Geschichten
Max Dauthendey
Ich war bei meinem Weg durch die Gasse an alten
eisernen
kleinen Türen vorübergekommen. Die waren nur eine rostige Masse. Das
verwitterte Eisen schälte sich wie die Rinde von Bäumen. Über die
Türschlösser
und Angeln und über das Gitter des Guckloches hingen verfilzte
Spinnweben.
Ganze Familien von großen Kreuzspinnen hausten da seit Jahrhunderten
ungestört.
Auch waren da ebenso zugesponnene und mit rostigen Gittern versehene,
alte,
erblindete Fenstervierecke. An die grauen Mauern dort waren mit
Rötelstift und
Kohle unflätige, brünstige Bilder mit ein paar Linien hingezeichnet,
Bilder,
wie sie nur in den Hirnen dieser ungebändigten und verwilderten
Krüppelgestalten entstehen
konnten.
Als ich in der Abenddämmerung vor den Ort hinaus
unter
alte Olivenbäume kam, die dort in verrenkten Stellungen, verkrümmt und
verwachsen, in Scharen mit ihrem graunebeligen dünnen Laubwerk in den
Bergfeldern stehen, war mir, als seien die Zwerggeschöpfe der Stadt aus
jenen
ungestalten gespenstigen Olivenstämmen geboren worden.
Als in der Dämmerung ein Esel, auf dem ein Weib
und ein
Knabe saßen, mit humpelndem Gang in dem unheimlichen Olivenhain, darin
sich
kein Blatt rührte, auftauchte, schauderte mich, weil ich in diesem
zusammengepackten Tier- und Menschenhaufen wieder neue Verkrüppelungen
zu sehen
glaubte.
Unter dem schleierartigen dünnen Laubgewebe der
Oliven,
deren Zweige sich nicht wiegen, durch die der blasse Abendhimmel fein
zerkritzelt zur Erde sieht, hatte ich das Gefühl, als ob ein Netz von
unheimlichen Erregungen – das mich hier in Limone bald umgeben sollte –
schon
nah über mir hing.
Ich konnte nach kurzer Zeit in dem Hain nicht
mehr
weitergehen. Das stille Grauen in mir
nahm so überhand, dass es mich forttrieb aus dem Kreise der Grimassen
reißenden
Baumstämme, die umherstanden, gespalten und zerschlitzt, dreibeinig und
zehnbeinig, mehr Tieren als Bäumen ähnlich.
Ich wollte lieber zu den krüppligen Menschen des
Ortes
zurückkehren, als hier länger bei den hölzernen Urvätern der Krüppel zu
weilen,
die trocken und herzlos wie halb tote Greise, in sich versunken und in
sich
gekrümmt, den Weg begleiteten, der Schar aller Mühseligkeiten ähnlich,
die
einem lang Lebenden begegnen können.
Zurückgekommen zum eisernen Gitter des
Gasthausgartens
sah ich gegenüber unter der trüben Petroleumlaterne, die als
Straßenbeleuchtung
an einer Hausecke hing, in einem kahlen Ladengelass wieder einen Zwerg
mit
einem Stock stehen. Der Stock war ein Stück größer als der Zwerg, und
es war
doch nur ein gewöhnlicher Spazierstock. Mit diesem Stock deutete der
Krüppel
wichtig und sich höflich verneigend auf einen Tisch, an den er kaum mit
der
Nase hinaufreichen konnte. Dort lagen, sorgfältig nebeneinander
gereiht,
einzelne Birnen, große dicke Kochbirnen, die wir in Deutschland
Katzenköpfe
nennen. An [der
Tischkante stand eine brennende, flackernde Kerze, die in einem
Zinnleuchter
stak.
Der Laden war ganz kahl. Ich hatte beim Fortgehen
vor
einer Stunde diesen Fruchtverkäufer noch nicht bemerkt. Es schien mir,
als habe
er seinen Verkaufsstand eben erst eingerichtet, vielleicht weil er
gehört
hatte, dass ein Fremder ins Gasthaus eingezogen war, was ihn
unternehmungslustig gemacht haben mochte.
Ein paar Schritte weiter bei einem Schuhmacher
kauerte
jener Zwerg, der vorhin die Weiber geküsst hatte; er glotzte in die
beleuchtete
Glaskugel des Schusters, bei deren grellem Blendlicht der Meister und
seine
Gesellen, auf dem Straßenpflaster hockend, arbeiteten.
Die Gassen hinter den beleuchteten Köpfen
verschwanden in
Gewinkel und Finsternis, manchmal geteilt von kleinen Lichtscheinen,
die aus
Türen oder Fensterluken auf das Pflaster fielen.
Auf der Mauer beim Gartentor meines Gasthauses
hockten
zwei andere Zwerge, die mich schweigend und argwöhnisch, wie zwei
aneinanderhängende
Affen, von der Mauerhöhe herunter beobachteten.
