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Literatur


04.3


Geschichten - Wilhelm Busch

Der Schmetterling


Der Schmetterling 2

Erst die Mittagssonne des nächsten Tages öffnete mir die Augen. Und wahrhaftig, da saß er schon wieder, drei Schritt weit weg, mein kunterbunter Schmetterling, auf einem violetten Diestelkopfe, und fächelte und ließ seine ausgebreiteten Flügel verlockend in der Sonne schimmern. Mit kunstvoller List schlich ich näher. Vergebens. Genau eine Sekunde vorher, eh ich ihn erreichen konnte, flog er ab wie der Blitz, und dann noch einmal und noch einmal, und dann Fiwitz! mit einem eleganten Zickzackschwunge weg war er über eine haushohe Dornenhecke.

"Zu dumm!" dacht ich laut, denn ich war sehr erhitzt. "So ein klein winziges Luder, will sich nicht kriegen lassen, ist extra zum Wohle des Menschen geschaffen und verwendet doch seine schönen Talente nur für die eigenen selbstsüchtigen Zwecke. Es ist empörend!"

Im Eifer der Verfolgung hatt' ich den einen Stiefel im Sumpf stecken lassen, und zwar so tief, so dass ich erst eine Zeitlang tasten und grabbeln musste in der schwarzen Suppe, ehe ich ihn wiederfand. Ich schüttete den Froschlaich heraus, wusch mich und ging nun, nachdem ich mich abgekühlt und besänftigt hatte, in einem gemäßigten Bummelschritte einem fernen Hügel entgegen, über den sich als heller Streifen die Landschaft hinzog. Hier hofft ich ortskundige Leute zu treffen, die mir sagen konnten, wie ich nach Hause käme.
 
Auf einem Meilensteine saß ein älterer Mann, der eine ungewöhnlich breitschirmige Mütze trug. Zwischen seinen Knien hielt er einen grauhaarigen Hund.
"Guter Vater!" sprach ich ihn an. "Ich möchte gern nach der Stadt Geckelbeck."
"Genehmigt" gab er zur Antwort.
"Könnt Ihr mir vielleicht zeigen, wo der Weg dahin geht?"
"Ne!" ich bin rundherum blind."
"Schon lange?" fragte ich teilnahmsvoll.
"Fast neunundfünfzig Jahr - nächsten Donnerstag ist mein dreiundfünfzigster Geburtstag."
"Was? Schon sechs Jahre vor Eurer Geburt?"
"Sogar sieben, richtig gerechnet. Ich wollte schon damals gern in die Welt hinein, tappte im Dunkeln nach der Tür, fiel mit dem Gesicht auf die Hörner des Stiefelknechts, und das Unglück war geschehen."
"Dann lasst Euch raten, Alter!" sagte ich. "Und schielt nicht zu viel nach hübschen Mädchen, denn das hat schon manchen Jüngling zu Fall gebracht."
"Fass!" schrie der Blinde und ließ den Hund los.



Ich nahm aber die Frackschöße unter den Arm, steckte mein Schmetterlingsnetz nach hinten zwischen die Beine durch, wedelte damit und ging so in gebückter Stellung meines Weges weiter, eine Erscheinung, die dem Köter so neu und unheimlich vorkam, dass er mit eingeklemmten Schweife sofort wieder umkehrte.

Vor mir her schritt ein Bauer, der weder rechts noch links schaute, und da er einen ernsten, nachdenklichen und vertrauenserweckenden Eindruck machte, beschloss ich, an ihn eine Frage zu richten.

"He!" rief ich. Er gab nicht acht darauf. "He!" rief ich lauter. Er ließ sich nicht stören in seinen Betrachtungen. Jetzt, als ich dicht hinter ihm war, klappte ich ihm mein Netz über den Kopf. Oh, wie erschrak er da. Ich hörte deutlich, wie ihm das Herz in die Kniekehle fiel.

