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Literatur


04.3



Geschichten

Max Dauthendey





Das Iguanodon V


Sie sagte mir leise, sie wolle gehen. Der Student verstand es und sagte, er wolle uns noch in den Weingarten führen, wo sein Freund viele Netze aufgespannt hätte und die Vögel in einer anderen Weise einfinge als er.

Im Garten droben nahm uns dann der Drogist in Empfang. Er führte uns durch die dichten Laubengänge, in denen hohe Rebenstocke standen, die an Drähten ausgebreitet wuchsen und hohe Korridore bildeten. In diesen Gängen, an den Traubenwänden entlang, waren große haardünne Netze aufgespannt. In ihnen verfingen sich die kleinen Vögel im Durchfliegen. Sie zappelten hier in den Maschen wie die anderen vorhin an den Leimruten. Aber das Erschütterndste hier waren nicht die Netze, es war nicht die Fangart, sondern die Lockweise. Es waren da eine Reihe Käfige an der Wand. In denen hielt sich der Drogist geblendete Nachtigallen. Den Nachtigallen, die er gefangen hatte, hatte er die Augen ausgestochen, damit sie in ewiger Finsternis besser singen sollten. Die armen Tiere waren also doppelt gefangen, doppelt geängstigt, und ihre Klagen wurden doppelt schmelzend, doppelt sehnsüchtig.

„Das haben Sie getan?“ fragte Ulrike unbefangen, aber zugleich blieb sie wie erstarrt vor einer blinden Nachtigall stehen. Sie konnte es noch gar nicht begreifen, dass es schändliche Wirklichkeit war, was sie sah. Und der Drogist grinste. Aber er hatte eine seltsame Art, über die Köpfe der Menschen fortzusprechen. Was er nicht hören wollte, übersprach er. Nur sein Blut, das ihm leicht zu Kopf stieg, zeigte, dass er gehört hatte.

Auch mir grauste es jetzt vor diesem Garten, der da am See hinter hohen Mauern eingeschlossen wie eine große Mördergrube lag. Von außen hätte man der harmlosen Mauer nicht ansehen können, dass dahinter die freiesten Geschöpfe der Erde, die kleinen, dem Menschenherzen so wohlgefälligen Nachtigallen und andere Singvögel, lebenslängliche Folterqualen und Tausende von ihnen einen grässlichen Tod erleiden mussten.

Also dieses war das Grauen, dachte ich, als ich mit Ulrike den Garten verlassen hatte, das ich durch die Mauern gefühlt habe, als ich am ersten Abend durch den kleinen, brütend schwülen Ort hinaus zu den grimassenschneidenden Olivenhainen am Bergabhang gewandert war.

„Ich will keine Musik mehr von diesen beiden hören und kein Lied“, sagte Ulrike ganz erschüttert. „Pfui! Wenn ich das gestern Abend gewusst hätte, dass die beiden solche Scheusale sind!“

„Sie werden aber heute Abend doch mit den jungen Leuten auf das Scheinwerferboot gehen und über den See kreuzen, wozu Sie gesternA der Offizier eingeladen hat.“

„Nein, nein,“ rief sie heftig. „Ich habe den beiden eben gesagt, sie sollten lieber elende Schmuggler werden. Denn besser als die Vogeltöterei ist dann doch das Schmuggeln. Sie haben natürlich verstanden, dass ich sie nicht mehr sehen will, und wurden beide blass und rot.“

Im Gasthaus musste ich ein kräftiges Glas Wein trinken, um die Übelkeit herunterzuspülen und das Grauen, das mich befiel, wenn ich an die Vogelfänger zurückdachte.

Ulrike, in ihrer lebhaften Art, sagte, sie hätte am liebsten beiden die Augen eigenhändig ausgestochen und die Frevler lebenslänglich mit den Leimruten gepeitscht.

Der Tag wurde dann sehr heiß. Die Russin, Ulrike und ich saßen im Garten umher oder im kühlen Speisesaal, lesend oder schreibend. Nach dem Mittagessen war die Glut aufs höchste gestiegen, und der See draußen leuchtete mit seinen Lichtflammen brennend in die Zimmer herein. Nirgends war Schutz vor der Hitze.

Die Damen hatten sich zum Schlafen zurückgezogen. Ich lag in einer Hängematte unter dem Mispelbaum, und mir schwand bald das Bewusstsein, aber Schlaf war es nicht, denn ich wachte und erlebte Seltsames dabei.

