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Literatur


04.2


Gedichte
Emil Verhaeren

Die geträumten Dörfer 1911

 



Der Schnee

Schnee fällt ohne Unterlaß.
In armen, langen Wollenfäden fällt
er auf das arme, langgestreckte Feld,
kalt in Liebe und heiß in Haß.
 
Der Schnee fällt unbeirrt,
eintönig, wie die Sekunde
sich in die nächste verliert;
der Schnee fällt Stunde auf Stunde
über die Scheunen, über die Häuser,
immer eintöniger, immer leise,
und deckt in Myriaden die Kirchhofshügel
mit dichtem, weißen, verschwiegenen Siegel.
 
Der bösen Jahreszeit Schurzfell wird
da oben gelöst und geschüttelt;
das Schurzfell der Leiden rüttelt
der Sturm, der über den Dörfern schwirrt.
 
Nun geht der Frost bis auf die Knochen;
an die Hütten und an die Herzen pochen
Elend und Schnee, alle beide;
zu den kalten Herden, den glutlosen Seelen,
geht der schwere Schnee im schimmernden Kleide,
zu den Seelen, die welken in dumpfigen Höhlen.
 
An den unendlich gewundenen Wegen
sind in Todesschweigen die Dörfer gelegen;
der großen Bäume verschlungener Reigen
winkt, von kristallener Last gebogen,
sacht mit salzbehangenen Zweigen;
dicht von weißem Moos überzogen,
tauchen die alten Mühlen wie Fallen
am Himmel auf, wundersam;
und unten kämpfen Giebel und Dächer
tapfer gegen des Sturmes Fächer
schon, seit November kam;
indes noch immer auf die armen Weiten
die großen, langen, schweren Flocken gleiten.
 
Und der Schnee zieht seine unendliche Strecke
über jeden Weg und in jede Ecke;
der ewige Schnee mit dem Leichentuch
zieht blaß im blassen Begräbniszug
blutlos, begehrend und unfruchtbar
im flatternden Vagabundenhaar
durch den Winter der Welt auf immerdar.

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Der Schreiner

Der Schreiner, ältester Weisheit voll,
zieht und zeichnet Quadrate und Kreise
beharrlich, damit er beweise,
wie es die Seele beginnen soll,
daß sie gewissen Einblick erhält
in die zweifellosen Gesetze der Welt.
 
Sein Schild, ein riesiger Kompaß, schmückt
sein Haus im Dorf da unten und zückt
als Wappen zwei spitze Zeiger von Gold,
blank wie aus der strahlenden Sonne geholt.
 
Mit Händen, die fest sind, behend und stet,
bereitet der Schreiner sich sein Gerät;
auf Dunkel streut er noch Dunkelheit,
indes seine Blicke, klar hinter Brillen,
gerad und scharf auf sein Wirken zielen,
auf Kleinigkeit über Kleinigkeit.
 
In seinen vergitterten Fenstern weilt
das Licht nur zu kleinen Quadraten geteilt,
und sein Laden, der alt wie er selbst ist, muß
leben vom Lebensüberdruß.
 
Er ist der Gewohnheit untertan,
die über sein Hirn das Grübeln spann,
solang seine stumpfen und geistesleeren
eintönigen hundert Jahre währen.
 
Kärglich mit ein paar armen Maschinen,
mit Zeichen, die schirmend zugleich ihm dienen,
mit kupfernen Zirkeln und hölzernen Kegeln,
mit eines frommen alten Buches Regeln,
mit dem Kreuz, das er mitten hindurchzieht quer,
sagt der Schreiner das Weltall her.
 
Er hat sich Tag über Tag gekränkt;
die Augen alt und den Geist beschränkt;
er hat Anhängsel und Winkel ersonnen,
hat Federn, in denen die Tücke schnellt,
in sein schwierig verbautes Werk versponnen
und auf den Gipfel Gott gestellt.
 
Er hobelt seine Beweise zurecht
und schneidet jede Antwort entzwei;
und seiner Gründe Rasesrei
durchbohrt der Nächte Goldgeflecht.
 
Er lehrt in Sprüchen; er kündet
das Rätsel des Daseins, begründet,
wie es kommt, daß der Stoff sich findet.
 
Er blinzelt in die nie erforschten Flammen,
gibt ihnen stützend einen neuen Namen
und glaubt, daß Wahrheiten der Erde kamen.
 
