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Literatur


04.2


Gedichte
Emil Verhaeren

Die geträumten Dörfer 1911

 

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Die Alte

Blätter fallen über die Wege
wie abgeschnittene Hände hin;
fallende Blätter überziehn
Fluren, Wiesen und des Walds Gehege.
 
Leis trippelt die Alte nun
mit der Krücke über die Heide;
Kopf und Gestalt umhüllt beide
das Mäntelchen von Kattun.
 
Maulwürfe, Wiesel, Ratten und Mäuse
gehen mit und unterhalten sich leise;
Stämme und Dickicht erwachen und leben;
Reiher und silberne Tauchenten schweben
vor ihr und regen das Flügelheer
kriegerisch, schimmernd, bedeutungsschwer.
 
Keiner weiß um ihr Heimatland.
Eines Sonntags hat ein Zigeunerchor,
auf Landstraßen wandernd, sie wiedererkannt.
Ob ihre Ränke dereinst die goldenen Nixen umwarben?
Nichts ist gewiß, als daß ihre Hände, die Blumen verdarben,
in versunkenen Zeiten einst ein Priester beschwor.
 
Sie hat seitdem sich ihr Los erwählt
auf dem Hügel, der über der Ebene hält.
Jeder weiß, daß ihr Blick auf die Höfe zielt
durch die verstaubenden Fensterscheiben,
wenn sie nachts mit den wirren Strähnen, dem Treiben
ihrer Güte und ihres Grolles spielt.
 
Ihr Dach scheint ein Vogel, den Sturmgewalt
arm und zermalmt an die Dünen schlug,
daß er gekrümmt und mit lahmem Flug
sich voll Zorn in den Sand gekrallt.
 
Von Nebel unendlich durchdrungen,
fallen die Blätter wie Hände
auf Wege und Niederungen
ohn Ende.
 
Sie geht, ob man sie liebe oder hasse,
unbeirrt ihres Schicksals Straße;
sie kann zum Rätsel, zur Klarheit werden
nach ihren unbestimmten Gebärden;
sie sieht Freude und Qualen stumm.
Die, deren Aug verborgene Tiefen mißt,
werden euch ssagen, warum
sie die Seele des Landes ist.
 
Seele voll Schwermut, trotzige Seele in Waffen,
die über den Abgrund gebeugt, verlornes Geheimnis
entsiegelt,
die sich in den zersprungenen Spiegeln spiegelt,
in denen toter Weisheit Schätze schlafen;
Seele, die Morgendunst und Abendnebel umfluten,
Seele, von tückischem Haß, von lauernder Liebe durchglüht,
die unterwegs zum Bösen oder Guten
wie eine Plündrung durch die Lande zieht.
 
Von Nebel unendlich durchdrungen,
fallen die Blätter wie Hände
auf Wege und Niederungen
ohne Ende.
 
Die Alte weiß, daß man sie rufen wird,
wenn Verzweiflung wild über jene irrt,
die auf Erden nur noch in die weißen,
grausigen Knochen des Elends beißen;
wenn Keime von Krankheit auf Nordostschwingen
durch die Ritzen des Tores dringen
und auf den schläfrigen Hof sich senken
und nie mehr an den Abschied denken;
oder wenn scharfe Gewittergeschütze,
flackernde Lichter und bleiche Blitze
von Kopf bis zu Fuß die Stämme der alten,
kraftumgürteten Linden spalten.
Die Alte kennt alles, was gelingt,
ohne daß Gott seine Hilfe bringt;
und sie weiß, wie mächtig das Schweigen ist,
das seine Leidenschaften verschließt
und aus Augen, die grau sind, scheu und kalt,
seine Blicke wirft wie aus dem Hinterhalt.
 
Die Alte geht weiter; ihr Schatten,
der großgeflügelte, zieht
durch Dunkel und Dickicht mit.
Und Wiesel, Feldmäuse, Ratten
laufen unheimlich, ihr untertan,
flink, wie ihr Wink es wollte,
als Herolde
voran.
 
Jeder Wirbelsturm, jedes Wetter gärt
in ihrem Hirn, eh es die Welt durchfährt.
Die Alte glaubt sich erhaben, gefeit,
wie ein Ding, das gemacht ist aus Ewigkeit,
in Einklang mit den Wäldern, Wassern, Flächen;
aus ihrem Haß und ihrem Mitleid brechen
die Strömungen, nach denen von den Dingen
und den Geschicken sich die Wandlungen verschlingen.
 
