lifedays-seite

moment in time

 
 
Literatur


04.3



Geschichten

Max Dauthendey





Das Iguanodon II

Ich war bei meinem Weg durch die Gasse an alten eisernen kleinen Türen vorübergekommen. Die waren nur eine rostige Masse. Das verwitterte Eisen schälte sich wie die Rinde von Bäumen. Über die Türschlösser und Angeln und über das Gitter des Guckloches hingen verfilzte Spinnweben. Ganze Familien von großen Kreuzspinnen hausten da seit Jahrhunderten ungestört. Auch waren da ebenso zugesponnene und mit rostigen Gittern versehene, alte, erblindete Fenstervierecke. An die grauen Mauern dort waren mit Rötelstift und Kohle unflätige, brünstige Bilder mit ein paar Linien hingezeichnet, Bilder, wie sie nur in den Hirnen dieser ungebändigten und verwilderten Krüppelgestalten entstehen konnten.

Als ich in der Abenddämmerung vor den Ort hinaus unter alte Olivenbäume kam, die dort in verrenkten Stellungen, verkrümmt und verwachsen, in Scharen mit ihrem graunebeligen dünnen Laubwerk in den Bergfeldern stehen, war mir, als seien die Zwerggeschöpfe der Stadt aus jenen ungestalten gespenstigen Olivenstämmen geboren worden.

Als in der Dämmerung ein Esel, auf dem ein Weib und ein Knabe saßen, mit humpelndem Gang in dem unheimlichen Olivenhain, darin sich kein Blatt rührte, auftauchte, schauderte mich, weil ich in diesem zusammengepackten Tier- und Menschenhaufen wieder neue Verkrüppelungen zu sehen glaubte.

Unter dem schleierartigen dünnen Laubgewebe der Oliven, deren Zweige sich nicht wiegen, durch die der blasse Abendhimmel fein zerkritzelt zur Erde sieht, hatte ich das Gefühl, als ob ein Netz von unheimlichen Erregungen – das mich hier in Limone bald umgeben sollte – schon nah über mir hing.

Ich konnte nach kurzer Zeit in dem Hain nicht mehr weitergehen. Das stille Grauen in mir nahm so überhand, dass es mich forttrieb aus dem Kreise der Grimassen reißenden Baumstämme, die umherstanden, gespalten und zerschlitzt, dreibeinig und zehnbeinig, mehr Tieren als Bäumen ähnlich.

Ich wollte lieber zu den krüppligen Menschen des Ortes zurückkehren, als hier länger bei den hölzernen Urvätern der Krüppel zu weilen, die trocken und herzlos wie halb tote Greise, in sich versunken und in sich gekrümmt, den Weg begleiteten, der Schar aller Mühseligkeiten ähnlich, die einem lang Lebenden begegnen können.

Zurückgekommen zum eisernen Gitter des Gasthausgartens sah ich gegenüber unter der trüben Petroleumlaterne, die als Straßenbeleuchtung an einer Hausecke hing, in einem kahlen Ladengelass wieder einen Zwerg mit einem Stock stehen. Der Stock war ein Stück größer als der Zwerg, und es war doch nur ein gewöhnlicher Spazierstock. Mit diesem Stock deutete der Krüppel wichtig und sich höflich verneigend auf einen Tisch, an den er kaum mit der Nase hinaufreichen konnte. Dort lagen, sorgfältig nebeneinander gereiht, einzelne Birnen, große dicke Kochbirnen, die wir in Deutschland Katzenköpfe nennen. An [der Tischkante stand eine brennende, flackernde Kerze, die in einem Zinnleuchter stak.

Der Laden war ganz kahl. Ich hatte beim Fortgehen vor einer Stunde diesen Fruchtverkäufer noch nicht bemerkt. Es schien mir, als habe er seinen Verkaufsstand eben erst eingerichtet, vielleicht weil er gehört hatte, dass ein Fremder ins Gasthaus eingezogen war, was ihn unternehmungslustig gemacht haben mochte.

Ein paar Schritte weiter bei einem Schuhmacher kauerte jener Zwerg, der vorhin die Weiber geküsst hatte; er glotzte in die beleuchtete Glaskugel des Schusters, bei deren grellem Blendlicht der Meister und seine Gesellen, auf dem Straßenpflaster hockend, arbeiteten.

Die Gassen hinter den beleuchteten Köpfen verschwanden in Gewinkel und Finsternis, manchmal geteilt von kleinen Lichtscheinen, die aus Türen oder Fensterluken auf das Pflaster fielen.

Auf der Mauer beim Gartentor meines Gasthauses hockten zwei andere Zwerge, die mich schweigend und argwöhnisch, wie zwei aneinanderhängende Affen, von der Mauerhöhe herunter beobachteten.

