Geschichten
Max Dauthendey
Ich stand im halbdämmerigen Hausflur und
beobachtete
durch die offenstehende Haustüre die Gesellschaft im tiefer gelegenen
Garten,
die dort an einem länglichen Tisch unter dem Mispelbaum saß, mit der
Hängelampe
über den Köpfen und vom weißen Tischtuch beleuchtet.
An der Spitze des Tisches saß wie eine immer
bewegte,
surrende, graue Spindel die silberhaarige Generalin, in Mäntel, Schals
und
Reisedecken eingemummt; und nur ihr kleines, blasses Gesicht mit dem
einen
geschlossenen Auge und mit dem andern zwinkernden Auge sah belustigt
und mit
sich selbst vergnügt von einem zum andern.
Neben ihr an der Tischecke auf einem Stuhl, den
sie
hintüber hin und her bewegte, schaukelte mit übereinandergeschlagenen
Beinen
Ulrike und hielt sich dabei mit der einen Hand an der Lehne des Stuhles
der
Russin fest.
An derselben Längsseite des Tisches, nicht weit
von ihr,
saßen zwei junge Männer. Der eine war ein blasser italienischer
Student, auf
seine Art ebenso schön wie Ulrike. Er war aber eine jener altmodisch
schmachtenden Jünglingsschönheiten, wie man sie bei
jungen Heiligen auf glasgemalten italienischen
Kirchenbildern des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts findet. Ein
elastischer Jünglingskörper, von einem schwärmerischen Geist wie von
einer
blauen Flamme durchwallt. An ihm war nichts von der durch Sport und
Gedankenzucht straffen Jungemännerschönheit, die jetzt im nördlichen
Europa den
altmodischen, altchristlichen Schönheitstypus verdrängt.
Es war rührend zu sehen, wie der junge,
schwarzgekleidete, schmale Mensch jetzt eben ein Lied zu singen anhob,
einen
gewöhnlichen italienischen Gassenhauer, den er sicher noch nie in
anständiger
Gesellschaft gesungen hatte, und den er mit einer einfältigen Andacht
vortrug,
als handele es sich um eine Heldensage. Und dies alles nur deshalb,
weil Ulrike
den jungen Mann bereits entgeistert hatte. In seinem Herzen sang er
sicher ein
hohes Lied festlicher Liebesanbetung vor ihr. Davon trug sein Gesicht
den
andächtigen Ausdruck. Aber sein Mund musste einen Gassenhauer
hinsingen, weil
die ungeduldige Ulrike nur Straßenkunst hören wollte.
Neben dem jetzt singenden Studenten spielte ein
anderer
junger Mann eine Mandoline, die er auf
dem einen Knie hielt, bei der er tief gebückt saß, und deren Saiten er
so innig
zärtlich zupfte, als wären sie aus dem verführerischen roten Haar der
jungen
Deutschen gesponnen. Denn Ulrike machte sein alltägliches, reizloses
Gesicht
blutrot aufleuchten, wenn er zufällig beim Mandolinenspiel zu ihr
hinübersah.
Der Spieler hatte grobe Hände, die tagsüber in
einem
Drogenladen im Ort, der ihm gehörte, Leinöl und Petroleum in Krüge
füllte und
Farbstoffe auf einer Wagschale wog, wovon seine Nägelränder noch
bläulich,
rötlich und gelblich schimmerten. Er schlug trotz aller Innigkeit grob
und derb
die Saiten. Er war nicht viel älter als der Student, aber er tat laut
erzählend
sich etwas darauf zugut, bereister zu sein als jener, und er versuchte,
aus
Notwehr gegen Ulrikes auffallendes verführerisches Frauenfleisch, sich
mit
einer Grobheit zu panzern, die ihn kaltblütig erscheinen lassen sollte.
Ich hatte gehört, wie er vorhin, kurz ehe das
Lied anhob,
Ulrike ins Gesicht gesagt hatte, er hasse alle Österreicher, und er gab
an,
dass jene die Eigenschaften hätten, die die Deutschen den Italienern
zuschieben.
Ulrike war keine Österreicherin. Darum hörte sie
auf
seinen Hass gar nicht hin, sondern forderte ein neues Lied. Sie wusste
wahrscheinlich auch, dass ihre weiße Hand, die sich an die Stuhllehne
der
Russin hielt, aufmerksam, ebenso wie ihr Nacken, von einem Zolloffizier
beobachtet wurde, der hinter ihr an einem kleinen, runden gedeckten
Tisch saß,
wo er zu Abend gespeist hatte, und wo er jetzt seinen Kaffee trank, mit
einer
Zeitung rasselte und seine Zigarette rauchte.