Wenn sich nachts um der Dünen Schultern die kalten
und glatten Haare des Mondes falten,
wacht sie auf bei der Lichter Blauen
und zückt ihren Willen weit über Meilen und Auen.
Nach den alten Ländern mit Mitternächten von Feuern
fühlt sie verzaubert ihre Seele steuern,
so machtvoll, daß sie oft die Zukunft kündet,
daß sie die Freude und das Leid ergründet,
die mit den dunkeln und den lichten Zeichen
schwarz oder golden durch die Wolken streichen.
 
Von Nebel unendlich durchdrungen,
fallen die Blätter wie Hände
auf Wege und Niederungen
ohn Ende.
 
Und erlag sie des Todes Tücke,
wird die Tochter, wird die Schwester der Alten
auf denselben Wegen den Rundgang halten,
in demselben Kleid, mit derselben Krücke.
Eine andere Stimme spricht
dann das Wort, das jene vergaß;
denn die hundertjährige Alte,
die über die Dörfer wallte,
setzt sich fort ohne Unterlaß.

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Das Schweigen

Seit der Sommer den letzten Schlag geführt
durch der Wolken Scheide,
hat das Schweigen sich nicht gerührt
aus der Heide.
 
Ringsum spielen die Türme all
in den Fernen mit ihren Glocken Ball;
ringsum streifen wandernd Gefährte,
müde mit dreifacher Last beschwerte;
ringsum an der Tannengehege Rand
knirscht das Rad durch die Furche im Sand;
aber kein Laut und kein Lärm trifft
den Raum, dessen Strecken der Tod vertieft.
 
Seit sich der Sommer verzog mit seiner Donner Gewicht,
rührt das Schweigen sich nicht.
Und die Heide, in die sich die Abende tauchen,
führt es weiter, jenseits von Sandbergketten
und von Dickichten, endlos und unbetreten,
bis dahin, wo die fernsten Fernen rauchen.
 
Selbst die Winde rauschen nicht aus den Zweigen
der alten Lärchen da, wo das Schweigen
starr im Moor, das der Schlaf versiegelt,
seine unfaßbaren Augen spiegelt;
nur die Wolken auf ihrer Reise
streifen mit stummen Schatten es leise,
oder von großen Vögeln ein Zug
schwebt hoch oben mit zögerndem Flug.
 
Seit dem letzten versengenden Blitzesstreich
drang nichts ein in des Schweigens Reich.
 
Und die seinen riesigen Raum durchschritten,
ob sich um sie Morgen ob Abend spannte,
haben alle das Unbekannte,
dessen Fieber sie überkam, gelitten.
Eine Kraft der höchsten und weitesten Reiche,
bleibt es ununterbrochen das gleiche.
Dunkle Mauern von schwarzen Tannen verlegen
den Blick nach den fernen Hoffnungswegen;
große verträumte Wacholder lassen
wie ein Graun den stockenden Wandrer erblassen;
in tückischen Linien und Krümmungen schleichen
Pfade, die verzwickt sind wie Zeichen;
und die gleißende Sonne spielt
mit dem Spiegel, nach dem die Verirrung zielt.
 
Seit des Blitzes gewittergeschmiedetes Schwert
zuletzt es traf, hat aus den vier Ecken der Heide
sich das herbe Schweigen nicht weggekehrt.
 
Die alten Hirten, auf die ein Jahrhundert gefallen,
und ihre Hunde, die uralt wie in Lumpen zerfallen,
sehen es oft durch die lautlosen Weiten
auf den Dünen von Gold, die Schatten verbrämen,
still in die Nacht, ein Ungeheures, gleiten,
so daß die Wasser sich, versteckt im Moore, schämen,
daß die Heide erbleicht und sich dichter verhüllt,
daß jedes Blatt an jedes Strauches Rand
lauscht und der sterbenden Sonne Brand
den Schrei erstickt, der wild aus seinen Lichtern quillt.
 
Und unter dem Stroh ihrer Hütten spüren
alle die Weiler, die es berühren,
seinen fernen und furchtbaren Bann;
regungslos, ist es ihr Herr und Tyrann.
Tief von Ohnmacht und Angst durchdrungen,
ducken sie sich, von ihm bezwungen,
wie auf der Lauer, und sehn es grauend,
wenn durch Nebel, die mild auseinanderfließen,
wie Augen, groß aus de Monde schauend,
seine Rätsel silbern ihr Licht ergießen.

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