Ich war verblüfft über die Unzahl von Missgeburten und auch ermüdet von den neuen Reiseeindrücken, sodass ich schweigend vorüberging und nur mit einem Kopfnicken die lauten feierlichen Grüße der Krüppel beantwortete.

Als ich dann in den Garten eingetreten war und mich zum Abendessen unter den Mispelbaum setzen wollte, unter eine wenig leuchtende Petroleumlampe, die in den Zweigen des Baumes hing, kam der Wirt zu mir und sagte mir, morgen würde das Zimmer neben dem meinigen besetzt. Er habe eben mit dem Abenddampfschiff einen Brief von einer Russin erhalten, die schon voriges Jahr den Herbst hier verbracht hatte. Die Dame habe zugleich geschrieben, dass ihr das Portemonnaie unterwegs gestohlen worden sei, und der Wirt hatte ihr noch mit dem selben Nachtschiff Geld nach Desenzano geschickt, wo sie übernachten wollte.

Ich dachte sofort an eine Nihilistin, denn einer wohlhabenden Russin konnte es wohl kaum einfallen, dieses weltentlegene Ufernest aufzusuchen und hier einen Herbst zuzubringen; aber später hörte ich, dass die Dame die Gattin eines Generals war.

Am nächsten Tag saß ich gegen Mittag auf dem Steinbalkon, der gegen den Garten hin vor dem Esszimmer lag, unter dem sich die Küchenhalle befand. Ich schrieb Briefe und saß ohne Hut, und die Mittagssonne brannte auf meinem Kopf.

Als ich mich später in dem Speisesaal, dessen Decke mit bunten mittelalterlichen Malereien, Wappen und Blumen bemalt war, zu Tisch setzte, sah ich vor der Glastüre, die auf den Korridor führte, eine kleine ältere Dame stehen, die, während sie einen Schleier um ihren Kopf band, zwischen den Vorhängen an der Glasscheibe hindurchblinzelte. Dann trat sie ein, und der Wirt folgte ihr und stellte sie als die russische Dame vor.

Die Generalin hatte kleine, lebhafte, etwas belustigt zwinkernde Augen und machte viele kleine Bewegungen, die ihr etwas rührend Kindliches gaben. Als sie sich vor ihren Teller gesetzt hatte, begann sie sogleich mit mir eine lebhafte Unterhaltung und erzählte vom Comosee, von dem sie eben kam, und vom italienischen Dichter Fogazzaro, den sie dort in seiner Villa besucht hatte.

Sie forderte blindlings Interesse von mir, weil sie sich für Fogazzaro und den Comosee interessierte. Aber mein Kopf schmerzte mich. Er wurde schwer, als wollte er anschwellen wie ein Zwergenkopf, und ich fühlte bald, dass ich beim barhäuptigen Sitzen in der Mittagsonne einen Sonnenstich bekommen hatte.

Es wurde mir grau und weiß vor den Augen, und das ganze Zimmer mit der bunt bemalten Decke und dem rotsteinernen Fußboden kreiselte um mich, als wäre es eine russische Schaukel.

Ich wollte vom Tisch aufstehen, aber ich fühlte, dass ich umfallen würde. Während die Russin immer weiter sprach und mir nichts anmerkte, wartete ich still ab, bis ich mich wieder so stark fühlen würde, dass ich mein Zimmer ohne Hilfe erreichen konnte. Ich sagte dann der Dame im Fortgehen, dass ich glaubte, ich sei von einem Sonnenstich unwohl geworden.

Ich legte mich auf mein Bett und ließ mir Eis bringen. Mir war bei jeder Bewegung sehr übel. Zugleich begann mich ein heftiges Fieber zu schütteln.

Nach einer Weile klopfte es an meiner Tür, und die Russin brachte mir ein großes Senfpflaster, das sollte ich auf meinen Rücken legen. Während sie noch im Zimmer war, klopfte es wieder, und ich hörte die Stimme einer jungen Dame, die draußen mit dem Dienstmädchen sprach. Sie sagte, sie hätte im Hotel in Torbole im Fremdenbuch meinen Namen gelesen, und es war ihr gesagt worden, dass ich nach Limone gezogen sei. Ich erkannte die Stimme einer jungen Bekannten, die ich seit einem Jahre nicht gesehen hatte. Die Neuangekommene wollte, dass ich ihr Limone zeigen sollte.

Ich ließ ihr sagen, dass ich halb im Sterben läge, und sie möchte entweder meinen Tod oder meine Genesung abwarten.

Sie ließ mir darauf zur Antwort geben, dass sie einige Tage im gleichen Gasthaus in Limone wohnen bliebe.