Ich war verblüfft über die Unzahl von
Missgeburten und
auch ermüdet von den neuen Reiseeindrücken, sodass ich schweigend
vorüberging
und nur mit einem Kopfnicken die lauten feierlichen Grüße der Krüppel
beantwortete.
Als ich dann in den Garten eingetreten war und
mich zum Abendessen
unter den Mispelbaum setzen wollte, unter eine wenig leuchtende
Petroleumlampe,
die in den Zweigen des Baumes hing, kam der Wirt zu mir und sagte mir,
morgen
würde das Zimmer neben dem meinigen besetzt. Er habe eben mit dem
Abenddampfschiff einen Brief von einer Russin erhalten, die schon
voriges Jahr
den Herbst hier verbracht hatte. Die Dame habe zugleich geschrieben,
dass ihr
das Portemonnaie unterwegs gestohlen worden sei, und der Wirt hatte ihr
noch
mit dem selben Nachtschiff Geld nach Desenzano geschickt, wo sie
übernachten
wollte.
Ich dachte sofort an eine Nihilistin, denn einer
wohlhabenden Russin konnte es wohl kaum einfallen, dieses weltentlegene
Ufernest aufzusuchen und hier einen Herbst zuzubringen; aber später
hörte ich,
dass die Dame die Gattin eines Generals war.
Am nächsten Tag saß ich gegen Mittag auf dem
Steinbalkon,
der gegen den Garten hin vor dem Esszimmer lag, unter dem sich die
Küchenhalle
befand. Ich schrieb Briefe und saß ohne Hut, und die Mittagssonne
brannte auf
meinem Kopf.
Als ich mich später in dem Speisesaal, dessen
Decke mit
bunten mittelalterlichen Malereien, Wappen und Blumen bemalt war, zu
Tisch
setzte, sah ich vor der Glastüre, die auf den Korridor führte, eine
kleine
ältere Dame stehen, die, während sie einen Schleier um ihren Kopf band,
zwischen
den Vorhängen an der Glasscheibe hindurchblinzelte. Dann trat sie ein,
und der
Wirt folgte ihr und stellte sie als die russische Dame vor.
Die Generalin hatte kleine, lebhafte, etwas
belustigt
zwinkernde Augen und machte viele kleine Bewegungen, die ihr etwas
rührend
Kindliches gaben. Als sie sich vor ihren Teller gesetzt hatte, begann
sie
sogleich mit mir eine lebhafte Unterhaltung und erzählte vom Comosee,
von dem
sie eben kam, und vom italienischen Dichter Fogazzaro, den sie dort in
seiner
Villa besucht hatte.
Sie forderte blindlings Interesse von mir, weil
sie sich
für Fogazzaro und den Comosee interessierte.
Aber mein Kopf schmerzte mich. Er wurde schwer, als wollte er
anschwellen wie
ein Zwergenkopf, und ich fühlte bald, dass ich beim barhäuptigen Sitzen
in der
Mittagsonne einen Sonnenstich bekommen hatte.
Es wurde mir grau und weiß vor den Augen, und das
ganze
Zimmer mit der bunt bemalten Decke und dem rotsteinernen Fußboden
kreiselte um
mich, als wäre es eine russische Schaukel.
Ich wollte vom Tisch aufstehen, aber ich fühlte,
dass ich
umfallen würde. Während die Russin immer weiter sprach und mir nichts
anmerkte,
wartete ich still ab, bis ich mich wieder so stark fühlen würde, dass
ich mein
Zimmer ohne Hilfe erreichen konnte. Ich sagte dann der Dame im
Fortgehen, dass
ich glaubte, ich sei von einem Sonnenstich unwohl geworden.
Ich legte mich auf mein Bett und ließ mir Eis
bringen.
Mir war bei jeder Bewegung sehr übel. Zugleich begann mich ein heftiges
Fieber
zu schütteln.
Nach einer Weile klopfte es an meiner Tür, und
die Russin
brachte mir ein großes Senfpflaster, das sollte ich auf meinen
Rücken legen. Während sie noch im Zimmer war, klopfte
es wieder, und ich hörte die Stimme einer jungen Dame, die draußen mit
dem
Dienstmädchen sprach. Sie sagte, sie hätte im Hotel in Torbole im
Fremdenbuch
meinen Namen gelesen, und es war ihr gesagt worden, dass ich nach
Limone
gezogen sei. Ich erkannte die Stimme einer jungen Bekannten, die ich
seit einem
Jahre nicht gesehen hatte. Die Neuangekommene wollte, dass ich ihr
Limone
zeigen sollte.
Ich ließ ihr sagen, dass ich halb im Sterben
läge, und
sie möchte entweder meinen Tod oder meine Genesung abwarten.
Sie ließ mir darauf zur Antwort geben, dass sie
einige
Tage im gleichen Gasthaus in Limone wohnen bliebe.
