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Literatur


04.2


Gedichte
Emil Verhaeren

Die geträumten Dörfer 1911

 

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Der Irrfahrer

Als der Knecht, vom Hof verwiesen,
den Blick verstört und das Herz zerrissen,
floh über des Tores Schwelle,
entfloh
aus lichter Hülle auch der Herrin Seele.
 
Die Tote, deren ganzes Wesen so
dem blonden Knecht gehört, den ihre Liebe meinte,
ward abends aufgebahrt bei Lärm und Pracht;
das weiße Wachs der großen Kerzen weinte
neben des schwarzen stolzen Sarges Nacht.
 
Darauf schloß der Erde Rinde
dicht sich über ihrer Sünde;
und der Pächter, der müde sein Haus betrat,
entschlummerte auf ihrer Lagerstatt.
 
Von Antwerpen bis Trebizonde durchmaß
der tote Knecht die Welt, und sein Haß
ging mit in das Land, wo neues Gold
aus den Händen in die Gehirne rollt
und berauscht wie ein starker Wein.
 
Jahre und lange Jahre lang
trank er das Gold wie Gift in sich hinein,
daß es in seinen Adern die Rache
kochender, unversöhnlicher mache.
 
Ein Tag kam, der ihn zwang,
nach seinem Glockenturm, nach seines Landes Flächen
blutrünstig von Gold wieder aufzubrechen.
 
Der Hof lag in Verlassenheit,
seitdem die zögernde Hand der Zeit
auch über den Pächter Tod gestreut.
 
Da regte
der blonde Knecht geduldig seine Hände;
sorgfältig breitete er um das Haus,
um morsche Mauern und verfaulte Wände
das Blumenkleid der alten Tage aus.
Er zierte weiß das Haus und grün die Türen
und ließ um offne Fenster Läden klirren;
er ließ von Licht umhüllt
den Giebel scheinen durch des Weinstocks Lohn,
und im Gemach,
wo Liebe sich und dann der Tod erfüllt,
richtete er das Bett hoch auf wie einen Thron.
 
Tage gingen langsam den Tagen nach;
als es Herbst war, ließen mit Zögern und Stocken
von ihren Türmen die Glocken
den Tag ihm frei, der von Erinnrung sprach.
 
Der blonde Knecht ging auf den Kirchhof hin
und suchte Sie in ihrem Grab,
in deren Blicken es nur Licht für ihn,
in deren Herzen es nur Klarheit gab.
Er richtete sie vor sich auf, so groß
und hoch im Leichentuch, das sie umschloß,
und wie erschreckt von seiner Tat, die fast
ihm heilig schien, floh er mit seiner Last.
 
Er trug das geliebte Skelett ans Bette
und legte es sanft auf das weiße Leinen;
der dicken Würmer fließende Kette
wollte ihm wie ein Gewand erscheinen,
das in Schleifen und Ringen die Hüften umgab:
die langen, rotschimmernden Haare, verrissen,
erstarrt und zerrieben im Grab,
wurden warm unter seinen Küssen.
In seinen Armen, die sie nicht vergessen,
hielt er die Tote fest wie einst zur Zeit der Freude,
und auch die Gegenwart ward voll von ihrem Wesen.
 
Des Zimmers stiller Raum blieb ihnen gut;
und seine Seele, zart wie feine Seide,
umgab die Schlummernde in weicher Flut.
 
Die Lampe wollte gern den klarsten Schimmer schenken;
sie wußte wohl von jenem Jahr der Liebe
und brannte hold, als ob das Angedenken
erloschnen Glücks durch ihre Flammen stiebe.
Die großen Schränke, die in alten Nischen
mächtig standen wie ernsthafte Zeugen
von Einst und Jetzt und der Zeit dazwischen,
blickten starr in gebietendem Schweigen;
und das Kleinod heimlichster Wonnen lag
sicher gehütet in ihrem Fach.
 
Da ward dem blonden Knecht sein Leben klar;
er wußte es in diesem Augenblick,
daß sein Geschick
mit dieser Stunde nun vollendet war.
 
Seine Hände fühlten sie nicht,
und seine Augen sahen sie nicht;
aber durch lauschende Stille hin
klangen bebende Liebesworte,
und vor der Leiche lag er auf den Knieen;
vor ihr, vor ihr, die Alles ihm gewesen
und die nun lebend war, weil Liebe, unermessen,
herabstieg bis an ihres Grabes Pforte
und sie dem Tag, dem lichten, wiedergab.
 
