Geschichten
Max
Dauthendey
In einem überheißen August kam ich über die Alpen
durch
Tirol an den Gardasee.
Ehe man in Torbole oder Riva aussteigt, hat der
Zug
hinter Mori ein ungeheueres, von einem vorzeitlichen Bergsturz
verwüstetes
Gesteinstal durchklettert, darin ein grüner sterbender Seetümpel liegt.
Dort an
den zackigen Steinblöcken, die um den Tümpel liegen und zu Tausenden
das Tal
füllen, lebt auch noch im Sonnenschweigen vor deinem inneren Ohr das
Gekrach
und Gedröhn jener furchtbaren Minuten auf, als hier einst in grauester
Vergangenheit ein Berg den anderen erschlagen wollte. Man glaubt, ein
wahnwitziger Fluch sei damals ausgestoßen worden und habe rundum die
Steine und
die Bergwände in Bewegung gesetzt.
Die Legende erzählt, dass sich Dante hier den
Eingang zur
Hölle vorgestellt hätte, den er in der Göttlichen Komödie schildert.
Wie
ungeheuerliche, versteinerte Qualen, wie ein himmelragender
steinerner Dornenkranz starrt das spitzige, verwitterte Gebirge, von
Wolken
umraucht, im Norden des Gardasees in den Himmel. Es sieht aus, als
wären
höllische Blitze und höllische Erdbeben die Baumeister dieser
Bergungetüme
gewesen.
Während im Süden der Gardasee sich in breiter
sonniger
Fläche dem heiteren Himmel Italiens und unendlicher Fruchtbarkeit
entgegenstreckt, ragen im Norden die kahlen Alpenketten wie Ambosse der
Götter
in den Himmel, und es ist, als würden dort furchtbare Schicksale
geschmiedet.
Freunde hatten mir geraten, in Torbole zu wohnen,
wo
viele Österreicher im Sommer baden, und wo am See ein lustiges Leben
herrscht.
Andere hatten mir das stillere Malcesine empfohlen, das am Fuß einer
Burg bei
schönen Gärten liegt.
Ich kannte den Gardasee noch nicht, und nachdem
ich mir
die beiden Orte angesehen, war mir der eine zu lebhaft, der andere zu
langweilig schön. Und eines Morgens ließ ich mich von einem Schiffer
auf die
Seefläche segeln, um hier zwischen Himmel und Wasser zu überlegen und
Entschlüsse zu fassen, wo ich bleiben wollte.
Ich hatte an diesem Morgen zuerst den
Ponalewasserfall
besucht, der unweit Riva, zwischen zwei Felsen eingeklemmt, aus
Himmelhöhe
gegen den See niederstürzt. Da kam mir der Gedanke, dass ich auf dem
Weg nach
Malcesine, auf der anderen Seeseite am Tag vorher, einen Ort hatte
liegen
gesehen, am Fuß senkrechter Felsenwände, und dass mir dort die schönen
Reihen
der weißen Pfeiler von Zitronengärten von weitem aufgefallen waren.
Diese sahen
in der Ferne aus wie die marmornen Tasten einer riesigen Orgel, und
eine
weihevolle Festlichkeit lag über diesen Hunderten von Säulen, die da,
regelmäßig gereiht, die Felsenabhänge schmückten. Eine hübsche Kirche
mit
freistehendem Glockenstuhl und eine Schar dicht gedrängter hellgelber
und
rosenroter Häuser um einen kleinen Hafen, in welchem winzige
italienische
Motorboote lagen, waren mir noch gut in Erinnerung. Den Ort selbst
hatte ich
von meinen Bekannten nie nennen hören, und ich hatte ihn auch im
Reisehandbuch
übersehen. Ich bedeutete nun den Fischer, mich dorthin zu fahren.
