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Literatur


04.3


Geschichten - Wilhelm Busch

Der Schmetterling


Der Schmetterling 3

Der Abend dämmerte bereits. Auf dem Walle lief ein Mann hin und her, einsam und unruhig. Er hatte den Zeigefinger an die Stirn gelegt und sagte in einem fort das ABC her, bald vor-, bald rückwärts. Ehe ich ihm ausweichen konnte, stieß er mir mit dem Kopf vor die Brust. Nun riss er die Augen weit auf und schrie mich an:"Ha! Wie heißt er?"
"Ich heiße Peter!" sag ich.
"Nein, er, er, mit dem ich vor zehn Jahren im Monat Mai drei Wochen lang herumgewandert bin an der polnischen Grenze."
"Gewiss ein Herzensfreund."
"Nein, gar nicht."
"Oder er ist Euch was schuldig."
"Keinen Heller."
"Na!" sag ich. "Dann nennt ihn Hans und lasst ihn laufen, wohin er will."

"Mensch!" rief er. "Ich bin Ausrufer in dieser Stadt. Lesen kann ich nicht; meine Frau sagt's mir vor, bis ich's auswendig kann; läßt's Gedächtnis nach, ist der Dienst verloren. Neulich, beim Kaffee, ich stecke die Pfeife an, da, so beiläufig, denk ich:  Der, der, wie heißt er nur gleich? Und da hat's mich gehabt. Und ich sah ihn doch so deutlich vor mir, als wär's heut oder übermorgen. Er war links und kratzte sich auch so; er zwinkerte immer mit dem linken Auge, und sein linkes Bein war krumm, und im linken Ohrläppchen trug er einen Ring aus Messing, und Schneider war er auch. Oh, der Name, der Name!"

Die Beschreibung passte genau auf meinen früheren Meister.
"Hieß er nicht Knippipp?" sag ich so hin.
Ein heller Freudenblitz zuckte über sein blasses Angesicht. Mit den Worten: "Knippipp, ich habe dich wieder!" fiel er mir um den Hals und weinte einen Strom von Freudentränen hinten in meinen Kragen, dass es mir ganz heiß den Rücken hinabrieselte.

In der Fülle seiner Dankbarkeit ersuchte er mich, ihn nach Hause zu begleiten und bei ihm zu übernachten; wie freuten sich seine Frau und seine Kinder, als sie sahen, dass sie wieder einen vergnügten und brauchbaren Vater hatten.

Zu Abend gab es Zicorienkaffee mit den üblichen Zutaten. Die Kinder tranken sehr viel, und ich meinte, es sei wohl nicht ratsam, wenn sie kurz vor dem Schlafengehen so viel Dünnes kriegten; aber die Eltern waren der Ansicht, man müsse dem Drange der Natur freien Lauf lassen.

Als wir fertig waren, baten die drei Kleinsten: "Nicht wahr, Papa? Wir schlafen bei dem fremden Onkel!"

So geschah es denn auch. Die Nacht, die ich unter diesem gastlichen Dache zubrachte, war eine der unruhigsten, wärmsten und feuchtesten Sommernächte, die ich jemals erlebt habe.

Bei Anbruch des Tages tranken wir wieder gemeinsam Kaffee und aßen Brot mit Zwetschenmus dazu. Die Kinder waren sehr zutunlich; besonders der Zweitjüngste spielte gar traulich zwischen meinen Frackstößen herum.

Dass meine einfachen Gastgeber, von denen ich einen zärtlichen Abschied nahm, über die Lage von Geckelbeck auch nicht die mindeste Auskunft zu geben vermochten, hatt' ich mir gleich gedacht. So beschloss ich denn, eh ich wieder ins Weite zog, mich in der Stadt etwas näher zu erkundigen.

