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Literatur


04.2


Vorwort zur Gesamtausgabe

Detlev von Liliencron


Heraugegeben von Richard Dehmel







 Vorworte zur Gesamtausgabe

Als Liliencrons Nachlassverwalter hielt ich es für meine vornehmste Pflicht, so bald wie möglich eine neue Ausgabe seiner ‚Werke zu veranstalten, die der Bedeutung des Dichtes angemessen wäre. vor allem musste der endgültige Wortlaut seiner Bücher gesichert werden. Aus den verschiedenen Handexemplaren, die er bei seinen Vortragsreisen benutzte und in freien Stunden durchzufeilen pflegte, waren die vielen Verbesserungen in vergleichender Sichtung zusammenzutragen; und aus den noch nicht in Buchform veröffentlichten Schriften war das Wertvollste ebenfalls auszusuchen und an passender Stelle einzureihen. Das Wertvollste nur, nicht all und jedes; so hat er selber es gewünscht und mich ausdrücklich in seinem Testament zu der entscheidenden Prüfung ermächtigt. Es war ferner geboten, die ganze Ausgabe etwas handlicher und übersichtlicher als  die vorige einzurichten, sie auch anständiger auszustatten, als es der Durchschnittsgeschmack erwartete, und die Verlagsanstalt ist mir dabei bereitwillig entgegengekommen.

Die Textordnung in den einzelnen Büchern habe ich möglichst wenig geändert. Besonders die Reihenfolge der Gedichte habe ich weder chronologisch noch psychologisch umgeordnet. Das letzte deshalb nicht, weil Liliencron mit ganz bestimmter Absicht vermied, seine Lyrik zyklisch nach Motiven oder Ideen zu gruppieren. Variatio delectat, war seine Maxime; er wollte jedes‚ Gedicht so deutlich wie möglich auf seinen selbständigen Reiz begrenzen und stellte drum die verschiedensten Stimmungsgebilde in sprunghaftem Wechsel neben einander. Eine zeitbefolgende Anordnung aber wäre erst recht nicht nach seinem Sinn und geradezu kunstwidrig gewesen. Nicht etwa, weil sich bei der Datierung Irrtümer hätten einschleichen können. Im Gegenteil, Liliencron hat genaue Notizen über die Entstehungsgeschichte seiner Verse hinterlassen: einen großen Stoß Diarien, die zunächst für Reinschriften bestimmt waren, allmählich in Kladden verwandelt wurden und allerlei launige Etiketts erhielten, wie „Gedichte vom ersten Punkt an“ oder „A-B-C-Bücher“ oder „Schreibhefte des kleinen Detlev“. Nämlich viele Gedichte sind erst im Lauf vieler Jahre, nach mannigfacher Umgestaltung, zu ihrer endgültigen Form gediehen, die mit der ursprünglichen nicht selten bloß noch ein paar Zeilen gemein hat; in welchen Jahrgang soll man nur ihre wesentliche Entstehung verlegen? Um nur ungefähr eine Vorstellung von der völligen Unentscheidbarkeit dieser Doktorfrage zu geben, drucke ich eines seiner herrlichsten Stücke – „Schrei“ – hier in der ersten Reinschrift ab (vom 17./18. Juli 1879, damals noch in Ghaselenform):

Wie lange fluthet schon der Sorgenregen:
Ein ewig Rechnen nur und kleinlich Wägen.
Im Joch der Armuth und der Tagespflichten –
Erfüllt kein Wunsch, den Herz und Sinne hegen.

O, wär‘ es doch! Hinaus dann in die Wälder,
Je denen die Novemberwetter fegen;
Es bricht der Keiler durch den Tannenharnisch:
Nur ich und er! Mit Jauchzen ihm entgegen! –
Durch Blut und Dampf! Es stürzt mein Hengst zusammen;
Die Fahnen hoch! Und hoch mein Sieges-Degen! –
Es sinkt mein Schiff, doch spielen noch die Wimpel,
Hart hält die Faust das Steuer und verwegen. –
In Sommerlauben lohnt mir die Gefahren
Ein Augenpaar, holdselig und verlegen.
Und so im Wechsel nur allein ist Leben:
Ein Kampfplatz heute, morgen Liebessegen. –
Doch glänzen deine Flügel, kleine Lerche,
Im Frühroth schon, hoch über Wiesenstegen;
Dieselben – die zum Himmel fröhlich zittern,
Wenn sie in’s letzte Ruhebett mich legen?