Den Sonnenstich im Kopf, ein Senfpflaster auf dem Rücken, einen Eisumschlag auf der Stirn und einen Herzchock in der Brust, hervorgebracht durch das bevorstehende Wiedersehen mit einem seltsamen, reizend schönen Mädchen, an das ich lange nicht mehr gedacht hatte, – so lag ich auf meinem Bett und musste mich gedulden, bis die Sonne untergegangen war und in der kühleren Abendluft, bei den weit geöffneten Fenstern, der Blutandrang zum Gehirn schwächer wurde, und ich mich allmählich wieder gesundwerden fühlte.

Ulrike, die junge Dame, die mich so plötzlich besuchte, war Studentin der Chemie, und ich kannte sie aus Freiburg, wo sie studierte. Sie war eine jener schönen rothaarigen Frauen, die jetzt in Deutschland so selten werden. Sie hatte jene milchweiße Hautfarbe, mit leichtem rosa Hauch, die wie eine sanfte Kamelienblüte unter blauem Himmel leuchtet.

Aber es ging nicht die Kühle der Blüte von diesem schönen Geschöpf aus. Das leuchtende Milchfleisch ihrer Wangen und ihres Nackens neben dem dumpfroten Haar war von einer leuchtenden Lüsternheit verklärt. Man hätte das junge Mädchen nie unverschleiert gehen lassen dürfen, da ihre Reize so stark waren, dass ihr Gesicht, ihre Hände und ihr Nacken beinahe schamlos wirkten, wie enthüllte Blößen.

Im Mittelalter wurden solche verwirrend schöne Frauen den Folterknechten als Hexen hingegeben, und die Männerfäuste schlugen mit Wollust Wunden in dieses allzu aufreizende Frauenfleisch.

So war Ulrike, die hier plötzlich auftauchte in jener Luft, in der ich seit Stunden das Herannahen Ereignis schwangerer Augenblicke vorausgefühlt hatte.

„Was suchen Sie hier?“ fragte ich sie hundertmal in meinem Herzen, während meine Tür geschlossen war und ich den Besuch noch nicht gesehen hatte. Und Ulrikes Geist antwortete mir: „Ich suche Unruhe, Fieber. Ich suche, wenn es nicht Glück sein kann, Unglück, Vernichtung, wie du, wie ihr alle.“

Als ich dann, des Fragens müde, erschöpft eingeschlafen war, weckten mich Mandolinenmusik und italienischer Gesang aus dem Garten.

Ich stand auf. Es war Nacht geworden. Es musste neun oder zehn Uhr sein. Ich fühlte mich ganz gesund. Draußen auf dem See suchte der Scheinwerfer des Wachbootes die Berge ab und schoss ab und zu in den Garten unten, wie ein Eindringling, zwischen die Bäume, und mir war, als müsste es jedes Mal einen schrillen Laut in den Blättern geben, wenn der Lichtpfeil durch das schlafende Laub schoss, das dann wie Metallschlacken hell und dunkel aufglänzte.

Wahrscheinlich hatte Ulrike schon den ganzen Ort zu Freunden. Während der paar Stunden, in denen ich schlief, und in denen die Russin, die fließend italienisch sprach, sie spazieren führte, hatte sie, das wusste ich gewiss, blendender als jener Lichtstrahl, der da ruckweise vom See in den Garten fegte, schon alle Männer des Ortes geblendet.

Als ich im großen steinernen Treppenhause von meinem Zimmer in den unteren Stock hinabstieg, schallte mir einzig Ulrikes Stimme entgegen. Sie hielt einen Vortrag über Politik, über die Notwendigkeit, dass Italien zu Deutschland aufschaue, da es von Deutschland viel zu lernen hätte.

Sie sagte in ihrer unverfrorenen norddeutschen Art, dass die Italiener lügen, betrügen, dass sie falsch seien und faul, kurz, sie sagte alle diese ungerechten Aussprüche, die unwissende Deutsche immer schnell bereit haben, wenn über Italien geredet wird.

Ulrike erlaubte sich, da sie immer nur anbetenden Männeraugen begegnete, alles das in die Luft zu schreien, was man bei einigem Überlegen taktvoll zu verschweigen hat. Aber wahrscheinlich reizte es sie, dass alle Männer Honig aus ihrer Schönheit sogen, und sie wollte Widersprüche erwecken. Denn da ihr Gesicht Süße austeilte, wollte ihre Seele Bitternisse in die Seelen der anderen träufeln, damit nicht das Leben um sie vor lauter Anbetung verstummte.


oben



oben

____________________________

Textgrundlage: "Das Iguanadon" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus den Vier Winden", Seite 281-359.

wikimedia

Logo 196
: "Bodensee", Margaret Hofheinz-Döring, 1964,
Quelle: Peter Mauch. Brigitte Mauch, der Nutzungsinhaber
dieses Werkes, veröffentlicht es hiermit unter der folgenden
Lizenz
:CC 3.0
Namensnennung: Margret Hofheinz-Döring/
Galerie Brigitte Mauch Göppingen

wikimedia

  lifedays-seite - moment in time