Jeder, der in Riva einmal übernachtet hat oder in
Torbole
am Gardasee, weiß, dass ihn dort
nachts, wenn die ersten Sterne heraufziehen, ein seltsames Blitzlicht
in
Erstaunen setzte, das wie ein Wetterleuchten weit draußen mitten in der
Seefläche auftaucht und bis in die Fenster des Hotels hereinleuchtet
und auch
kalkweiß über die Gesichter derer hinstreicht, die am Seeufer im
Dunkeln einen
Abendweg machen.
Der Lichtstrahl sticht Nacht um Nacht an den
beiden
Seiten der Felsenwände hoch, die den See einschließen, und zeichnet für
Sekunden scharf jeden Olivenbaum, jeden Ziegel der einsamsten Hütte am
Felsengehäng und haut, wie ein weißes Schwert zertrennend, einen weißen
Keil in
die Finsternis. Ich musste immer an das Flammenschwert denken, das den
Eingang
zum Paradies bewacht, wenn dieser Lichtstrahl unermüdlich Wasser und
Gebirge
bestrich in allen Stunden der Nacht.
Ich erfuhr dann, dass jenes spukhafte Licht von
den
Scheinwerfern der kleinen italienischen Wachtschiffe kam, die dort, wo
die
Grenze von Italien quer über den See geht, in jeder Nacht hin und her
fuhren,
die Bergscheide und das Wasser nach Schmugglern abzuleuchten. Denn
Tabak und
Zucker wurden gern zur Nachtzeit von Österreich nach Italien
über die Grenze geschleppt.
Die Station dieser Nachtboote befand sich in
jenem
kleinen Ort, zu dem ich wollte, den die Dampfschiffe nur kurz bei der
Rundfahrt
um den See berühren, den nur manchmal einige Segelboote von Riva aus
besuchen,
und in dem sich noch kein Fremdengetriebe breit machte. Hart bei jenem
Ort, ehe
man um einen Felsenabhang segelte, zog sich, an Zitronengärten vorbei,
die
italienische Grenze hin.
Dieses berichtete mir der Schiffer während der
Segelfahrt
und nannte mir den Namen des Ortes, der Limone heißt, dahin er mich
jetzt
bringen sollte.
In der Seemitte packte plötzlich einer jener
Sturmwinde
unser Boot, die dort jählings ohne Vorboten einsetzen und den Segelnden
gefährlich werden können.
Wir flogen in dem kleinen Kahn vor dem Stoßwind
her, und
der See begann zu knirschen; schäumende Wasserwalzen rollten schneller,
als das
Boot fliehen konnte, an uns vorbei; Seile und Segel ächzten und
schienen
zerreißen zu wollen. Der See lebte ungeheuerlich. Seine Wellen schienen
eine
wandernde Tierherde zu sein, die sich durcheinander schob,
und alle Wellentiere schienen nach einer Richtung fortzustürzen.
Knapp, ehe der Sturm seine Höhe erreichte, jagten
wir mit
dem Boot in das kleine Hafenviereck von Limone ein.
Der Wind klirrte und fegte draußen über das
Wasser. Aber
hier in der Bucht war es windstill, schwül und dunstig. Die
Riesenmauern des
Berghintergrundes hielten jeden Windatem ab, und die Zitronen konnten
hier gut
reifen, wie Eier in einem Brutkasten. Das dachte ich, als ich den Fuß
ans Land
setzte.
Land kann man zu dem Erdstreifchen dort nicht gut
sagen,
denn es ist nur spärlich Raum zwischen dem Felsengetürm eines
ungeschlachten Berges
und der Seefläche. Die einzige größere Gasse, die der Ort hat, ist so
eng, dass
sich die Leute von Haus zu Haus die Hände reichen können.
Es war Mittag, und ich begegnete nur einigen
Marinesoldaten der Zollflottille. Die Handwerker arbeiteten, ohne
aufzuschauen,
unter ihren Türen. Ein Esel schrie an einer Straßenecke, und die hohe
Bergwand
drückte beengend die Luft in den Gassen zusammen, in denen es nach
Fischen und
Olivenöl roch.
