Erst
die
Mittagssonne des nächsten Tages öffnete mir die Augen. Und wahrhaftig,
da saß
er schon wieder, drei Schritt weit weg, mein kunterbunter
Schmetterling, auf
einem violetten Diestelkopfe, und fächelte und ließ seine
ausgebreiteten Flügel
verlockend in der Sonne schimmern. Mit kunstvoller List schlich ich
näher.
Vergebens. Genau eine Sekunde vorher, eh ich ihn erreichen konnte, flog
er ab
wie der Blitz, und dann noch einmal und noch einmal, und dann Fiwitz!
mit einem
eleganten Zickzackschwunge weg war er über eine haushohe Dornenhecke.
"Zu
dumm!" dacht ich laut, denn ich war sehr erhitzt. "So ein
klein winziges Luder, will sich nicht kriegen lassen, ist extra zum
Wohle des
Menschen geschaffen und verwendet doch seine schönen Talente nur für
die
eigenen selbstsüchtigen Zwecke. Es ist empörend!"
Im
Eifer der Verfolgung hatt' ich den einen Stiefel im Sumpf stecken
lassen,
und zwar so tief, so dass ich erst eine Zeitlang tasten und grabbeln
musste in
der schwarzen Suppe, ehe ich ihn wiederfand. Ich schüttete den
Froschlaich
heraus, wusch mich und ging nun, nachdem ich mich abgekühlt und
besänftigt
hatte, in einem gemäßigten Bummelschritte einem fernen Hügel entgegen,
über den
sich als heller Streifen die Landschaft hinzog. Hier hofft ich
ortskundige
Leute zu treffen, die mir sagen konnten, wie ich nach Hause käme.
Auf
einem Meilensteine saß ein älterer Mann, der eine
ungewöhnlich breitschirmige Mütze trug. Zwischen seinen Knien hielt er
einen
grauhaarigen Hund.
"Guter
Vater!" sprach ich ihn an. "Ich möchte gern nach der
Stadt Geckelbeck."
"Genehmigt"
gab er zur Antwort.
"Könnt
Ihr mir vielleicht zeigen, wo der Weg dahin geht?"
"Ne!"
ich bin rundherum blind."
"Schon
lange?" fragte ich teilnahmsvoll.
"Fast
neunundfünfzig Jahr - nächsten Donnerstag ist mein dreiundfünfzigster
Geburtstag."
"Was?
Schon sechs Jahre vor Eurer Geburt?"
"Sogar
sieben, richtig gerechnet. Ich wollte schon damals gern in die Welt
hinein, tappte im Dunkeln nach der Tür, fiel mit dem Gesicht auf die
Hörner des
Stiefelknechts, und das Unglück war geschehen."
"Dann
lasst Euch raten, Alter!" sagte ich. "Und schielt nicht zu
viel nach hübschen Mädchen, denn das hat schon manchen Jüngling zu Fall
gebracht."
"Fass!"
schrie der Blinde und ließ den Hund los.
Ich
nahm aber die Frackschöße unter den Arm, steckte
mein Schmetterlingsnetz nach hinten zwischen die Beine durch, wedelte
damit und
ging so in gebückter Stellung meines Weges weiter, eine Erscheinung,
die dem
Köter so neu und unheimlich vorkam, dass er mit eingeklemmten Schweife
sofort
wieder umkehrte.
Vor
mir her schritt ein Bauer, der weder rechts noch links schaute, und da
er
einen ernsten, nachdenklichen und vertrauenserweckenden Eindruck
machte,
beschloss ich, an ihn eine Frage zu richten.
"He!"
rief ich. Er gab nicht acht darauf. "He!" rief ich
lauter. Er ließ sich nicht stören in seinen Betrachtungen. Jetzt, als
ich dicht
hinter ihm war, klappte ich ihm mein Netz über den Kopf. Oh, wie
erschrak er
da. Ich hörte deutlich, wie ihm das Herz in die Kniekehle fiel.