"Könnt Ihr mir nicht sagen, guter Freund, wo Geckelbeck liegt?" fragte ich und hob das Netz. Er hatte sich umgedreht. Er kniff die Augen zu, riss den Mund auf, sodass seine dicke, belegte Zunge zum Vorschein kam, streckte die Daumen in die Ohren, spreizte die Finger aus und schüttelte traurig mit dem Kopfe.

"Döskopp!" rief ich in meiner ersten Enttäuschung, sah aber dabei ungemein freundlich aus.
Der Taubstumme, der dies wohl für einen verbindlichen Abschiedsgruß hielt, zog ergebendst seine Zipfelkappe, obgleich er eine bedeutende Glatze hatte.

Der Abend kam. Auf einem Acker rupfte ich mir ein halb Duzend Rüben aus, und da ein starker Tau den Boden benetzte, stieg ich in eine Tanne, band mich fest mit den Frackschößen und machte mich sodann über die saftigen Feldfrüchte her, dass es knurschte und knatschte. Von der letzten, bei der ich entschlummert war, hing mir die Hälfte nebst dem Krautbüschel noch lang aus dem Munde heraus, als ich am anderen Nachmittag wieder erwachte. Schnell stieg ich herab, erfrischte mich an einer Quelle und kehrte auf die Landstraße zurück. Ich befand mich in der heitersten Laune; ich wusste es, eine innere Stimme sagte es mir. Dir wird heute noch besonders Gutes passieren.

In diesen angenehmen Vorahnungen störten mich die Klagelaute eines Bettlers, der, den Hut in der Hand, auf mich zukam.

"Junger Herr!" bat er. "Schenk mir doch was. Ich habe sieben Frauen - ach ne! sieben Kinder und eine Frau, und meine Eltern sind tot, und meine Großeltern sind tot, und meine Onkels und Tanten sind tot, und ich habe niemanden in dieser weiten, harten, grausamen Welt, an den ich mich wenden könnte, als grad Euch, schöner Herr."

Bei diesen Worten erwärmte sich meine angeborene Großherzigkeit. Ich hatte siebzehn einzelne Kreuzer im Sack. Mit dem Gefühl einer behaglichen Erhabenheit warf ich zehn davon in den Filzhut des Bettlers. Kaum war dies geschehen, so nahm er einen Kreuzer wieder heraus und legte ihn mir vor die Füße.

"Hier mein Bester", sprach er, "schenk ich Euch den zehnten Teil meines Vermögens. Seid dankbar und vergesst den edlen Geber nicht, der sich bescheiden zurückzieht."

Nach kurzer Erstarrung lief ich hinter dem Kerl her, um ihm einen Tritt auf die Wind- und Wetterseite zu geben. Aber er hatte die Tasche voller Steine. Er traf so geschickt damit, dass mir, trotzdem ich das Netz vorhielt, schon beim zweiten Wurf ein ganz gesunder Vorderzahn direkt durch den Hals in die Luftröhre flog, worauf ich wohl eine Stunde lang husten musste, ehe ich ihn wieder herauskriegte.

Ich pflückte mir Felderbsen in mein Netz, ließ die grünen, angenehm kühlen Pillen durch die entzündete Gurgel rollen und füllte mir so zugleich den begehrlichen Leib mit jungem Gemüse. Dann zog ich mich in ein Gehölz zurück und legte mich, das Gesicht nach oben, schlichtweg zur Ruhe nieder.

Den folgenden Tag hätt' ich sicher verschnarcht, wär mir nicht gegen Mittag ein Maikäfer in den weit geöffneten Mund gefallen. In dem Augenblick, als er sich anschickte, in die Tiefen meines Wesens hinunter zu krabbeln, erwachte ich. Der Wind schüttelte die Wipfel.

Übrigens knurrte mein Magen wegen fader Beköstigung, und so machte ich mich denn auf und ruhte nicht eher, bis ich in ein Wirtshaus gelangte, wo ich mir eben für meine letzten Kreuzer etwas Derbes bestellen wollte, als ein wohlgemästeter Bauer, der sehr lustig aussah, in die Stube trat und sich zu mir an den Tisch setzte.