Vor dem Offizier brannte ein Windlicht auf dem
Tisch,
sein Lichtkreis traf noch Ulrikes roten Haarknoten und ihren weißen
Nacken,
dessen Biegung sich dem Offizier hinhielt, als wollte dieser Nacken
gestreichelt und geküsst werden.
Am Stamm des Mispelbaumes lehnte der junge Wirt
mit
seinem langen, schmalen Tiergesicht. Seine Augen schienen ganz
verblödet zu
sein vom langen Hinstieren auf Ulrike. Er stand dort ziemlich unbemerkt
im
Schatten und war nur von den Knien abwärts beleuchtet.
Über ihm im weiten Geäst des schlangenartig
geformten
Baumes kauerten die Hauskatzen. Es hockten dort drei, vier
Katzen und Kater wie buckelige Auswüchse auf den
glatten, ausgestreckten Ästen, und manchmal jagte ein Tier das andere,
und sie
flohen höher in die dunkle Laubkrone. Dann sah Ulrike hinauf und rief:
„Miau“.
Gleich standen die Katzen still und kauerten sich nieder, denn der
Katzenlaut,
den das junge Mädchen rief, war verblüffend naturgetreu.
Von meinem erhöhten Standpunkt im Hausflur sah
ich auch
ein Stück vom Gittertor neben der Gartenmauer, und dort kauerten,
aufgereiht
wie Kürbisse zum Trocknen, die mumienhaften, großgesichtigen Köpfe
jener
Zwerge, denen ich vorher auf der Straße begegnet war.
Die Zwerge entdeckte ich aber erst, als der
Scheinwerfer
vom See für Augenblicke seinen Lichtstrahl in die Gartentiefe
hereinwarf.
Dass hier ein Unglück wucherte und in irgendeiner
Gestalt
aufstehen würde, fühlte ich an der seltsamen Gruppierung der Menschen,
der
Tiere und der Dinge, die alle von dem magnetischen Wesen Ulrikes
angezogen
waren. Die Spannung und die Unsicherheit, die diese junge Dame um sich
verbreitete, machte, dass alles, was im Garten anwesend war, wie auf
einer
dünnen Eisfläche lebte, die jeden Augenblick irgendwo
einbrechen und irgendeinem der Anwesenden tödlich verhängnisvoll werden
konnte.
Aber sie schienen alle das Unglück begierig zu suchen.
Ich trat jetzt vom Haus hinaus auf die Treppe,
die zum
Garten hinunterführte. Bei meinem Schritt sah ich niemand als Ulrike
an. Aber
sie schien sich nicht klarmachen zu können, von welcher Seite das
Geräusch der
Schritte kam, und so sah sie zuerst unwillkürlich nach dem Gartentor
und der
Gartenmauer. Im selben Augenblick erhellte ein neuer Lichtstrahl des
Scheinwerfers
die Köpfe der ungeheuerlichen Missgestalten der Zwerge, die dort
lauschten.
Ulrike schnellt empor, läuft von ihrem Stuhl fort
und
schlägt unter der Mauer ein fröhliches und fast kindliches Gelächter
auf, aber
wendet den Kopf nach mir, und nachdem sie den Zwergen ein spöttisches
„Guten
Abend“ zugerufen, kommt sie zu mir gelaufen und begrüßt mich in ihrer
sprudelnden Sprechweise.
„Welchen abenteuerlichen Ort haben Sie da
aufgesucht!“
rief sie mir zu. „Welch ein Talent Sie haben, schauerliche Szenarien zu
entdecken!“
Und mit einer Geste, mit einer stummen, aber höhnenden Geste, deutet
sie über den andächtig singenden Studenten, über
den Baum, in dem die Katzen sprangen, und nach dem Gartentor, wo jetzt
die
Zwerge im Dunkel beieinander hockten, und auf den Scheinwerfer, der
jetzt hoch
im Himmel den Monte Alto grell aufhellte.
Sie hatte recht. Wo sang man sonst Gassenhauer
wie
Kirchenlieder, während Katzen in den Bäumen buhlten, Zwergköpfe auf der
Mauer
wuchsen und dazu ein irrsinnig wandernder Lichtstrahl aus dem Dunkel
Berge vom
Himmel fallen ließ.