"Könnt
Ihr mir nicht sagen, guter Freund, wo Geckelbeck liegt?"
fragte ich und hob das Netz. Er hatte sich umgedreht. Er kniff die
Augen zu,
riss den Mund auf, sodass seine dicke, belegte Zunge zum Vorschein kam,
streckte die Daumen in die Ohren, spreizte die Finger aus und
schüttelte
traurig mit dem Kopfe.
"Döskopp!"
rief ich in meiner ersten Enttäuschung, sah aber dabei
ungemein freundlich aus.
Der
Taubstumme, der dies wohl für einen verbindlichen Abschiedsgruß hielt,
zog
ergebendst seine Zipfelkappe, obgleich er eine bedeutende Glatze hatte.
Der
Abend kam. Auf einem Acker rupfte ich mir ein halb Duzend Rüben aus,
und da
ein starker Tau den Boden benetzte, stieg ich in eine Tanne, band mich
fest mit
den Frackschößen und machte mich sodann über die saftigen Feldfrüchte
her, dass
es knurschte und knatschte. Von der letzten, bei der ich entschlummert
war,
hing mir die Hälfte nebst dem Krautbüschel noch lang aus dem Munde
heraus, als
ich am anderen Nachmittag wieder erwachte. Schnell stieg ich herab,
erfrischte
mich an einer Quelle und kehrte auf die Landstraße zurück. Ich befand
mich in
der heitersten Laune; ich wusste es, eine innere Stimme sagte es mir.
Dir wird
heute noch besonders Gutes passieren.
In
diesen angenehmen Vorahnungen störten mich die Klagelaute eines
Bettlers,
der, den Hut in der Hand, auf mich zukam.
"Junger
Herr!" bat er. "Schenk mir doch was. Ich habe sieben
Frauen - ach ne! sieben Kinder und eine Frau, und meine Eltern sind
tot, und
meine Großeltern sind tot, und meine Onkels und Tanten sind tot, und
ich habe
niemanden in dieser weiten, harten, grausamen Welt, an den ich mich
wenden
könnte, als grad Euch, schöner Herr."
Bei
diesen Worten erwärmte sich meine angeborene Großherzigkeit. Ich hatte
siebzehn einzelne Kreuzer im Sack. Mit dem Gefühl einer behaglichen
Erhabenheit
warf ich zehn davon in den Filzhut des Bettlers. Kaum war dies
geschehen, so
nahm er einen Kreuzer wieder heraus und legte ihn mir vor die Füße.
"Hier
mein Bester", sprach er, "schenk ich Euch den zehnten Teil
meines Vermögens. Seid dankbar und vergesst den edlen Geber nicht, der
sich
bescheiden zurückzieht."
Nach
kurzer Erstarrung lief ich hinter dem Kerl her, um ihm einen Tritt auf
die
Wind- und Wetterseite zu geben. Aber er hatte die Tasche voller Steine.
Er traf
so geschickt damit, dass mir, trotzdem ich das Netz vorhielt, schon
beim
zweiten Wurf ein ganz gesunder Vorderzahn direkt durch den Hals in die
Luftröhre flog, worauf ich wohl eine Stunde lang husten musste, ehe ich
ihn
wieder herauskriegte.
Ich
pflückte mir Felderbsen in mein Netz, ließ die grünen, angenehm kühlen
Pillen durch die entzündete Gurgel rollen und füllte mir so zugleich
den
begehrlichen Leib mit jungem Gemüse. Dann zog ich mich in ein Gehölz
zurück und
legte mich, das Gesicht nach oben, schlichtweg zur Ruhe nieder.
Den
folgenden Tag hätt' ich sicher verschnarcht, wär mir nicht gegen Mittag
ein
Maikäfer in den weit geöffneten Mund gefallen. In dem Augenblick, als
er sich
anschickte, in die Tiefen meines Wesens hinunter zu krabbeln, erwachte
ich. Der
Wind schüttelte die Wipfel.
Übrigens
knurrte mein Magen wegen fader Beköstigung, und so machte ich mich
denn auf und ruhte nicht eher, bis ich in ein Wirtshaus gelangte, wo
ich mir
eben für meine letzten Kreuzer etwas Derbes bestellen wollte, als ein
wohlgemästeter
Bauer, der sehr lustig aussah, in die Stube trat und sich zu mir an den
Tisch
setzte.
