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Literatur


04.2

Gedichte

Wolkenüberflaggt - Ernst Wilhelm Lotz

Erster Teil - III. Bilder



ERSCHEINUNG
 
Ich tanze die Treppen herab mit federnden Sehnen.
Mit glänzend geöffneten Augen fühle ich Straßen hin.
 
Aber der Tag ist schwierig im Winterdämmern.
Die Straßen biegen aus und flackern davon.
Ein Schatten überspringt mich, ein schmerzliches Wundern:
Die Wagen und Autos meiden mich in Flucht,
Die Straßenbahnen kreischen auf in den Strängen,
Um die Ecke schnellend läuten sie Not.
Und Menschen, schwarz, heftig und windgeweht,
- Ihr rot umworbene Richter meiner Empfindungen! -
Stürmen vorüber, wirr fuchtelnd mit Fluchtgebärde,
Steif zeigen Finger nach meiner Stirn.
Und alles, was da war begriffen, ungreifbar,
Legt zwischen mich und sich einen Raum!
Staub hebt sich auf und begibt sich von dannen!
 
Nur - O Traum besonnter Beruhigung! -
Ein Fenster im Dach - Auge, blinkend verirrt!
Scheibe, zerscherbt und der Armen Lichtschenker! -
Hält sich, gern gebend, plötzlichem Strahl der Scheidesonne hin.
Rührend empfangen, senkt sich der Funke auf mich,
Daß ich in Geleucht starr stehe wie ein Gott in der Fremde. –
 
Kommen da nicht aus allen Winkeln,
Den Türen, Läden, den Fenstern und Wagen,
Aus schwarz quellender Fülle der Torwege,
Aus Seitengassen, wo Janhagel pfiff –
Kommen nicht lauter sehr schüchterne Lichter,
Still flackernde Augen her, her zu mir?
 
Das, was ich suchen ging: Suchende Augen!
Was mich erschüttert und emporfedert!
Was mir wie schluchzendes Jauchzen nach Innen schlägt:
Gefundene suchende Augen!
 
Hell schwimmen sie mir entgegen, glitzernde Wellen.
Ich bade mich, umtastet von ihrem Staunen.
 
Heilig frierend, bin ich der Sieger, bin der Prophet und der König. -
Denn seht: Ich schöpfe die Frage aus euren Augen, den Glanz
und das Leben.

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MOTIV AUS DER VORSTADT
 
Da nun die Stadt im fahlen Dampfe lagert
Und schwebend überwölkt von gelber Glocke,
Gehalten von den Lichtern tiefer Mauern,
 
Da dünn der Mond und wirklos in den Wolken magert
Und merklos spärlich manche Winterflocke
Herniederschneit und bleicht und schmilzt nach kurzem Dauern:
 
Wer hilft mir tragen dieses matte Scheinen
Unwirklicher Gebärden solcher Nächte!
Wer zündet mir den Schrei, der dies Gewebe
 
Traumzager Mächte zerreiße und diesen bleichen, feinen,
Spinnfadendünnen Gesichtern Zerrüttung brächte:
Daß plötzlich groß und glutdurchzuckt die Nacht auflebe!

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Textgrundlage: "Wolkenüberflaggt", Gedichte von Ernst Wilhelm Lotz, Kurt Wolff Verlag,
Leipzig, 1917, gedruckt bei E. Haberland in Leipzig-R, Herbst 1916
, als sechsunddreißigster
Band der Bücher „Der jüngste Tag“, ©1916 by Kurt Wolff Verlag, Leipzig

Uni-Düsseldorf

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