An diesem Abend geschah nichts weiter, er war nur
der
Auftakt für die nächsten Ereignisse. Der Student lud, als er und sein
Freund,
der Drogenhändler, aufbrachen, Ulrike und mich zum nächsten Morgen in
den
Weingarten seines Freundes ein, wo beide täglich mit Leimruten
Singvögel
einfingen, da die Zeit des Durchzuges der nordischen Singvögel war.
Aber auch
der Zolloffizier ließ uns durch den Wirt sagen, wenn wir das
Scheinwerferboot
nachts besuchen wollten, sollten wir es ihn wissen lassen.
Die Zwerge aber stießen kreischende Pfiffe aus
und riefen
zur Verabschiedung Ulrike ein geheultes „Guten Abend“ zu.
Ulrike war müde und zog sich schon bald auf ihr
Zimmer
zurück, nachdem wir nur noch ein wenig geplaudert hatten. Ich blieb bei
der
Russin sitzen, die aus ihren Schals und Mänteln wie aus einer
gepolsterten Loge
hervorsah, von der aus sie den Anfang eines Dramas gespannt verfolgte.
„Sie ist für die Männer, was der Baldrian für die
Katzen
ist“, sagte die Russin, als Ulrike gegangen war. Sie wiegte sich in
ihren
Decken. „Welch eine Sippe hat sich hier zusammengefunden! Wo ich
hinkomme, ist
aber auch immer etwas Unheimliches los. So war es immer, so lange ich
lebe.
Zwar brechen durch mich nicht Ereignisse herein. Aber ich habe eine im
Blut
liegende Witterung für aufregende Zeiten, Menschen und Gegenden, und
werde
wahrscheinlich unsichtbar angezogen von Zuständen, bei denen eine
gewisse
Spannung in der Luft liegt.
Als Sie heute bei Tisch so blass wurden und den
Sonnenstich fühlten, dachte ich bei mir: Da bist du ja gerade recht
gekommen,
um gleich ein Unglück vorzufinden und helfen zu können. In den meisten
Fällen
aber kann ich nicht helfen. Da muss ich nur Zuschauer sein und muss
froh sein,
wenn ich nicht selbst dabei den Kopf verliere.
Denn sehen Sie, einen leichten Schlaganfall habe ich schon einmal
gehabt. Den
erhielt ich infolge eines Schreckens, als ich Mann, Kind und Vermögen
in einem
Augenblick verlor.“
Und dann erzählte die russische Dame mir ihr
Leben. Sie
stammte von deutschen Eltern, war aber in Russland geboren und hatte
einen
Russen geheiratet. Ihr Mann war Leutnant, als sie Hochzeit machten.
Aber sie
waren nur wenige Wochen vermählt gewesen, da brach der Krimkrieg aus,
und die
junge Frau wusste, dass ihr Mann fort von ihrer Seite in den Krieg und
vielleicht
in den Tod ziehen musste.
Sie machte sich auf, besuchte seinen General und
bat ihn,
dass sie als Krankenschwester dem Regiment ihres Mannes folgen dürfte.
Das
wurde ihr gewährt.
Ihren Mann, der in den Schlachten war, sah sie
natürlich
nur selten, und wenn sie mit den anderen Rotekreuzschwestern nach den
Kämpfen
die Verwundeten in den Feldern aufsuchte, dann zitterte ihr Herz jedes
Mal,
wenn sie einem am Boden Liegenden den Kopf umwendete und das Gesicht zu
sehen
suchte, denn sie vermeinte immer, ihren Mann zu finden.
Und eines Tages wurde sie auch zu ihm gerufen. Er
lag
verwundet in einem Schanzgraben. Nur sein Bursche war bei ihm. Die
junge Frau
brachte wochenlang in dem Schanzloch zu und hütete und pflegte ihren
Mann.
Von dieser Kriegszeit her, die sie bei Blut,
Grausen und
Ängsten auf schmerz durchkreischten Schlachtfeldern durchgemacht hatte,
war ihr
ein schwaches Herz geblieben.
Nach vielen Jahren, als sie schon einen großen
Sohn,
einen hübschen Knaben hatte, traf sie aber ein viel schlimmeres Weh,
als jener
Krieg ihr antun konnte. Ihr Knabe wurde am Meer von einer
Dampferlandungsbrücke
durch eine Sturmwelle ins Wasser gerissen, und ihr Mann sprang rasch
entschlossen hinter seinem Kinde her, um es zu retten. Aber das Meer
gab sie
nicht mehr zurück. Beide ertranken. Außerdem hatte der General gerade
an diesem
Tage seine Wertpapiere, die er auf eine Bank bringen sollte, in der
Brusttasche. So waren der Russin in einer Sekunde Mann, Sohn und
Vermögen
entrissen worden.