Man halte gegen dieses Gereimsel, das den späteren Meister erst schüchtern ahnen lässt, die bloß noch sinnverwandte jetzige Fassung (aus den Jahren 1885-88):

O wäre es doch! Hinaus in dunkle Wälder,
In denen die Novemberwetter fegen.
Der Keiler kracht, Schaum flockt ihm von Gebreche,
Aus schwarzem Tannenharnisch mir entgegen.
O wär es doch!

O wäre es doch! Im Raubschiff der Korsaren,
Vorn halt ich Wache durch die Abendwellen.
Klar zum Gefecht, die Enterhaken schielen,
Und lauernd kauern meine Mordgesellen.
O wäre es doch!

O wär es doch! Ich säß auf nassem Gaule,
In meiner Rechten schwäng ich hoch die Fahne,
Dass ich, buhlt auch die Kugel schon im Herzen,
Dem Vaterlande Siegesgassen bahne.
O wäre es doch!

O wäre es doch! Denn den Philisterseelen,
Den kleinen, engen, bin ich satt zu singen.
Zum Himmel steuert jubelnd auf die Lerche,
Den Dichter mag die tiefste Gruft verschlingen.
O wär es doch!

Noch werkwürdiger hat sich beispielshalber das bekannte Lied „Tod in Ähren“ entwickelt, dass anfangs (21. Juli 1877) ein ungefüges Konglomerat aus sechs- und vierzeiligen Reimstrophen in teils fünf-teils vierfüßigen Jamben war, dann (1879) in ungereimte Blankverse breitgestampft wurde und sich schließlich (1880-82) in die drei wunderbar knapp-gereimten Vierzeiler zusammenschloss. Oder z. B. das Gedicht „Begräbnis“, das den Nachlassband „Gute Nacht“ beschließt und wie aus unmittelbarem Vorgefühl des nahen Todes entstanden scheint: es stammt gleichfalls schon aus 1879 und hat seitdem wohl mindestens fünf Umarbeitungen durchgemacht. Überhaupt rührt der Inhalt der letzten beiden Gedichtesammlungen Liliencrons („Bunte Beute“ und „Gute Nach“) großenteils aus jüngeren Jahrzehnten her, und der Novellenband „Letzte Ernte“ fast ganz, nur eben nach und nach umgestaltet. Ich habe deshalb die druckwerten Verse, die ich in den erwähnten Diarien noch fand, auch alle in das Buch „Gute Nacht“ eingeschaltet. Sonst habe ich in den Gedichtbüchern die Reihenfolge nur da geändert, wo einige Prosastücke, die lediglich aus verjährten Zufallsgründen mitten zwischen der Lyrik standen, herausgenommen und unter die Novellen oder Skizzen gereiht werden mussten. Und statt des Buchtitels „Kämpfe und Ziele“, mit dem Liliencron nie recht zufrieden war, habe ich einen seiner bezeichnendsten aus früherer Zeit wieder eingesetzt: „Der Haidegänger“. Das ebenso betitelte Dialogpoem ist daher an den Schluss dieses Buches gerückt.

Da für die Gesamtordnung der Werke das chronologische Prinzip genau so unzulässig war wie in den einzelnen Sammelbänden, blieb nur die technologische Einteilung nach poetischen Gattungen übrig. An die Spitze ist demnach das Werk gestellt, das der Dichter als sein Hauptwerk ansah: das Epos „Poggenfred“ (in teilweise veränderter Reihung der Kantusse, nach seinen eigenen Korrekturen). Dann folge die Lyrik in zwei Bänden, dann ein Band Dramen, zwei Bände Romane, ein Band Novellen und ein Band Miscellen; im ganzen also acht Bände. In den letzten Band ist eine Auswahl feuilletonistischer Gelegenheitsschriften (meist Rezensionen) neu aufgenommen, um auch diesen Arbeiten Liliencrons, denen er selber wenig Wert beimaß, die aber manchen köstlichen Satz enthalten, die gebührende Beachtung zu sichern; sie haben in den sogenannten jüngstdeutschen Entwicklungsjahren gute Fürsprecherdienste geleistet. Für die nicht geringe Mühe, sie aus verschollenen Zeitschriften und allerlei Tagesblättern aufzustöbern, bin ich einem jungen Literarhistoriker, Herrn Wilhelm Dreecken, zu Dank verpflichtet; auch hat er mir die Besorgung der Textrevisionen bei der Drucklegung der Gesamtausgabe so weit wie möglich abgenommen. Ein noch unveröffentlichtes dramatisches Manuskript „Sturmflut“ habe ich nicht in Druck gegeben, weil der Dichter selbst es unterdrückt und in eine Novelle umgearbeitet hat: sie trägt den Titel „Der Blanke Hans“ und steht in dem Nachlassband „Letzte Ernte oder, wie er jetzt heißt „Späte Ernte“. Auch das 1887 veröffentlichte, aus früheren Jahren stammende Dramolett „Arbeit adelt“ habe ich nicht wieder drucken lassen, da Liliencron es nachträglich verworfen und in die zu seinen Lebzeiten erschienene Gesamtausgabe seiner Schriften nicht mit aufgenommen hat.