Die Hitze betäubte meinen Verstand, aber meine Augen und Ohren wurden unendlich wach und hatten ein Gesicht, das kein Traum war.

Ich schaute durch den Laubengang hindurch hinaus auf die lichtüberrieselte Seefläche, und dort sah ich ein Tier aufsteigen. Das hatte den Kopf einer Eidechse, den Hals einer Giraffe, den Bauch einer watschelnden Ente und den langen Schweif eines Krokodils.

Mitten im See hob es sich, grüngrau, wie aus tausendjährigem Schlamm geboren. Seine Haut hatte menschenkopfgroße Warzen.

Das Tier nickte mit seinem langen Hals wie ein Vogel Strauß. Das glitzernde Wasser rieselte in Bächlein an ihm nieder, und Büschel von großen Seepflanzen wuchsen dem Tier auf dem Rücken. Es sah aus, als habe es jahrhundertelang in der Seetiefe geschlafen und richtete sich jetzt auf, um Umschau zu halten, ehe es weiterschlief.

Ich erinnerte mich, ich hatte dieses Tier in einer lebensgroßen Nachahmung aus Stein im Zoologischen Garten in Berlin, an der Freitreppe zum Aquariumhaus gesehen, und wusste auch, dass auf einer Tafel darunter „Iguanodon“ stand, und „seit zwanzig Millionen Jahren auf der Erde ausgestorben“. Es war eines jener vorsindflutlichen Tiere, an die ich gestern Abend gedacht hatte, als Ulrike den Garten verhexte mit ihrer über alle menschlichen Begriffe starken Anziehungskraft, die die Zwerge, die Katzen und alle Männer entzündete. Vor meinem inneren Blick war Ulrike da in ein Fabelwesen verwandelt worden, für das man keine gewohnten Maßstäbe findet. Und nun sah ich am hellen, heißen Nachmittag ein Iguanodon seinen zwanzig Millionen Jahre langen Schlaf unterbrechen und mitten im See aufsteigen und Rundschau nach den Ufern halten, als wollte sich die langhalsige Gestalt mit einem ebenbürtigen Feinde messen, der es heraufgerufen und zum Zweikampf herausgefordert hätte.

Und seltsam, – ich erkannte plötzlich die Berge, die sonst Erde und Stein waren, auf dem anderen Seeufer und über meinen Häuptern und hinter den Hausdächern des am Berg hinaufkletternden Ortes nicht mehr. Diese einzelnen Berge schienen die Stümpfe von Urweltbäumen zu sein, deren jeder ein paar Meilen im Durchmesser maß. Und gegen diese riesigen Baumstümpfe wirkte das haushohe Iguanodon wie eine winzige Ameise. Die vorsündflutliche Welt, in der der Mensch weniger als ein Infusionstierchen in einem Tropfen Wasser war, erschreckte mich nicht; sie stand schrecklich schön im Sonnenschein vor mir. Und auch als das Iguanodon eine pfeilartige weiße Zunge, wie eine lange dünne Röhre, ausstreckte, die es langsam anwachsen ließ, erschrak ich noch nicht. Erst als die Zunge wie ein dünner Sauger die Ufer, die Berge und endlich die einzelnen Häuserflächen, die nach dem Wasser sahen, von der Mitte des Sees aus abtastete, da packte mich ein panischer Schrecken. Denn der weiße Strahl der Zunge zog sich, wenn er ein Haus berührt hatte, wie ein langer Schneckenfühler wieder zu dem Tier zurück.

Mit einem Male hörte ich Geschrei, ein Angstgezirp, ähnlich dem, das die zappelnden Vögel an den Leimruten im Morgen gezirpt hatten. Ich sah mit Entsetzen, dass die Zunge des vorsindflutlichen Tieres jedes Mal, wenn sie ein Haus berührte, ein Fenster oder einen Laden eindrückte und sich einen Menschen aus den Zimmern holte, und der Geraubte verschwand angeklebt mit der eingezogenen Zunge im Schnabelrachen des Tieres.

Das Iguanodon, das ich hier sah, war wohl zwanzigmal größer als die Abbildung, die ich einmal in Stein, von einem Bildhauer gearbeitet, in Berlin gesehen hatte. Den Menschen, den die Riesenbestie verschluckte, sah man im langen dünnen Tierhals nicht hinabgleiten, denn der Hautbehang des Halses schien fest und dick zu sein wie Panzerplatten.

