährenden Brüsten
Lieg‘’ich und schlürfe
Milch des Lebens.
Aus deinem Munde
Geht des Windes
Wunderathem
Und löscht mit schnell
Vergang’nen Wetters
Feuchtem Hauch
Der Wangen stürmisch
Aus Herzenstiefen
Steigende Hochgluth.
Deiner Locken
Grüne Fluthen
Wogen rauschend
Ueber mir,
Und nieder schaut
Dein blaues, klares,
Glänzendes Auge,
Wonnig lächelnd.
O, Liebesschauer
Der Weseneinheit,
Verschlung’nes Weben
Des Weltenall’s!
Ich seh’ es fluthen
In ew’gem Strome,
Ich seh’ es wachsen
Zu ew’gem Bau.
Such’ ich die Quelle,
So sprüht ein Nebel
Und hüllt den Blick mir,
Und wo begründet
Des Hauses Pfeiler,
Die Räthselstelle
Ich fand sie nicht.
Und dennoch bet’ ich
Voll süßen Grauens
Zu deiner Hoheit,
Mutter Natur,
Und deinen vollen,
Nährenden Brüsten
Milch des Lebens







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Textgrundlage: Gedichte: "Am Brückenrande" Karl Henckell,
aus: Poetisches Skizzenbuch bis 1884,  Verlag Karl Henckell, & Co.
ED: 1898, E-Ort: Zürich und Leipzig, gemeinfrei
Digitalisat Uni-Düsseldorf 


Logo 260: "Landschaft mit Regenbogen", Caspar David Friedrich, 
ca. 1810, gemeinfrei
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