Die Unterabteilungen in den neuen acht Bänden entsprechen den siebzehn Bänden der vorigen Ausgabe, einschließlich der beiden Nachlassbände, und sind durch dieselben Titel gekennzeichnet (mit den genannten Ausnahmen: Haidegänger und Späte Ernte). Unter jedem Titel ist in Klammern die Auflagenhöhe angegeben, die das betreffende Buch bis jetzt, mit Einrechnung der vorigen Ausgabe, erreicht hat. Die Ordnung der Abschnitte habe ich, von dem typographischen Umbau abgesehen, auch in den Novellensammlungen nach Möglichkeiten unverändert gelassen. Nur in den „Übungsblättern“ des Miscellenbandes, deren Titel – nebenbei gesagt – viel zu bescheiden deutschtümelnd ist für diese Kabinettstücke Liliencronscher Prosa, musste ich die Reihenfolge durchgreifend ändern; hier waren nämlich die mancherlei Skizzen unterzubringen, die in den früheren Gedichts und Novellen-Büchern aus lediglich temporären Ursachen an unrechter Stelle gestanden hatten, z. B. auch einige der „Kriegsnovellen“, die eigentlich keine Novellen sind, sondern Gedenkblätter oder Erinnerungsbilder. Aber die Verehrer des Dichters dürfen überzeugt sein, dass alle meine Änderungen in seinem Geiste angeordnet und auf künstlerische Erwägungen zurückzuführen sind, die wir oft zusammen  besprochen haben.

Gewisse Eigenmächtigkeiten der Orthographie, die Liliencron nach alter Sitte aus Deutlichkeitsgründen kultivierte, glaubte ich gleichfalls beibehalten zu müssen, besonders da die neuere Rechtschreibung das unmittelbare Verständnis des Schriftsatzes manchmal recht barbarisch erschwert. Dagegen ließ ich alle Widmungen weg, da sie nur zu Lebzeiten des Dichters, in den von ihm selbst herausgegebenen Büchern einen wahrhaften Sinn hatten. Ich habe auch in Erwägung gezogen, ob nicht die vielen Motti und ähnliche Zitate, da er etliche selbst ausgemerzt hat, sämtlich gestrichen werden könnten. Das erwies sich aber als undurchführbar, weil auf die meisten in den Dichtungen direkt oder indirekt angespielt ist. Und schließlich musste ich mir sagen, dass sich in dieser Schmückung mit fremden Federn, die er wahrlich nicht nötig hatte, doch eine höchst eigentümliche Tugend ausgeprägt: seine starke Bewunderungsfähigkeit, die der Urnerv all seines Schaffens war und sich vom zartesten Pröbchen Kultur ebenso dankbar begeistern ließ, wie vom wildesten Naturphänomen.

Weiter habe ich nichts zu erklären. Das Gesamtwerk ist folgendermaßen gegliedert:

Band I: Poggfred. 1) Einkehr in Poggfred. 2) Streifzüge um Poggfred.
Band II: Gedichte. 1) Der Haidegänger. 2) Kampf und Spiele.
Band III: Gedichte. 4) Nebel und Sonne. 2) Bunte Beute. 3) gute Nacht.
Band  IV: Dramen. 1) Knut der Herr. 2) Die Rantzow und die Pogwisch. 3) Der Trifels und Palermo.  4) Die Merowinger. 5) Pokahontas.
Band V: Romane. 1. Breide  Hummelsbüttel. 2) Die Mergelgrube. 3) Der Mäcen.
Band VI: Romane. 1) Mit dem linken Ellbogen. 2) Leben und Lüge.
Band VII: Novellen. 1) Kriegsnovellen. 2) Könige und Bauern. 3) Aus Marsch und Geest. 4) Späte Ernte.
VIII: Miscellen. 1) Roggen und Weizen. 2) Übungsblätter. 3) Gelegenheitsschriften.

Hieran schließen sich noch in der gleichen Ausstattung die beiden Bände „Ausgewählte Briefe“, die ich schon habe erscheinen lassen.
R. D.





oben
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Textgrundlage: "Vorwort zur Gesamtausgabe" Richard Dehmel,
Gesammelte Werke, Herausgeber Richard Dehmel,
 verlegt bei Schuster und Löffler in Berlin, 1.-3. Auflage, 1911
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