Seit jener Zeit beobachtete sie, dass sie einen
Instinkt
für Unglück hatte.
Als sie zum ersten Mal zum italienischen
Schriftsteller
Fogazzaro kam, war diesem eben sein Kind ertrunken. Als sie vor Jahren
zum
ersten Mal an den Gardasee kam, geschah dort das größte Unglück, das
der See je
erlebt hatte. Durch Platzen des Dampfkessels eines Vergnügungsdampfers
verloren
Hunderte von Menschen ihr Leben. Und so wusste sie noch viele Fälle zu
berichten. Und sie war gar nicht verwundert, als ich heute den
Sonnenstich
erlitt. Sie hatte immer eine ganze Hausapotheke bei sich, da sie ja die
Begleiterin hundertfacher Unglücke gewesen war.
„Es ist besser,“ sagte ich ihr, „wenn Ulrike bald
wieder
abreist. Der junge Student ist schon ganz blass verliebt in sie und
sieht krank
aus, als ob er in ihrer Nähe ein betäubendes Gas eingeatmet hätte. Und
die
andern, der Offizier und der Drogist, stolpern über ihre eigenen Beine
vor
Verwirrtheit, wenn sie sich vor der schönen Ulrike verbeugen sollen.
Sie wird
auch noch die Zwerge und die Katzen in sich vernarrt machen, die Berge
werden
umfallen wollen, um zu ihr zu kommen, und der See wird wandern wollen,
um ihr
nachzulaufen.“
„Daran ist nichts zu ändern,“ sagte
die Russin. „Es kann sogar sein, dass wir auch
Schaden nehmen dabei. Denn wo ein Unglückswirbel einsetzt, reißt er
auch
Fernstehende um. Heute, als Sie schliefen und oben in Ihrem Zimmer
krank lagen,
spielte Ulrike Boccia hier im Garten mit den italienischen
Zollsoldaten. Die
Männer bekamen fast eine Schlägerei, denn jeder wollte ihr zuerst den
Ball
zureichen dürfen. Und auf der Straße, als Ulrike einem Zwerg eine
Zigarette
schenkte, entriss der andere Zwerg dem ersten das Geschenk und verbarg
die Zigarette
an seinem Herzen. Der Beraubte zog dann sein Taschenmesser und wollte
auf den
Rivalen losstechen. Der aber zog auch ein Messer und stach wieder
zurück. Und
wenn die Soldaten die beiden Krüppel nicht getrennt hätten, würden sie
sich in
Stücke zerschnitten haben. Ich bin gespannt, wie es morgen wird“,
setzte die
Russin hinzu. „Der Wirt, der Bürgermeister, hat mir heute schon gesagt,
er
wolle sich eine deutsche Grammatik anschaffen, damit er Fräulein Ulrike
schreiben könne, wenn sie wieder in Deutschland sein würde. Und im
Winter
wollte er dann eine Reise nach Deutschland machen. Alle sind in Ulrike
vernarrt
wie die Fliegen in ein Stück Zucker. Sie hat wie
ein roter Blitz hier in den Ort eingeschlagen.“
Am nächsten Morgen früh, als die Wiesen am See
und ihre
gelben Dotterblumen noch taufeucht waren, stand ich am Fenster, kurz
nachdem
das erste Dampfschiff getutet hatte. Da hörte ich, dass im Garten unten
Neuangekommene nach Zimmern fragten. Es war jetzt Anfang September, und
der
Wirt hier hatte im September doch einige immer wiederkehrende Gäste in
seinem
Hause, denn der Herbst ist die Jahreszeit, in der auch jeder
entlegenste Winkel
des Gardasees von Naturschwärmern aufgesucht wird.
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Textgrundlage: "Das Iguanadon" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus den Vier Winden", Seite 281-359.
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Logo 196: "Bodensee", Margaret
Hofheinz-Döring, 1964,
Quelle: Peter Mauch. Brigitte Mauch, der Nutzungsinhaber
dieses Werkes, veröffentlicht es hiermit unter der folgenden
Lizenz: CC 3.0
Namensnennung: Margret
Hofheinz-Döring/ Galerie Brigitte Mauch
Göppingen
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