Der Schiffer führte mich zum einzigen Gasthaus,
das ein
schmuckes altes Herrenhaus war und in einem Blumengarten gegen den See
hin lag.
In der Weltverlorenheit dieses italienischen
Nestes
fühlte ich mich wohl. Es war nichts banal Schönes hier. Aber etwas
Geheimnisvolles, das mich schon aus der Ferne an diesen Ort gelockt
hatte, tat
mir auch jetzt wohl. Es schien mich hier etwas zu erwarten, vielleicht
ein
ungeheurer Schrecken, mit darauffolgendem süßem Aufatmen. Jedenfalls
spürte ich
ein neugieriges und angenehmes Gruseln an diesem totenstillen Flecken,
wo keine
Fremdenschwärme, keine Gasthäuser das Dasein kindisch machten.
Es war mir zumute, wie wenn man nach langen
eintönigen
heißen Tagen ein Gewitter nahen fühlt, das mit seiner großen
elektrischen
Spannung die Welt auf den Kopf stellen, Totes lebendig machen und Leben
in Tod
verwandeln kann.
Ich lese gern in der feurigen Schrift der Blitze.
Wenn
sie ihre großen Aussprüche auf das sonst so leere Blatt des Himmels
schreiben,
so ist mir, als läse ich in den Augen alter Propheten, und Schrecken
und
Erschütterungen, die sie über der
Alltagswelt verbreiten, machen mich fruchtbar. Gewitter stärken mein
Herz.
Und unsichtbare Seelengewitter schienen hier in
dem
stillbrütenden, der Welt unbekannten kleinen Ort auf den Fremden zu
lauern. Vom
Augenblick an, da ich mich entschloss, durch den Schiffer, der mich
hergesegelt, meinen Koffer aus Torbole holen zu lassen und hier in
Limone zu
bleiben, kam ich mir wie ein gewaltiger Unglückssucher vor. Wie einer,
der in
eine unterirdische Tropfsteinhöhle eingedrungen ist, die nur wenige vor
ihm
betreten haben, und die ihn in ein unheimliches Labyrinth lockt.
Zwei Dinge, die ich liebe, waren es, die mich
bestimmten,
in Limone zu bleiben. Das erste war meine Vorliebe für den Duft von
Zitronen
und Zitronenblüten, das zweite meine Sehnsucht nach brütender Wärme.
Von diesen beiden Genüssen wurde ich reichlich
hier
gesättigt. Aber ich erwartete mehr als nur Gefühlsbefriedigungen. Ich
weiß,
dass aus Hitze und Duft Gebilde im Menschenhirn entstehen, wie aus den
verschiedenen Elektrizitäten zweier Wolken die Blitze.
Auch war es mir wunderbar, jetzt an dem Ort zu
sein, von
dem nachts das große flammende Schwert des Scheinwerfers auf den See
hinausgesendet wurde. Hier im Hafen lagen die kleinen Eisenboote, die
die
Seewache hatten von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang. Und ich fühlte
mich wohl
dabei, dass ich mich nicht mehr zu dem Lichtschein, der mich in Torbole
nachts
immer aufschauen gemacht und in die Ferne gelockt hatte, hinsehnen
musste. Ich
war jetzt dort, wo das nächtliche Feuer geboren wurde.
Der Wirt des Gasthauses, der zugleich
Bürgermeister war,
hatte ein langes Tiergesicht, und sein Körper war so sonderbar gebaut,
dass er,
wenn er vor mir stand, aussah, als stünde er bis zu den Knien im
Erdboden.
Er war noch jung, einige dreißig Jahre alt, sah
aber müde
aus wie jene grauen nickenden Esel, die lange schweigen und plötzlich
ohrenbetäubende Schreie ausstoßen können. Dieser Mann war aber sonst
ein
angenehmer, höflicher und sorgsamer Wirt und arbeitete tagsüber in
seinem gut gepflegten
Garten, in welchem Oleanderbäume, Bambus, Geranienbüsche, Rosen und
Myrten zu
Seiten eines langen beschatteten
Weinlaubenweges standen. In diesem grün überwölbten Weg hingen dicke
dunkle
Trauben, und am Ende lag dicht vor der weißen Steinschwelle und den
weißen
Steinpfosten der Gartentür das blaue Wasser des Sees wie ein
abgrundtiefer
Himmel.