"Euch ist wohl!" sag ich.
"Mit Recht!" sagt er. "Hab den Schimmel verkauft auf dem Markt."
"Brav's Tier vermutlich."
"Das grad nicht. Alle Woche mal, oder wenn's ihm grad einfällt, haut er die Sterne vom Himmel herunter und den Kalk aus der Wand."
"Da habt Ihr den Käufer jedenfalls gewarnt."
"Was!" entgegnete der Bauer und wurde ganz traurig und niedergeschlagen. "Gott erhalte jedem ehrlichen Christenmenschen seinen gesunden Verstand. Seh ich wirklich so dumm aus?"
"Hört mal!" sag ich. "Dann seid Ihr ja einer der größten Halunken, die auf den Hinterbeinen gehn zwischen Himmel und Hölle."
"So hör ich es gern!" rief der Bauer und sein Gesicht klärte sich auf. "Gelt ja? Ich bin ein Teufelskerl. He, Wirt! Gebt diesem netten Herrn ein belegtes Butterbrot und ein Glas Bier auf meine Rechnung."

Während ich aß, fiel es mir auf, dass der Mann beständig durchs Fenster schielte. Plötzlich schien ihm was einzufallen. Er zahlte und sagte, er müsste notwendig mal eben hinaus, aber er käme gleich wieder. Kaum war er fort, so hörte man ein hastiges Pferdegetrappel von der Landstraße her. Ich trat vor die Haustür. Ein Schimmelreiter ohne Hut war angekommen und fragte ganz außer Pust:
"War kein Bauer hier mit einem dicken Bauch, einem Stock und einer dicken Uhrkette?"
"Das stimmt!" sag ich. "Er ging nur mal eben zur Hintertür hinaus."
"So ein Hundsfott!" schrie der Reiter. "So ein Mistfink! Lobt und preist mir der Kerl den Schimmel an, der den Teufel und seine Großmutter im Leib hat."
"Ja!" sag ich gelassen. "Dummheit muss Pein leiden."
Krebsrot vor Zorn hob der Schimmelreiter die Peitsche. Ich schwenkte mein Schmetterlingsnetz.


Auf dieses Zeichen schien der Schimmel gewartet zu haben. Er vergrellte die Augen, spitzte die Ohren, ging verquer, ging rückwärts, er drückte ein Fenster ein unter starkem Geklirr, er wieherte hinten und vorn, und dann, mit einem riesigen Potzwundersatze, weg war er über die Planke.
Ich lief, um nachzusehen, vor den Hof. Der Schimmel war nur noch ein undeutlicher Punkt ganz in der Ferne; der Reiter hing deutlich im Pflaumenbaum ganz in der Nähe.

Die folgende Nacht verschlief ich unter einer Wiesenhecke. Eine Grasmücke, das graue Vöglein mit schwarzem Käppchen, weckte mich in der Früh durch seinen lieblichen Gesang. Ich blieb noch liegen und horchte. Durch Zweige und zierliche Doldenpflanzen sah ich in die sonnige Welt. Heuschrecken geigten an ihren Flügeln, indem sie die Hinterbeine als Bogen benutzten. Schwebefliegen blieben stehn in der Luft und starrten mich an aus ihren Glotzaugen. Endlich erhob ich mich und nahm in einem klaren Wassertümpel mein Morgenbad. Natürlich, grad wie mir's am wohlsten drin ist, kommt mein ersehnter Schmetterling dahergeflogen und flattert mir neckisch vor der Nase herum. Ich heraus, zieh mich an, eile ihm nach, von Wiese zu Wiese, den ganzen Tag bis dicht vor ein Städtchen. Hier schwang er sich über die Stadtmauer, noch in die Lüfte, nach dem Wetterhahn hin auf der Spitze des Kirchturms.



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Textgrundlage: "Der Schmetterling" Wilhelm Busch.
Werke: Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bde. I - IV,
Band 4, Hamburg 1959 - gemeinfrei

Quelle: zeno.org

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