Er ist der Meister in Wechselgesprächen;
er kann den menschlichen Geist zerbrechen
und ihn teilen in feindliche Flächen;
er hat den Menschen sauber geglättet,
mit übertriebnen Gründen gekettet
und in sein starres System gebettet.
 
Mit dem Schreiner Tor an Tor
wohnen der Arzt und der Pastor,
die sich Beweise, die stets miteinander streiten,
aus seiner Arbeit, die sie nicht durchschaun, erbeuten
 
Keine Unmöglichkeit mehr blieb,
die er nicht in sein Schubfach trieb;
nach einer trüben Glaubensstrenge
fügt sie sich seiner Weisheit Enge.
 
Sein beflissenstes, bestes Geleite?
Die schwankenden Leute, die stammelnden Leute,
die für kärgliches Kupfergeld
bei ihm ihr letztes Labsal bestellt.
 
Er lebt von dem Schild, das sein Dorfhaus ziert,
von dem Kreis und dem Gold, das darüber irrt,
er gibt nur auf den kreischenden Laut noch acht
des Glöckleins, das seine Tür bewacht.
 
Er schnitt und er feilte früh und spät
eine Wissenschaft, die aus Trotz besteht;
ein Wissen, das eng im Kirchspiel gefangen
ohne Glanz ist und ohne Bangen.
 
So daß mit dem Tag, an dem er stirbt,
auch sein Werkzeug zerbricht und verdirbt;
und seine Kinder spielen
mit der Ewigkeit, die er gebaut und besaß
durch das Lineal und das Winkelmaß.

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Der Türmer
 
Der Turm
schwenkt auf seinem First das Kreuz durch den Dunst
und schleudert weit in des Himmels Strecken
glühend die Mähne der Feuersbrunst.
Lodernd leuchtet der nächtliche Flecken.
Die Gesichter der jäh auftauchenden Massen
füllen mit Furcht und Geschrei die Straßen;
und die Mauern, die alle blinken und scheinen,
trinken Blut mit den schwarzen Steinen.
 
Der alte Türmer wirft mit mächtigem Läuten
seine Verzweiflung in die unendlichen Weiten.

Der Turm
wächst auf dem Horizont, der sich wiegt,
und in purpurnen Lichtern fliegt
er über Seen und Moor;
seine Schiefern - Schwingen, die kühn
schwebende, flatternde Funken sprühn, -
fliehn in der Nacht durch der Wälder Tor.
Aus schwarzen Gründen
tauchen Strohdächer und entzünden
sich hell, und im Sturze des Firstes fällt
das Kreuz in den Hügel von Schutt und Glut,
der die christlichen Arme voll Wut,
als ein Opfer, ihm zerrt und quält.

Der alte Türmer läutet so stark er kann,
als fielen seinen Gott die Flammen an.

Im Turm
höhlt das Feuer einen Trichter, dessen
Flammen steigend schon den Stock gewinnen
und das Gewölbe schon durchwehn, darinnen
die Glocke springt und schnellt, von ihrem Zorn besessen.
Unter langen und tollen Geschrei
flattern Eulen und Krähen vorbei;
mit den Köpfen gegen die Fenster drängend
und im Rauch sich den Flug versengend,
werden sie jählings matt und erschreckt
tot im Schwellen der Menschenwellen
zum Grund gestreckt.

Der alte Türmer schaut die Hände von kochendem
Gold
der Feuersbrunst, die seine Glocken holt.

Der Turm
ist wie ein Dickicht von roten Gebüschen,
dessen Zweige lohn
und sich gezückt in die Klangdämpfer mischen;
das wilde, zuckende Feuer hat schon
wie ein rankender Pflanzenbogen
sich um Bretter und Bohlen gezogen
und um der riesigen Balken Reihn,
von denen die Glocken läuten und ihre Tollheit
schrein.

Der alte Türmer läßt in Bangen und Todesqualen
für seinen eigenen Tod seine sterbenden Glocken
schallen.

Den Turm,
von Schutt und Asche nun grau,
trifft ein Stoß, der entscheidet,
der seinen Bau
in zwei Teile von oben bis unten schneidet.
Wie ein Schrei, der Gewalt erleidet,
reißt das Läuten ab.
Der alte Glockenturm scheint, ganz schwarz auf
einmal, zu zittern;
wie in Gewittern
hört man das Grollen
der Glocken rollen
ins Erdreich herab.

Der alte Türmer hat sich nicht geregt.

Und die Glocke, die mit machtvollem Stoß
den Boden traf und ihn als Sarg umschloß,
hat ihn im Fallen in sein Grab gelegt.

 
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