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Literatur


04.3



Geschichten

Max Dauthendey





 Das Iguanodon III

Ich stand im halbdämmerigen Hausflur und beobachtete durch die offenstehende Haustüre die Gesellschaft im tiefer gelegenen Garten, die dort an einem länglichen Tisch unter dem Mispelbaum saß, mit der Hängelampe über den Köpfen und vom weißen Tischtuch beleuchtet.

An der Spitze des Tisches saß wie eine immer bewegte, surrende, graue Spindel die silberhaarige Generalin, in Mäntel, Schals und Reisedecken eingemummt; und nur ihr kleines, blasses Gesicht mit dem einen geschlossenen Auge und mit dem andern zwinkernden Auge sah belustigt und mit sich selbst vergnügt von einem zum andern.

Neben ihr an der Tischecke auf einem Stuhl, den sie hintüber hin und her bewegte, schaukelte mit übereinandergeschlagenen Beinen Ulrike und hielt sich dabei mit der einen Hand an der Lehne des Stuhles der Russin fest.

An derselben Längsseite des Tisches, nicht weit von ihr, saßen zwei junge Männer. Der eine war ein blasser italienischer Student, auf seine Art ebenso schön wie Ulrike. Er war aber eine jener altmodisch schmachtenden Jünglingsschönheiten, wie man sie bei jungen Heiligen auf glasgemalten italienischen Kirchenbildern des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts findet. Ein elastischer Jünglingskörper, von einem schwärmerischen Geist wie von einer blauen Flamme durchwallt. An ihm war nichts von der durch Sport und Gedankenzucht straffen Jungemännerschönheit, die jetzt im nördlichen Europa den altmodischen, altchristlichen Schönheitstypus verdrängt.

Es war rührend zu sehen, wie der junge, schwarzgekleidete, schmale Mensch jetzt eben ein Lied zu singen anhob, einen gewöhnlichen italienischen Gassenhauer, den er sicher noch nie in anständiger Gesellschaft gesungen hatte, und den er mit einer einfältigen Andacht vortrug, als handele es sich um eine Heldensage. Und dies alles nur deshalb, weil Ulrike den jungen Mann bereits entgeistert hatte. In seinem Herzen sang er sicher ein hohes Lied festlicher Liebesanbetung vor ihr. Davon trug sein Gesicht den andächtigen Ausdruck. Aber sein Mund musste einen Gassenhauer hinsingen, weil die ungeduldige Ulrike nur Straßenkunst hören wollte.

Neben dem jetzt singenden Studenten spielte ein anderer junger Mann eine Mandoline, die er auf dem einen Knie hielt, bei der er tief gebückt saß, und deren Saiten er so innig zärtlich zupfte, als wären sie aus dem verführerischen roten Haar der jungen Deutschen gesponnen. Denn Ulrike machte sein alltägliches, reizloses Gesicht blutrot aufleuchten, wenn er zufällig beim Mandolinenspiel zu ihr hinübersah.

Der Spieler hatte grobe Hände, die tagsüber in einem Drogenladen im Ort, der ihm gehörte, Leinöl und Petroleum in Krüge füllte und Farbstoffe auf einer Wagschale wog, wovon seine Nägelränder noch bläulich, rötlich und gelblich schimmerten. Er schlug trotz aller Innigkeit grob und derb die Saiten. Er war nicht viel älter als der Student, aber er tat laut erzählend sich etwas darauf zugut, bereister zu sein als jener, und er versuchte, aus Notwehr gegen Ulrikes auffallendes verführerisches Frauenfleisch, sich mit einer Grobheit zu panzern, die ihn kaltblütig erscheinen lassen sollte.

Ich hatte gehört, wie er vorhin, kurz ehe das Lied anhob, Ulrike ins Gesicht gesagt hatte, er hasse alle Österreicher, und er gab an, dass jene die Eigenschaften hätten, die die Deutschen den Italienern zuschieben.

Ulrike war keine Österreicherin. Darum hörte sie auf seinen Hass gar nicht hin, sondern forderte ein neues Lied. Sie wusste wahrscheinlich auch, dass ihre weiße Hand, die sich an die Stuhllehne der Russin hielt, aufmerksam, ebenso wie ihr Nacken, von einem Zolloffizier beobachtet wurde, der hinter ihr an einem kleinen, runden gedeckten Tisch saß, wo er zu Abend gespeist hatte, und wo er jetzt seinen Kaffee trank, mit einer Zeitung rasselte und seine Zigarette rauchte.