Ohne Erfolg befragt ich einen Lehrjungen, der die Läden aufmachte; einen Betrunkenen, der nach Hause ging, einen Großvater, der die Hand aus dem Fenster hielt, um zu fühlen, ob's regnete. Zu guter Letzt wollt ich noch mal eben an eine vertrauenserweckende Haustür klopfen. Im selben Moment wurde diese aufgestoßen, und ein Dienstmädchen goss den Spüleimer aus. Hätt' ich nicht flink die Beine ausgespreizt und einen ellenhohen Hupfer getan, so wäre mir der vermischte Inhalt direkt auf den Magen geplatscht. Auf meine Anfrage wischte sich das gesunde Mädchen freilich mit seinem roten Arm ein paarmal nachdenklich unter der Nase her; indes von Geckelbeck wusste sie nichts, und einen, sagte sie, der es wüsste, wüsste sie auch nicht.

Ich schlenderte zum Tor hinaus. Von der Morgensonne beschienen, mitten auf der Chaussee, war eine Gesellschaft von Sperlingen mit der Obsternte beschäftigt. Es waren jene bemerkenswerten Früchte, genannt Rossäpfel, welche winters und sommers reifen. Dieser Anblick erinnerte mich lebhaft an meine ländliche Heimat.
Jetzt, dachte ich, sitzen sie wohl da um den Tisch herum und verzehren ihr Morgensüppchen und denken: Wo mag der Peter sein? Und der Vater wischt sich schweigend den Mund ab mit dem Rockschlappen, und der Gottlieb geht hin und mistet den Pferdestall, und mein gutes Kathrinchen füttert die Hühner, und das schwarze mit der Holle frisst ihr das Brot aus der Hand, aber das gelbe ohne Schwanz will nicht mitfressen, sondern steht traurig und aufgeplustert abseits, auf einem Bein, denn es hat noch immer den Pips.

Einige dicke, heimwehmütige Tränen, ich muss gestehn, rannen mir langsam über die Backen herunter. Ich zog das Taschentuch und rieb mir gründlich mein Angesicht. Es wurde mir so sonderbar schwarz vor den Augen, und jetzt merkt ich, was los war. Das kleine, liebevolle Söhnchen meines vergesslichen Gastfreundes hatte dem fremden Onkel, eh er Abschied nahm, noch heimlich in sein rotes, baumwollenes Sacktuch einen tüchtigen Klecks Zwetschenmus eingewickelt und mit auf die Reise gegeben. Ich sah mich nach Wasser um.

Ei, sieh! Am Stamm eines Kastanienbaumes saß mein neckischer Schmetterling.

"Sitz du nur da!" murmelte ich verächtlich aus dem linken Mundwinkel. "Ich will dich nicht, und ich möchte dich nicht, und wenn du die Prinzessin Triliria selbst wärst und brächtest bare fünfhundert Gulden mit in die Aussteuer und keine Schwiegermutter."

Aber schon war ich in Schleichpositur und gleich darauf in vollem Galopp. Inmitten eines kleinen Teiches endlich ließ sich das bunte Flattertier auf einem Schilfbüschel nieder und klappte seelenruhig die Flügel zusammen. Mindestens zwei Stunden lang saß ich am Ufer und wartete. Vergebens macht ich öfters kischkisch! Und Steine zum Werfen waren nicht da. Endlich zog ich mich aus, nahm das Netz quer in den Mund und schwamm vorsichtig näher.

Unterdes machte ich eine Entdeckung, die mich veranlasste, in Eile wieder umzukehren. Es war ein Blutegelteich. Bereits waren meine Beine und sonstigen Körperteile gespickt mit begierigen Säuglingen, und wohl, mir, dass eine Grube voll Streusand in der Nähe lag, worin ich mich wälzen konnte.

Als die Viecher den Sand zwischen die Zähne kriegten, was ja niemand gern hat, ließen sie sofort locker und purzelten rücküber in den Staub, welcher sie dermaßen austrocknete, dass sie bald zehnmal dünner waren als vorher und tot obendrein.

Währenddem saß mein Schmetterling auf seinem Schilfstengel, als wollt er daselbst in aller Ruhe den Rest seiner Tage verleben mit voller Pension.
Schnell zog ich mich an und eilte in den Wald, um mir einen dürren, handlichen Ast zu holen. Einer lag da, der war ganz morsch; ein zweiter lag da, der war mir zu zackicht, ein dritter saß noch am Baume fest. Ich hätte übrigens gar nicht so stark dran zu reißen brauchen, denn schon beim ersten Ruck gab er nach, sodass ich mit unerwarteter Geschwindigkeit auf dem zweiten zackichten zu sitzen kam, der glücklicherweise ebenso morsch war die der erste.

