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Literatur


04.2


Gedichte - Karl Henckell






Regentag

Schleierspinnend, grau und grauer
Rieseln müde Regenschauer,
Gähnend schläft die Gasse ein.
Will der Blick am Boden kleben?
Fahl und öde starrt das Leben,
Ach, wer löst die stumme Pein?

Mensch und All, wer mag euch trennen?
Wunderstrom, wer dich erkennen,
Der durch Stoff und Seele zieht?
Lacht ein gold’ner Strahl hernieder,
Bebt voll Lust der Busen wieder,
Springt die Fessel, jauchzt das Lied.



Sonnenlied

Blendend zittert gold’nes Licht
Um die sehnsuchtsvollen Wangen.
Strahl auf Strahl durch Wolken bricht,
Und das nebelgraue Bangen
Ist vergangen.

In dem warmen Sonnenmeer
Will ich baden, traumversunken,
Blitzend wogen um mich her
Schließend , wirbelnd, wonnetrunken,
Himmelsfunken.

O du wesenloser Geist,
Gott der Strahlen, glanzgeboren,
Den das Weltall jauchzend preist,
Den zum Spotte nun die Thoren
Sich erkoren:

Geist erhab’ner Liebesmacht,
Geist des Wahren und des Guten,
Der du durch des Irrthums Nacht
Des Gedankens helle Gluthen
Lässest fluthen:

Sendest nieder du den Hauch
Deines wunderbaren Lebens,
Strömt durch meine Seele auch
Voll geheimniß-süßen Webens
Kraft des Strebens.

Heil dir, Sonne, jauchzend soll
Dir mein Lied zum Aether wallen,
In die Saiten schlag’ ich voll,
Daß sie durch der Erde Hallen
Hell erschallen.

In Verklärung blickt empor
Dann die Menschheit, lichtdurchdrungen,
Spenden dir im Jubelchor,
Gott der Götter, tausend Zungen
Huldigungen!


 




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Textgrundlage: Gedichte, Karl Henckell,
aus: Poetisches Skizzenbuch bis 1884,  Verlag Karl Henckell, & Co.
ED: 1898, E-Ort: Zürich und Leipzig, gemeinfrei
Digitalisat Uni-Düsseldorf 


Logo 261: "Sunset", August Strindberg, 1902, gemeinfrei
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