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Literatur


04.2



Gedichte - Thekla Lingen



 Je t'aime

 
»Je t'aime« - in den Baum geschrieben
Hat seine Hand mit keckem Scherz;
Kennt er denn nicht das Wörtchen »lieben«?
Doch süß erschrocken steht ihr Herz.
 
»Je t'aime« - in das Mark gezwungen
Hat er's dem Baum im tiefen Wald;
»Ich liebe dich!« hat sie gesungen,
Dass es im Walde widerhallt.
 
»Je t'aime« - kann sie doch nicht singen,
Denn gar zu fremd ist ihr das Wort;
»Ich liebe dich!« so wird es klingen
In ihrem Herzen fort und fort.
 
»Je t'aime« - wo ist der Freund geblieben?
Das fremde Glück entwich so bald!
Er kannte nicht das Wörtchen »lieben«,
Und weinend geht sie durch den Wald ...


oben

 Wach auf!

 
Wehende Winde
Gehn über mich hin,
Wandernde Träume
Kreuzen den Sinn.
Ziehende Sehnsucht
Hemmt den Schritt,
Locket und winket:
Willst du nicht mit?
Wallen und wandern,
Weißt du wie einst?
Bist du so müde,
Liegst du und weinst?
 
Sonne stieg siegend
Aus Nebel und Nacht,
Fruchtende Erde
Ist froh erwacht.
Leuchtende Segel
Schmücken das Meer,
Schäumende Wellen
Wogen daher,
Raunen und rauschen
Ewigen Sang -
Bist du so müde,
Schläfst du so lang?
 
Lauschige Lauben
Im Dämmerlicht
Warten und schweigen -
Siehst du sie nicht?
Glühende Rosen
Blühen zum Kranz,
Jubelnde Geigen,
Klingen zum Tanz,
Lachende Lieder
Schlummern im Wein -
Kannst du nicht singen,
Bist du allein?
 
Alles muss kommen,
Alles muss gehn -
Kannst du's nicht zwingen,
Muss es geschehn!
Siegendes Leben
Geht seinen Lauf,
Einsame Träne
Hält es nicht auf!
Heb die verweinten
Augen zum Licht -
Lebe dein Leben
Fürchte es nicht!


 Warnung
 
Ach, gib mich frei und lass mich ziehen,
Du siehst, zu eng ist mir dein Haus,
Umsonst mein Ringen und mein Mühen -
Lass in die Freiheit mich hinaus!
 
Zwing mich nicht länger hier zu leben,
In dieser Welt so trüb und klein -
Ich kann ihr nichts, sie mir nichts geben,
Und Jedes grollt in bittrer Pein.
 
Hab' jung und unklug mich gebunden,
Kopfschüttelnd schau ich nun zurück;
Ich glaubte, als ich dich gefunden,
Ich stünde vor dem großen Glück.
 
Und wusste nicht, als ich gegeben
Dir meine ganze Jugend hin,
Wie weit, wie groß, wie lang das Leben,
Wie wandelbar der Menschen Sinn.
 
Drum gib mich frei, noch eh' die Sünde
Mich mit den mächtigen Armen fasst,
Eh' ich zur schlimmen Stunde künde,
Dass du mich ganz verloren hast.




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Textgrundlage: Thekla Lingen: Am Scheidewege.
Berlin, Leipzig: Schuster & Loeffler, 1898.

Je t'aime, Wach auf!,  Warnung
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