Vor dem Offizier brannte ein Windlicht auf dem Tisch, sein Lichtkreis traf noch Ulrikes roten Haarknoten und ihren weißen Nacken, dessen Biegung sich dem Offizier hinhielt, als wollte dieser Nacken gestreichelt und geküsst werden.

Am Stamm des Mispelbaumes lehnte der junge Wirt mit seinem langen, schmalen Tiergesicht. Seine Augen schienen ganz verblödet zu sein vom langen Hinstieren auf Ulrike. Er stand dort ziemlich unbemerkt im Schatten und war nur von den Knien abwärts beleuchtet.

Über ihm im weiten Geäst des schlangenartig geformten Baumes kauerten die Hauskatzen. Es hockten dort drei, vier Katzen und Kater wie buckelige Auswüchse auf den glatten, ausgestreckten Ästen, und manchmal jagte ein Tier das andere, und sie flohen höher in die dunkle Laubkrone. Dann sah Ulrike hinauf und rief: „Miau“. Gleich standen die Katzen still und kauerten sich nieder, denn der Katzenlaut, den das junge Mädchen rief, war verblüffend naturgetreu.

Von meinem erhöhten Standpunkt im Hausflur sah ich auch ein Stück vom Gittertor neben der Gartenmauer, und dort kauerten, aufgereiht wie Kürbisse zum Trocknen, die mumienhaften, großgesichtigen Köpfe jener Zwerge, denen ich vorher auf der Straße begegnet war.

Die Zwerge entdeckte ich aber erst, als der Scheinwerfer vom See für Augenblicke seinen Lichtstrahl in die Gartentiefe hereinwarf.

Dass hier ein Unglück wucherte und in irgendeiner Gestalt aufstehen würde, fühlte ich an der seltsamen Gruppierung der Menschen, der Tiere und der Dinge, die alle von dem magnetischen Wesen Ulrikes angezogen waren. Die Spannung und die Unsicherheit, die diese junge Dame um sich verbreitete, machte, dass alles, was im Garten anwesend war, wie auf einer dünnen Eisfläche lebte, die jeden Augenblick irgendwo einbrechen und irgendeinem der Anwesenden tödlich verhängnisvoll werden konnte. Aber sie schienen alle das Unglück begierig zu suchen.

Ich trat jetzt vom Haus hinaus auf die Treppe, die zum Garten hinunterführte. Bei meinem Schritt sah ich niemand als Ulrike an. Aber sie schien sich nicht klarmachen zu können, von welcher Seite das Geräusch der Schritte kam, und so sah sie zuerst unwillkürlich nach dem Gartentor und der Gartenmauer. Im selben Augenblick erhellte ein neuer Lichtstrahl des Scheinwerfers die Köpfe der ungeheuerlichen Missgestalten der Zwerge, die dort lauschten.

Ulrike schnellt empor, läuft von ihrem Stuhl fort und schlägt unter der Mauer ein fröhliches und fast kindliches Gelächter auf, aber wendet den Kopf nach mir, und nachdem sie den Zwergen ein spöttisches „Guten Abend“ zugerufen, kommt sie zu mir gelaufen und begrüßt mich in ihrer sprudelnden Sprechweise.

„Welchen abenteuerlichen Ort haben Sie da aufgesucht!“ rief sie mir zu. „Welch ein Talent Sie haben, schauerliche Szenarien zu entdecken!“ Und mit einer Geste, mit einer stummen, aber höhnenden Geste, deutet sie über den andächtig singenden Studenten, über den Baum, in dem die Katzen sprangen, und nach dem Gartentor, wo jetzt die Zwerge im Dunkel beieinander hockten, und auf den Scheinwerfer, der jetzt hoch im Himmel den Monte Alto grell aufhellte.

Sie hatte recht. Wo sang man sonst Gassenhauer wie Kirchenlieder, während Katzen in den Bäumen buhlten, Zwergköpfe auf der Mauer wuchsen und dazu ein irrsinnig wandernder Lichtstrahl aus dem Dunkel Berge vom Himmel fallen ließ.

