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Literatur


04.2



Marceline Desbordes-Valmore
Das Lebensbild einer Dichterin

Zweiter Teil: Gedichte







Seele und Jugend

Da meiner Kindheit Traum
So rasch entflieht
Wie Vogelflug vom Baum,
Der talwärts zieht –
Da mich des Schöpfers Gnade
In Irre wies,
Nur unbeständige Pfade
Und Hoffnung ließ –
 
So komm mit goldnem Flug,
Du Jugendzeit,
Die Seele ist zum Zug
Ins All bereit.
Komm, eine mit der andern,
Wie Duft und Licht,
Laß uns zusammen wandern
In Zuversicht.
 
Du Schöne bist das Kleid,
Der Perlbehang,
Mit dem Verborgenheit
Mich sanft umschlang.
Es schützt die scheue Meise
Der Rosenstrauch,
Du birgst und schützest leise
Mich Scheue auch.
 
O schmerzgebeugtes Haupt
Durch lange Nacht,
Die noch an Liebe glaubt,
Jugend, hab acht!
In Stürmen lebt die Liebe,
Und wer sie stellt,
Wie mutig er auch bliebe,
Wird leich zerschellt.
 
Gott ist die Liebe; nur,
O Jugend, sieh,
Such ihre Flammenspur
Hier drunten nie:
Kein Blühn und keine Gabe
Uns bleiben kann;
Die Kränze ziehn zum Grabe,
Die Liebe himmelan.
 
Wie lange noch, und ich
Seh dich nicht mehr,
Die Wege trennen sich.
Wir weinen sehr.
Zu andrer Seele wendest
Du dich ohn’ Frist,
Die du dich nie verschwendest
Und ewig bist.
 
Hin wo die Stunde schlägt,
Dein Flügel zieht,
Der Strom ins Weite trägt,
Der Tag entflieht –
O Jugend, froher Falter,
Dort schwebst du hin,
Da ich vom bleichen Alter
Ummauert bin.


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Das Leben

Habt Mitleid! Süß war meine Welle,
Doch mich verschlang das gierige Meer;
Nun trag ich Bitternis einher,
Wohin mich stößt des Windes Schnelle.
 
Den nicht ich kannte – salziger Sand,
Rollt mit mir durch die grünen Fluren,
Gibt Gras und Blumen herbe Spuren,
Und leise klagt ihr Widerstand.
 
Ich stürze wild von Bergen nieder,
Der Nachtduft, den ich droben trank,
Der tief in junge Wasser sank,
Dringt nie herab zu mir – nie wieder!
 
Froh flog ich hin, voll Übermut,
Und schwang, gleich Schleiern von Topasen,
In buntem Tanz Milliarden Blasen –
Wie anders stürmte meine Flut!
 
Aus Himmel schauten Vögel leise
Ihr Bild in mir und liebten mich
Noch mehr als Wolkentrunk, denn ich
Erfrischte ihnen Lied und Weise.
 
Kein Ton erfreute mehr das Ohr
Mit Gruß und Lockung, hinzulauschen,
Mit melodiösem Sang und Rauschen,
Als meiner Strömung heller Flor:
 
Mein klangvoll klares Bachgeriesel,
Darüber grüne Kresse kroch;
Mein frohes Lied, es murmelt noch,
Doch winterdumpf, durch Sand und Kiesel.
 
Kein Jubel klingt auf meinen Pfad:
Der Vogel, dessen Durst betrogen,
Ist Wolkenzügen nachgeflogen;
Die Nachtigall kommt nicht zum Bad.
 
Des Himmels Glut und lichte Zier
Streut ich als Perlen unters Moos . . .
Ach, süß war einst mein Wasserschoß –
Jetzt schlepp ich nur noch Salz mit mir!

 
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