Den Sonnenstich im Kopf, ein Senfpflaster auf dem
Rücken,
einen Eisumschlag auf der Stirn und einen Herzchock in der Brust,
hervorgebracht durch das bevorstehende Wiedersehen mit einem seltsamen,
reizend
schönen Mädchen, an das ich lange nicht mehr gedacht hatte, – so lag
ich auf
meinem Bett und musste mich gedulden, bis die Sonne untergegangen war
und in
der kühleren Abendluft, bei den weit geöffneten Fenstern, der
Blutandrang zum Gehirn schwächer wurde, und ich
mich allmählich wieder gesundwerden fühlte.
Ulrike, die junge Dame, die mich so plötzlich
besuchte,
war Studentin der Chemie, und ich kannte sie aus Freiburg, wo sie
studierte.
Sie war eine jener schönen rothaarigen Frauen, die jetzt in Deutschland
so
selten werden. Sie hatte jene milchweiße Hautfarbe, mit leichtem rosa
Hauch,
die wie eine sanfte Kamelienblüte unter blauem Himmel leuchtet.
Aber es ging nicht die Kühle der Blüte von diesem
schönen
Geschöpf aus. Das leuchtende Milchfleisch ihrer Wangen und ihres
Nackens neben
dem dumpfroten Haar war von einer leuchtenden Lüsternheit verklärt. Man
hätte
das junge Mädchen nie unverschleiert gehen lassen dürfen, da ihre Reize
so
stark waren, dass ihr Gesicht, ihre Hände und ihr Nacken beinahe
schamlos
wirkten, wie enthüllte Blößen.
Im Mittelalter wurden solche verwirrend schöne
Frauen den
Folterknechten als Hexen hingegeben, und die Männerfäuste schlugen mit
Wollust
Wunden in dieses allzu aufreizende Frauenfleisch.
So war Ulrike, die hier plötzlich auftauchte in
jener
Luft, in der ich seit Stunden das Herannahen
Ereignis schwangerer Augenblicke vorausgefühlt hatte.
„Was suchen Sie hier?“ fragte ich sie hundertmal
in
meinem Herzen, während meine Tür geschlossen war und ich den Besuch
noch nicht
gesehen hatte. Und Ulrikes Geist antwortete mir: „Ich suche Unruhe,
Fieber. Ich
suche, wenn es nicht Glück sein kann, Unglück, Vernichtung, wie du, wie
ihr
alle.“
Als ich dann, des Fragens müde, erschöpft
eingeschlafen
war, weckten mich Mandolinenmusik und italienischer Gesang aus dem
Garten.
Ich stand auf. Es war Nacht geworden. Es musste
neun oder
zehn Uhr sein. Ich fühlte mich ganz gesund. Draußen auf dem See suchte
der
Scheinwerfer des Wachbootes die Berge ab und schoss ab und zu in den
Garten
unten, wie ein Eindringling, zwischen die Bäume, und mir war, als
müsste es
jedes Mal einen schrillen Laut in den Blättern geben, wenn der
Lichtpfeil durch
das schlafende Laub schoss, das dann wie Metallschlacken hell und
dunkel
aufglänzte.
Wahrscheinlich hatte Ulrike schon den ganzen Ort
zu
Freunden. Während der paar Stunden, in denen ich schlief, und in denen
die
Russin, die fließend italienisch sprach, sie spazieren
führte, hatte sie, das wusste ich gewiss, blendender als jener
Lichtstrahl, der
da ruckweise vom See in den Garten fegte, schon alle Männer des Ortes
geblendet.
Als ich im großen steinernen Treppenhause von
meinem
Zimmer in den unteren Stock hinabstieg, schallte mir einzig Ulrikes
Stimme
entgegen. Sie hielt einen Vortrag über Politik, über die Notwendigkeit,
dass
Italien zu Deutschland aufschaue, da es von Deutschland viel zu lernen
hätte.
Sie sagte in ihrer unverfrorenen norddeutschen
Art, dass
die Italiener lügen, betrügen, dass sie falsch seien und faul, kurz,
sie sagte
alle diese ungerechten Aussprüche, die unwissende Deutsche immer
schnell bereit
haben, wenn über Italien geredet wird.
Ulrike erlaubte sich, da sie immer nur anbetenden
Männeraugen begegnete, alles das in die Luft zu schreien, was man bei
einigem
Überlegen taktvoll zu verschweigen hat. Aber wahrscheinlich reizte es
sie, dass
alle Männer Honig aus ihrer Schönheit sogen, und sie wollte
Widersprüche
erwecken. Denn da ihr Gesicht Süße austeilte, wollte ihre Seele
Bitternisse in
die Seelen der anderen träufeln, damit nicht das Leben um sie vor
lauter
Anbetung verstummte.
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Textgrundlage: "Das Iguanadon" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus den Vier Winden", Seite 281-359.
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Logo 196: "Bodensee", Margaret Hofheinz-Döring, 1964,
Quelle: Peter Mauch. Brigitte Mauch, der Nutzungsinhaber
dieses Werkes, veröffentlicht es hiermit unter der folgenden
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Namensnennung: Margret
Hofheinz-Döring/
Galerie Brigitte Mauch
Göppingen
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