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Literatur


04.2



Marceline Desbordes-Valmore
Das Lebensbild einer Dichterin

Zweiter Teil: Gedichte







An die Sonne

Du Freundin von Anmut und Trauer,
Du ewiges Lächeln im Leid,
Du liebender, glühender Schauer
Der Güte, die sieht und verzeiht!
Deine Flamme hat nie mich betrogen,
Wie heftig der Sturmwind auch blies,
Dein Licht hat mich niemals belogen,
Wenn es Wiedersehen verhieß.

Den Wipfel der jungen Platane
Erhebst du zu Fülle und Glanz,
Meinem Fenster als Vorhang und Fahne,
Meiner Stirn als kühlenden Kranz.
Durch Italiens Pracht und Zypressen
Hinwandl ich, die Blicke gesenkt,
Und ob mich auch jeder vergessen –
Du, du hast Erbarmen geschenkt!
 
O gieß deine strahlenden Küsse
Vom Himmel herab in die Welt,
Leuchtfeuer durch Finternisse,
Das Abgrund um Abgrund erhellt.
Hoch über den Bergen und Stegen,
Schau, Flammenseele, uns zu,
Auf fremden verworrenen Wegen
Bewach und beschütze uns, du!
 
Hüll Frankreich in goldene Ranken
Und die Herzen, die dort mir vertraun,
Und laß meinen Sohn in Gedanken
Das Auge der Mutter erschaun.
Gieß Licht in sein Suchen, sein Sehnen,
Doch weint er um mich, weint vor dir –
O Stern, so sammle die Tränen
Und schütte sie aus über mir!


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Hab Dank, mein Gott

Ich kam auf Erden, wo ich schreite,
An mehr als eine Schlucht, ich fiel,
Dann rief mein heißer Schrei ins Weite,
Mein Gott, mein Vater war sein Ziel.
Und sanft und liebreich glitt hernieder
Ein Abgesandter deiner Huld
Und half mir aus dem Dunkel wieder –
Mein Gott, zahl du ihm meine Schuld!

Ich sah auf Erden, wo ich weine,
Manch Auge, drin ein Beten stand;
Gott selber sprach aus seinem Scheine –
Ich sah in dieses Himmelsland,
Darin viel heller Stern erstrahlte,
Und lernte Mitleid und Geduld
Und hatte nichts, womit ich zahlte.
Mein Gott, bezahle du die Schuld!
 
Ich fand auf Erden, wo ich singe,
Oft Herzen voller Harmonie;
Verborgne Muse, deren Schwinge
Gefaltet bleibt, so lauschen sie
In Nachsicht meiner armen Leier,
Und sind voll Sanftmut und Geduld;
Mein Lied ward stolz durch sie und freier –
Mein Gott, bezahle meine Schuld!
 
Ich traf jedweden Tag auf Erden
Das Große Heer des Elends an,
Sah Waisenkinder bresthaft werden
Und todessiech und sterben dann.
Wie vieles Leid mußt ich erschauen!
Mein Blick erschrak und wandte sich,
Mein Herz jedoch spricht voll Vertrauen:
Sieh an, mein Gott, gib du für mich!  

 
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An jene, die weinen

Vor allem ihr, nehmt hin mein Mitgefühl,
Ihr Ungeliebten, Schwestern ihr im Leide!
Nehmt sie: den Traum der Tränen Liederspiel,
Dies bittersüße, traurige Geschmeide.
 
Im Buch hier, seht, liegt eine Seele fest;
Macht auf und lest und zählt die Leidenstage!
Ihr Weinenden auf Erden, kommt und preßt
Aus dieser Asche Glut, die mit euch klage.
 
Singt! Frauensang bringt vielen Schmerz zur Ruhe.
Liebt! Mehr als Liebe bringt der Haß Verderben.
Gebt! dem Erbarmen fliegt die Hoffnung zu:
Solang man geben kann, will man nicht sterben.
 
Vermögt ihr eure Tränen nicht wie ich
Zu schreiben – oh, dann schenkt sie diesen Zeilen.
Verzeihn ist Beten! So entschuldigt mich,
Daß diese Blätter eng mein Schicksal teilen.
 
Ihr meint, wer sein Gefühl in Worten sagt,
Der sei verächtlich, der sei nicht bei Sinnen?
Der Vogel singt – wird er drum angeklagt?
Mehr sanft als rasend scheint mir sein Beginnen.


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