An diesem Abend geschah nichts weiter, er war nur der Auftakt für die nächsten Ereignisse. Der Student lud, als er und sein Freund, der Drogenhändler, aufbrachen, Ulrike und mich zum nächsten Morgen in den Weingarten seines Freundes ein, wo beide täglich mit Leimruten Singvögel einfingen, da die Zeit des Durchzuges der nordischen Singvögel war. Aber auch der Zolloffizier ließ uns durch den Wirt sagen, wenn wir das Scheinwerferboot nachts besuchen wollten, sollten wir es ihn wissen lassen.

Die Zwerge aber stießen kreischende Pfiffe aus und riefen zur Verabschiedung Ulrike ein geheultes „Guten Abend“ zu.

Ulrike war müde und zog sich schon bald auf ihr Zimmer zurück, nachdem wir nur noch ein wenig geplaudert hatten. Ich blieb bei der Russin sitzen, die aus ihren Schals und Mänteln wie aus einer gepolsterten Loge hervorsah, von der aus sie den Anfang eines Dramas gespannt verfolgte.

„Sie ist für die Männer, was der Baldrian für die Katzen ist“, sagte die Russin, als Ulrike gegangen war. Sie wiegte sich in ihren Decken. „Welch eine Sippe hat sich hier zusammengefunden! Wo ich hinkomme, ist aber auch immer etwas Unheimliches los. So war es immer, so lange ich lebe. Zwar brechen durch mich nicht Ereignisse herein. Aber ich habe eine im Blut liegende Witterung für aufregende Zeiten, Menschen und Gegenden, und werde wahrscheinlich unsichtbar angezogen von Zuständen, bei denen eine gewisse Spannung in der Luft liegt.

Als Sie heute bei Tisch so blass wurden und den Sonnenstich fühlten, dachte ich bei mir: Da bist du ja gerade recht gekommen, um gleich ein Unglück vorzufinden und helfen zu können. In den meisten Fällen aber kann ich nicht helfen. Da muss ich nur Zuschauer sein und muss froh sein, wenn ich nicht selbst dabei den Kopf verliere. Denn sehen Sie, einen leichten Schlaganfall habe ich schon einmal gehabt. Den erhielt ich infolge eines Schreckens, als ich Mann, Kind und Vermögen in einem Augenblick verlor.“

Und dann erzählte die russische Dame mir ihr Leben. Sie stammte von deutschen Eltern, war aber in Russland geboren und hatte einen Russen geheiratet. Ihr Mann war Leutnant, als sie Hochzeit machten. Aber sie waren nur wenige Wochen vermählt gewesen, da brach der Krimkrieg aus, und die junge Frau wusste, dass ihr Mann fort von ihrer Seite in den Krieg und vielleicht in den Tod ziehen musste.

Sie machte sich auf, besuchte seinen General und bat ihn, dass sie als Krankenschwester dem Regiment ihres Mannes folgen dürfte. Das wurde ihr gewährt.

Ihren Mann, der in den Schlachten war, sah sie natürlich nur selten, und wenn sie mit den anderen Rotekreuzschwestern nach den Kämpfen die Verwundeten in den Feldern aufsuchte, dann zitterte ihr Herz jedes Mal, wenn sie einem am Boden Liegenden den Kopf umwendete und das Gesicht zu sehen suchte, denn sie vermeinte immer, ihren Mann zu finden.

Und eines Tages wurde sie auch zu ihm gerufen. Er lag verwundet in einem Schanzgraben. Nur sein Bursche war bei ihm. Die junge Frau brachte wochenlang in dem Schanzloch zu und hütete und pflegte ihren Mann.

Von dieser Kriegszeit her, die sie bei Blut, Grausen und Ängsten auf schmerz durchkreischten Schlachtfeldern durchgemacht hatte, war ihr ein schwaches Herz geblieben.

Nach vielen Jahren, als sie schon einen großen Sohn, einen hübschen Knaben hatte, traf sie aber ein viel schlimmeres Weh, als jener Krieg ihr antun konnte. Ihr Knabe wurde am Meer von einer Dampferlandungsbrücke durch eine Sturmwelle ins Wasser gerissen, und ihr Mann sprang rasch entschlossen hinter seinem Kinde her, um es zu retten. Aber das Meer gab sie nicht mehr zurück. Beide ertranken. Außerdem hatte der General gerade an diesem Tage seine Wertpapiere, die er auf eine Bank bringen sollte, in der Brusttasche. So waren der Russin in einer Sekunde Mann, Sohn und Vermögen entrissen worden.