Tief beugte er sich über sie herab,
als hoffte er, ein altes Wort zu hören,
und sprach dann fort, indem er Antwort gab.
Die Stirne schien ein Lichtschein zu verklären;
die kleinen Füße, der Nägel sich
groß und gespenstisch durch die Laken rissen,
deckte er zu, daß sie kein Frost umstrich.
Dann trieb es ihn, sie wiederum zu küssen:
den zarten Hals, das schmale Schulterpaar,
die Brust, die nun vom Tod verwüstet war.
Er schluchzte laut, als sei Geist verbannt
im Meer des Lichts, das seine Sehnsucht fand;
und lange trank sein ungestümer Mund
an ihren Zähnen sich sein Dürsten wund.
Und Blumen, die sie zwischen grünen Hecken
in alter Zeit gesäet, wollten sie nun bedecken,
in Dankbarkeit die Seelen zu ihr strecken,
und dufteten so sehr;
wie Pilger, die zu teuren Stätten wallen,
ließen die Rosen ihre Blätter fallen,
daß sie sich in die toten Hände stahlen
und ihre Finger küßten, traumesschwer.
 
Und draußen hielten hohe Pappeln Wacht;
das Mondlicht reckte ihres Schattens Speere,
damit er sicherer das Haus bewehre
in der feuchten Oktobernacht.
Zu hoch, um seinen großen Flug zu schauen,
durchstrich ein Vogelzug die Wolkenauen
und wandte sich weiter, sacht;
indes auf dem Hof und an den Straßen
in den Fenstern schon Morgenlichter saßen,
blutende Wunden im Herzen der Nacht.
 
Als die Dämmrung nahte, jung und klar,
um mit Licht den Morgen vollzugießen,
Tagesaugenlider aufzuschließen,
schien der blonde, tolle Knecht zu wissen,
daß die Geliebte tot und daß ihn ihre Seele
erwarte, wo er nicht war.
Er warf die armen Blumen auf die Schwelle
und stieg ins Bett und legte wild und stolz
das Feuer an sein welkes Holz.
 
Die Flamme zögerte noch; sie kroch
träge, wie von Reue gezügelt,
und schlug dann in herrischen Zungen hoch,
lodernd, verbrämt und triumphbeflügelt
und ward allmächtig wie Sturmesrasen.
Klar sprach der blonde Knecht zum letztenmal
die Worte aus, die alles Leben fassen,
und legte sich, nun alles ringsum lohte,
unter das Leichentuch und in die Tote.
 
Und die Feuersbrunst trieb über die Dächer
des Hofes ihre gewaltigen Flammen
und schlug über Mauern und Fenster zusammen
in wildem furchtbaren Riesenfächer.
Und Menschen gingen zur Messe im Morgenrot
und wußten nichts von der Erde Not
und daß im Verrinnen der Nacht ein Mann
ihrem ewigen Schoße Gewalt getan.

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Der Seiler

In seinem Dorf, das den Deichen zu Füßen liegt,
deren Müdigkeit sich darüberschmiegt,
um in das Meer sacht zu gleiten,
verbindet vorsichtig im Rückwärtsschreiten
der Seiler, der weiße, der seherische,
der fernen Fäden verwirrtes Gemische,
das seine Hand in Behutsamkeit
heranzog aus der Unendlichkeit.
 
Da unten
in dieses Abends innigen, müden Stunden
hört man nicht mehr als eines Rades Knarren;
von unsichtbarer Hand wird es gefahren;
und über die ebenmäßigen Rechen,
die Punkt auf Punkt durch die Straßen stechen,
breitet ununterbrochen
freundlich der Hanf seine klaren
Ketten durch Tage und Wochen.
 
Mit armen Fingern, die flink geblieben
und die bangen, das Gold zu zerstieben,
das des Lichtes Gang in ihr Mühen spann,
zieht, soweit sich Gehöfte und Häuser schieben,
der Seiler, der weiße, der seherische,
tief aus des Abends Gewühl und Gezische
die Horizonte zu sich heran.
 
Die Horizonte? Sie sind weit:
Reue, Zürnen, Haß und Streit;
sie sind voll schrecklichen, schluchzenden Schalls,
die Horizonte von ehemals,
klar oder krampfverzerrt
aus der Vergangenheit, Gebärden gleich, gekehrt.
 
Einst ging das Leben irr, in dichten Schlaf verschlossen,
durch Abende, durch Morgen, die Dämmrung kaum verließ,
als nach dem lichten Land, wo Milch und Honig flossen,
den goldnen Pfad der Ferne die Rechte Gottes wies.
 
Einst hing das Leben riesengroß und drohend
an wilder Hengste Mähne, deren Tritt,
bei jedem Hufschlag groß von Blitzen lohend,
unendlich mit des Raums Unendlichkeiten stritt.
 
Das Leben schaute einst, inbrünstig und erweckend,
des Himmels und der Hölle Kreuze, rot und weiß,
durch Blut und durch den Glanz der Rüstungen sich reckend,
nach ihrem Himmel suchen und ihrem Siegespreis.
 
Einst wand das Leben schäumend sich in Krämpfen,
voll Sturmgeläut, Verbrechen und Klage Schlag auf Schlag,
durchzuckt von Krieger- und von Mörderkämpfen,
indessen toll und prächtig der Tod darüberlag.
 
An der Felder von Flachs und von Weiden Rand,
auf dem Weg, in die tiefste Ruhe gebannt,
läßt, soweit Gehöfte und Häuser stehn,
der Seiler, der weiße, der seherische,
tief aus des Abends Gewühl und Gezische
die Horizonte durch seine Hände gehen.
 
Die Horizonte? Sie sind weit:
Arbeit, Forschung, Inbrunst, Streit;
die Horizonte zeigen vorüberfliegend
auf eilender Fahrt
In den Spiegeln der Abende liegend
das trauernde Bild der Gegenwart.
 
Hier tost und wogt ein wilder Ball von Feuern,
mit dem ein Bund von Weisen ringt, gewillt,
Götter zu stürzen und den Traum des Weltalls zu erneuern,
auf den der große Kampf der Wissenschaft zielt.
 
Hier ist ein Raum, wo die genau erkannte,
gerichtete Erfahrung feststellt, daß
leblose Luft das Firmament sich spannte
und daß der Tod aufkeimt im winzigsten Gelaß.
 
Hier sind Fabriken, wo rot die Materie siedet,
zittert und rollt, in Keller eingezwängt,
in denen stöhnend sich das neue Wunder schmiedet,
das bald die Nacht, die Zeit, den Raum verdrängt.
 
Hier steht ein Schloß erschlafft von Bau und Maßen,
von dem Jahrhundert matt, das lastend auf ihm liegt,
aus welchem Stimmen, groß von Graun und Rasen,
bang das Gewitter rufen, das toll vorüberfliegt.
 
An der Straße, die stumm und gerade geht,
mit dem Blick, der noch nach dem Lichte steht,
das scheidend um Häuser und Höfe rann,
Zieht der Seiler, der weiße, der seherische,
tief aus des Abends Gewühl und Gezische
die Horizonte zu sich heran.
 
Die Horizonte? Sie sind weit:
Licht, Erweckung, Hoffen, Streit;
die Horizonte, die in der Zukunft Falten
hell wie Hoffnungen sich gestalten
jenseits der Gestade,
die im Abend glühn durch Wolkenpfade.
 
Da oben in der reinsten Ferne lenken
zu goldner Höhe blau zwei Stufenreihn die Flucht;
beide erklimmen sie das Träumen und das Denken,
die auf getrenntem Pfad den gleichen Flur gesucht.
 
Da oben bleicht der Blitz von Stoß und Gegensätzen;
sacht öffnet sich des Zweifels trübe Hand;
die Regeln, deren Feuer sich in Fetzen
bekämpfen, einen sich und wissen sich verwandt.
 
Da oben zielt der Geist nicht mehr auf Scheingebilde
und weiß des Todes Jenseits. Ruhig schlägt 
das Herz und fühlt, wie eine große Milde
in ihrer Hand des Schweigens Schlüssel trägt.
 
Da oben wird der Gott, der jede Seele füllte,
stark und in Strahlen allen offenbar,
die je niedergekniet, wo die innige demutumhüllte
Liebe oder des Schmerzes Helligkeit war.
 
O Frieden, schimmernder, der auf die Abendweiten
des Glückes Maß aus lichten Schalen sprüht,
nun aus der grauen Luft gleich ferner Hoffnung Scheiten
der Sterne nächtlich großer Brand erglüht!
 
In seinem Dorf, das den Deichen zu Füßen liegt,
deren Müdigkeit sich darüberschmiegt,
zieht bis in der wühlenden Ferne Bann
der Seiler, der weiße, der seherische,
Häuser und Höfe entlang das Gemische
der Horizonte zu sich heran.

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