An der einen Seite des Gartens war eine
überlaubte
Spielbahn, wo nachmittags die italienischen Soldaten, Sizilianer,
Neapolitaner,
Genuesen, schwarzhaarige und braunhäutige Kerle, zwischen Vesper und
Abendläuten mit viel Lachen und Witz ihr Boccia spielten.
Die Küche des Gasthauses war bescheiden, der Wein
gut und
feurig. Mein steingepflastertes Zimmer, sauber und geräumig, sah nach
dem See
und dem Berg Monte Alto. Die Tageszeiten in Limone wurden nicht bloß
durch das
viele Läuten der Kirche eingeteilt, sondern auch von dem dreimaligen
Vorüberfahren der großen Passagierdampfer, die täglich die Rundreise um
den See
machten.
Unter einem großen japanischen Mispelbaum im
Garten bei
der Haustreppe nahm ich meine Mahlzeiten ein. Und hier spielten sich
auch die
Szenen jenes inneren Gewitters ab, das ich beim Betreten jenes
schwülen, scheu
versteckten Ortes vorausgeahnt hatte.
Nach dem Mittagessen am Tage meiner Ankunft,
nachdem ich
auf meinem neuen Zimmer ausgeruht hatte, schlenderte ich in der
Abenddämmerung
durch den Ort. Als ich aus dem Garten auf die Straße trete, höre ich
ein
Gekicher, und an meiner Seite vorüber läuft ein zwergartiger Mann mit
gewaltigen langen Armen, großem, höckerigem Kopf, wie ein Orang-Utang
anzusehen, in eine Seitengasse hinein.
Ein paar Frauenzimmer, die vor einer Haustüre auf
niedrigen Hockern kauerten, rieben sich mit der Handfläche Mund und
Wangen ab
und deuteten mir mit ihren Augen an, dass der Zwergmensch sie beide
unversehens
eben umarmt und geküsst hatte. Die eine, die Ältere, drohte hinter ihm
her mit
ihrem Holzpantoffel, die andere hatte noch seine Mütze in der Hand, die
sie ihm
wahrscheinlich vom Kopf gerissen hatte, und sie schleuderte die Kappe
dem
Fortstürmenden mit einem kreischenden Zuruf nach.
Ich war verblüfft über die Hässlichkeit des
Zwerggeschöpfes, das sich so männlich und so kindlich zu gleicher Zeit
gebärden
konnte, und das sich jetzt aus der Ferne umschaute, seine Mütze an sich
riss
und den Frauen die Zunge herausstreckte.
Ein wenig weiter fort begegnete ich einem kleinen
verwachsenen Weib, das einen melonengroßen Kopf hatte. Die Frau reichte
mir
nicht bis zur Hüfte. Einen Krug trug sie in der Hand, den sie kaum
schleppen
konnte.
Überall sah ich ähnliche Wesen. Neben den gut
gewachsenen
Gestalten unter den Ladentüren und in den Werkstätten stand oder saß
oder
schabernakte ein koboldartiges Zwergwesen. Es schien mir, als sei jede
Familie
mit solch einem Geschenk der Hölle belastet.
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Textgrundlage: "Das Iguanadon" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus den Vier Winden", Seite 281-359.
wikimedia
Logo 196: "Bodensee", Margaret Hofheinz-Döring, 1964,
Quelle: Peter Mauch. Brigitte Mauch, der Nutzungsinhaber
dieses Werkes, veröffentlicht es hiermit unter der folgenden
Lizenz: CC 3.0
Namensnennung: Margret
Hofheinz-Döring/
Galerie Brigitte Mauch
Göppingen
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