Seit jener Zeit beobachtete sie, dass sie einen Instinkt für Unglück hatte.

Als sie zum ersten Mal zum italienischen Schriftsteller Fogazzaro kam, war diesem eben sein Kind ertrunken. Als sie vor Jahren zum ersten Mal an den Gardasee kam, geschah dort das größte Unglück, das der See je erlebt hatte. Durch Platzen des Dampfkessels eines Vergnügungsdampfers verloren Hunderte von Menschen ihr Leben. Und so wusste sie noch viele Fälle zu berichten. Und sie war gar nicht verwundert, als ich heute den Sonnenstich erlitt. Sie hatte immer eine ganze Hausapotheke bei sich, da sie ja die Begleiterin hundertfacher Unglücke gewesen war.

„Es ist besser,“ sagte ich ihr, „wenn Ulrike bald wieder abreist. Der junge Student ist schon ganz blass verliebt in sie und sieht krank aus, als ob er in ihrer Nähe ein betäubendes Gas eingeatmet hätte. Und die andern, der Offizier und der Drogist, stolpern über ihre eigenen Beine vor Verwirrtheit, wenn sie sich vor der schönen Ulrike verbeugen sollen. Sie wird auch noch die Zwerge und die Katzen in sich vernarrt machen, die Berge werden umfallen wollen, um zu ihr zu kommen, und der See wird wandern wollen, um ihr nachzulaufen.“

„Daran ist nichts zu ändern,“ sagte die Russin. „Es kann sogar sein, dass wir auch Schaden nehmen dabei. Denn wo ein Unglückswirbel einsetzt, reißt er auch Fernstehende um. Heute, als Sie schliefen und oben in Ihrem Zimmer krank lagen, spielte Ulrike Boccia hier im Garten mit den italienischen Zollsoldaten. Die Männer bekamen fast eine Schlägerei, denn jeder wollte ihr zuerst den Ball zureichen dürfen. Und auf der Straße, als Ulrike einem Zwerg eine Zigarette schenkte, entriss der andere Zwerg dem ersten das Geschenk und verbarg die Zigarette an seinem Herzen. Der Beraubte zog dann sein Taschenmesser und wollte auf den Rivalen losstechen. Der aber zog auch ein Messer und stach wieder zurück. Und wenn die Soldaten die beiden Krüppel nicht getrennt hätten, würden sie sich in Stücke zerschnitten haben. Ich bin gespannt, wie es morgen wird“, setzte die Russin hinzu. „Der Wirt, der Bürgermeister, hat mir heute schon gesagt, er wolle sich eine deutsche Grammatik anschaffen, damit er Fräulein Ulrike schreiben könne, wenn sie wieder in Deutschland sein würde. Und im Winter wollte er dann eine Reise nach Deutschland machen. Alle sind in Ulrike vernarrt wie die Fliegen in ein Stück Zucker. Sie hat wie ein roter Blitz hier in den Ort eingeschlagen.“

Am nächsten Morgen früh, als die Wiesen am See und ihre gelben Dotterblumen noch taufeucht waren, stand ich am Fenster, kurz nachdem das erste Dampfschiff getutet hatte. Da hörte ich, dass im Garten unten Neuangekommene nach Zimmern fragten. Es war jetzt Anfang September, und der Wirt hier hatte im September doch einige immer wiederkehrende Gäste in seinem Hause, denn der Herbst ist die Jahreszeit, in der auch jeder entlegenste Winkel des Gardasees von Naturschwärmern aufgesucht wird.



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Textgrundlage: "Das Iguanadon" Max Dauthendrey,
 aus: Geschichten aus den Vier Winden", Seite 281-359.

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: "Bodensee", Margaret Hofheinz-Döring, 1964,
 Quelle: Peter Mauch. Brigitte Mauch, der Nutzungsinhaber
dieses Werkes, veröffentlicht es hiermit unter der folgenden

Lizenz: CC 3.0
Namensnennung: Margret Hofheinz-Döring/ Galerie Brigitte Mauch Göppingen
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