Mein Grauen wuchs. Jetzt stürzten unter der Gartentür vom See her in den Garten herein die Weiber, die am Ufer gewaschen hatten, und viel Volk ihnen nach, das vor der Zunge des Tieres flüchtete. Ich fühlte aber, dass ich mich mit den Fußspitzen und meinen Armen in dem Maschennetz der Hängematte verwickelt hatte, sodass ich mich nicht zur Flucht aufrichten konnte. Nur meinen Kopf konnte ich hin und her bewegen.

Ich sah, wie auf den Lärm im Garten der Wirt, die russische Generalin, das heute morgen angekommene Ehepaar und die zwei Fischerknaben, letztere mit den Chenilleaffen und der Drehorgel bepackt, aus dem Hause kamen und nach der Kellertür strömten, die der Wirt öffnete, und wohin alles, was im Garten war, dem Wirt nachdrängte, der dann, als alle in den Keller geflohen waren, behutsam die Kellertür von innen schloss. Ich hörte, wie der Wirt zuriegelte, und wie die Leute drinnen erst alle durcheinanderschwatzten, und wie es dann atemlos still wurde und sie alle zu horchen schienen. Jetzt war die Zunge des Tieres, glänzend weiß wie der Lichtstrahl eines Scheinwerfers und pfeifend über die Krone des Baumes, unter dem ich in der Hängematte gefesselt lag, auf das Gasthaus zugeschossen und hatte die Glastür im Speisesaal eingedrückt, deren Scherben laut klingend auf den steingepflasterten Fußboden fielen.

Alle Leute im Keller waren in Sicherheit. Auch die Tochter des Briefträgers war vorhin mit den Menschen dort hinuntergeflüchtet und ich staunte nachträglich noch, wie furchtlos sie eigentlich gewesen war. Das junge Ding schien nur vom Strom der Flüchtlinge mitgerissen worden zu sein. Denn sie nähte, während sie in den Keller stieg, ruhig an ihrer Arbeit weiter.

Nur Ulrike hatte ich nicht aus dem Haus fliehen sehen. Aber ich wusste doch, dass sie in ihrem Zimmer oben war und Siesta hielt. Plötzlich zog sich die Tierzunge, die dünne, tastende und saugende Zungenspitze des Iguanodons, vom Hause zurück und schnellte wie eine zurückgeworfene Leimrute hoch in die Luft, gleichsam, als sei das vorsündflutliche Tier draußen im See tief erschreckt worden.
Mich schüttelten Frost und Kälte. Wie leicht konnte die Zunge jetzt pfeilschnell durch das Geäst des Baumes wieder zurückschießen und mich aus der Hängematte ziehen!

Da aber hörte ich, dass sich ein Fenster im Zimmer Ulrikes öffnete, und ich wollte dem schönen Mädchen zurufen, sie solle fliehen und sich verbergen, als ich sah, wie ein eben solcher Tierkopf, nur viel kleiner als der des Ungeheuers auf dem See draußen, sich aus dem Fenster reckte. Sein Hals wuchs und stand wie eine lange ungeheure Fahnenstange aus der Fensteröffnung. Seine Zunge schoss aus dem Rachen und züngelte lebhaft. Aber statt der Warzen hatte dieses neue Tier rote lockige Haarbüschel an seinem Giraffenhals, Haare, so rot wie Ulrikes Haar. Zugleich aber sah ich, dass die Zunge, die dieses Tier ausstreckte, keine lange Saugröhre war, sondern dass elektrische Flammen, elektrische Strahlenbündel, die viel schneller und viel gewaltiger waren als die Zunge des anderen Tieres, weit auf den See hinaussprühten und furchtbare Schläge ins Wasser austeilten. Und wo dieses Tieres Elektrizität hinschlug, schien der See bis in die Tiefe zu kochen.

Das Iguanodon draußen in der Seemitte hatte seine Zunge eingezogen, legte seinen Hals flach wie einen schwimmenden Baumstamm aufs Wasser, und es schien mir, als überlege es, ob es den Kampf mit der Nebenbuhlerin am Ufer aufnehmen, oder ob es wieder versinken sollte in sein jahrtausendealtes Wassergrab.

Plötzlich aber dröhnte die Erde. Der Baum, an dem meine Hängematte hing, zitterte und schüttelte sich, als wenn ihn ein Schauder durchführe. