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Literatur


04


Gedichte - Sagenpoesie




Die weiße Frau

Man sagt, es lässt die weiße Frau
Sich hier und dorten wieder sehen;
Durch mehr als einen Fürstenbau
Mit fahlem Antlitz soll sie gehen.
In weißer Robe, weiß verbrämt,
Tritt sie aus Wänden und aus Bildern;
Dastehn die Wachen wie gelähmt,
Die in den Korridoren schildern.

Wem gilt ihr abermalig Nahn
Rings in den Reichen und Provinzen?
Sagt sie, wie sonst, ein Sterben an?
Tod eines Fürsten oder Prinzen?
Es könnte sein – ich weiß es nicht!
Die Rede geht: Ein tiefrer Jammer
Treibt sie hervor ans Tageslicht
Aus ihrer dunst'gen Totenkammer!

Sie schwebt durch Schlafgemach und Saal,
Sie beugt sich über goldne Wiegen,
Sie sieht den Herrn und sein Gemahl
Auf seidnen Pfühlen schlummernd liegen.
Sie haucht ihn an: »Was schlummerst du?
O, dass du sähest meinen Kummer!
Die Ohren taub, die Augen zu –
Ach, ewig find' ich dich im Schlummer!

Auf, mein Geschlecht! – Hör', wie weithin
Ein Schrei gellt, den du selbst beschworen!
Durch meiner Särge doppelt Zinn
Fühlt' ich ihn spitz mein Herz durchbohren!
Es ist der Schrei, den um sein Recht
Das Volk erhebt – annoch in Treuen!
Du schläfst sehr fest, o mein Geschlecht,
Zu überhören solch ein Schreien!

Die Toten weckt es in der Gruft –
Herr Gott, und die Lebend'gen schlafen!
Abschüttl' ich Staub und Moderduft:
Ich möchte wecken, warnen, strafen!
Ich hab' nicht Rast, ich hab' nicht Ruh' –
Eil', o mein Stamm, dich zu erheben!
Der Mund des Todes ruft dir zu:
Erfasse frisch und kühn das Leben!

Du tätest besser, in der Tat,
Frei das Panier ihm zu entfalten,
Als am verwitterten Brokat
Von meiner Bahre dich zu halten!
O, lass ihn fahren, eh' dich's reut!
Blick' aus nach Stützen, jüngern, festern!
Mehr wärmt ein Bauernwams von heut,
Als Hermelin und Samt von gestern!

O, schrecklich war, was ich beging
Auf meinem Schloss zu Orlamünde!
Dass ich als Schatten geh' und ging,
Es ist ja nur für jene Sünde!
Die eignen Kinder, lieb und lind,
Bracht' ich ums Leben dort, o Grauen!
Doch du auch würgst ein lächelnd Kind –
Du mordest deines Volks Vertrauen!

Lass ab, lass ab – o sieh nicht fort!
Lass ab – es fleht, es hebt die Hände!
Lass ab – dass neuer Kindermord
Des Hauses alten Ruhm nicht schände!
O glaub': entsetzlich ist ein Fluch!
Er lastet auf der Brust wie Berge!
Er sengt wie Wetterstrahl! – Genug!
Ich kehr' zurück in meine Särge!

Da seh' ich lustig über mir
Die Welt mit Blumen und mit Gräsern!
Sarg und Gewölbe, Schloss und Tür –
Ich starr' hindurch, als wär' es gläsern!
O, dass die Blumen je und je
Als Kranz um deine Schläfe lachten!
Dass ich sie nimmer blutig säh' –
Blutig durch dich und dein Missachten!«

Sie senkt das Haupt, sie ringt die Hand,
Als ob ein Ahnen dumpf sie quäle.
Durch zwiefach Schloss und Teppichwand
Huscht sie davon, die arme Seele.
In weißer Robe, weiß verbrämt,
Schwebt sie vorbei den Ahnenbildern;
Dastehn die Wachen wie gelähmt,
Die in den Korridoren schildern!

Ferdinand Freilingrath
St. Goar, Januar 1844





oben
____________________________
Gedicht: "Die Weiße Frau", Ferdinand Freilingrath,
aus: Werke in sechs Teilen, Band 2, Berlin u. a. (1909),
S. 46 - 48, gemeinfrei

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Fish Gravy, 2008, Licence CC 2.0

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