"Euch
ist wohl!" sag ich.
"Mit
Recht!" sagt er. "Hab den Schimmel verkauft auf dem
Markt."
"Brav's
Tier vermutlich."
"Das
grad nicht. Alle Woche mal, oder wenn's ihm grad einfällt, haut er
die Sterne vom Himmel herunter und den Kalk aus der Wand."
"Da
habt Ihr den Käufer jedenfalls gewarnt."
"Was!"
entgegnete der Bauer und wurde ganz traurig und
niedergeschlagen. "Gott erhalte jedem ehrlichen Christenmenschen seinen
gesunden Verstand. Seh ich wirklich so dumm aus?"
"Hört
mal!" sag ich. "Dann seid Ihr ja einer der größten
Halunken, die auf den Hinterbeinen gehn zwischen Himmel und Hölle."
"So
hör ich es gern!" rief der Bauer und sein Gesicht klärte sich
auf. "Gelt ja? Ich bin ein Teufelskerl. He, Wirt! Gebt diesem netten
Herrn
ein belegtes Butterbrot und ein Glas Bier auf meine Rechnung."
Während
ich aß, fiel es mir auf, dass der Mann beständig durchs Fenster
schielte. Plötzlich schien ihm was einzufallen. Er zahlte und sagte, er
müsste
notwendig mal eben hinaus, aber er käme gleich wieder. Kaum war er
fort, so
hörte man ein hastiges Pferdegetrappel von der Landstraße her. Ich trat
vor die
Haustür. Ein Schimmelreiter ohne Hut war angekommen und fragte ganz
außer Pust:
"War
kein Bauer hier mit einem dicken Bauch, einem Stock und einer dicken
Uhrkette?"
"Das
stimmt!" sag ich. "Er ging nur mal eben zur Hintertür
hinaus."
"So
ein Hundsfott!" schrie der Reiter. "So ein Mistfink! Lobt
und preist mir der Kerl den Schimmel an, der den Teufel und seine
Großmutter im
Leib hat."
"Ja!"
sag ich gelassen. "Dummheit muss Pein leiden."
Krebsrot
vor Zorn hob der Schimmelreiter die Peitsche. Ich schwenkte mein
Schmetterlingsnetz.
Auf
dieses Zeichen schien der Schimmel gewartet zu
haben. Er vergrellte die Augen, spitzte die Ohren, ging verquer, ging
rückwärts, er drückte ein Fenster ein unter starkem Geklirr, er
wieherte hinten
und vorn, und dann, mit einem riesigen Potzwundersatze, weg war er über
die
Planke.
Ich
lief, um nachzusehen, vor den Hof. Der Schimmel war nur noch ein
undeutlicher Punkt ganz in der Ferne; der Reiter hing deutlich im
Pflaumenbaum
ganz in der Nähe.
Die
folgende Nacht verschlief ich unter einer Wiesenhecke. Eine Grasmücke,
das
graue Vöglein mit schwarzem Käppchen, weckte mich in der Früh durch
seinen
lieblichen Gesang. Ich blieb noch liegen und horchte. Durch Zweige und
zierliche Doldenpflanzen sah ich in die sonnige Welt. Heuschrecken
geigten an
ihren Flügeln, indem sie die Hinterbeine als Bogen benutzten.
Schwebefliegen
blieben stehn in der Luft und starrten mich an aus ihren Glotzaugen.
Endlich
erhob ich mich und nahm in einem klaren Wassertümpel mein Morgenbad.
Natürlich,
grad wie mir's am wohlsten drin ist, kommt mein ersehnter Schmetterling
dahergeflogen und flattert mir neckisch vor der Nase herum. Ich heraus,
zieh
mich an, eile ihm nach, von Wiese zu Wiese, den ganzen Tag bis dicht
vor ein
Städtchen. Hier schwang er sich über die Stadtmauer, noch in die Lüfte,
nach
dem Wetterhahn hin auf der Spitze des Kirchturms.