In der Hand den erwählten Knittel, lief ich nun unverzüglich an den Teich zurück, um durch einen wohlgezielten Wurf den hinterlistig geruhsamen Schmetterling aus seiner Sicherheit aufzuscheuchen. Sein Platz stand leer. Ich legte mich hin, wo ich stand und schlief sofort ein, trotz meines Ärgers und des vernehmlichen Gebells meines unbefriedigten Magens.

Ausnahmsweise recht früh, schon im Laufe des Vormittags, erwachte ich. Nachdem ich mir das Zwetschenmus, das inzwischen zu einer harten Kruste erstarrt war, mit Sand aus dem Gesichte gerieben, denn ich zog doch eine Reinigung auf trockenem Wege einer solchen mit dem Wasser des verdächtigen Teiches vor, begab ich mich auf die Suche nach einem Rübenacker, wo ich zu frühstücken gedachte. Ich fand einen Landmann dasitzend, der eben sein Sacktuch aufknüpfte und für den Morgenimbiss ein erhebliches Stück Speck entwickelte. Sofort sammelte sich in meiner Mundhöhle die zur Verdauung so nützliche Feuchtigkeit. Ich bot ihm drei Kreuzer, wenn er mir was abgäbe. Er tat's umsonst, fügte noch eine knusprige Brotrinde hinzu und wünschte mir gute Verrichtung.

Munter dreinschauend spazierte ich weiter. Den letzten Rest der Mahlzeit, nämlich die treffliche, zähe, salzige Schwarte, schob ich hinter die Backenzähne, sodass ich die Freude hatte, noch eine Zeitlang dran lutschen zu können.

Dicht vor einem Dörflein begegneten mir zwei unbeschäftigte Enten, die lediglich zum Zeichen ihres Vorhandenseins durchdringend trompeteten. Da ich nunmehr die Schwarte bis aufs äußerste ausgebeutet hatte, nach menschlichen Begriffen, warf ich sie hin. Die geistesgegenwärtigste der zwei Schnattertaschen erwischte sie und eilte damit, vermutlich weil sie nichts abgeben wollte, durch das Loch in einer Hecke. Die zweite, die wohl auch keinem anderen was gönnte, wackelte emsig hinterher. Ich, natürlich als Naturbeobachter, legte mich auf den Bauch und steckte den wissbegierigen Kopf durch die nämliche Öffnung.

Mir gegenüber, an einer gemütlichen Pfütze, sah ich zwei Häuschen stehn, und jedes Häuschen hatte ein Fenster, und hinter jedem Fenster lauerte ein Bub, ein roter und ein schwarzhaariger, und vor jedem Häuschen erhob sich ein beträchtlicher Düngerhaufen, und auf jedem Düngerhaufen stand ein Gockel, ein dicker und ein dünner, inmitten seiner Hühner, die eben ihre Scharrtätigkeit unterbrachen, um gespannt zuzusehen, was die zwei Enten da machten.

Vergebens bemühte sich die erste, durch Druck und Schluck die Schwarte hinter die Binde zu kriegen; sie war grad so um ein Achtelzöllchen zu breit. Hiernach durfte die zweite, die mit neidischer Ungeduld dies Ergebnis erwartet hatte, ans schwierigeWerk gehn. Schlau, wie sie war, tauchte sie das widerspenstige Ding zuerst in die Pfütze, um's glitschig zu machen, und dann streckte sie den Schnabel kerzengrad in die Höhe und ruckte und zuckte; aber es ging halt nicht; und dann kehrten die beiden Enten kurz um und rüttelten verächtlich mit den Schwänzen, als sei ihnen an der ganzen Sach überhaupt nie was gelegen gewesen.



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Textgrundlage: "Der Schmetterling" Wilhelm Busch.
Werke: Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bde. I - IV,
Band 4, Hamburg 1959 - gemeinfrei

Quelle: zeno.org

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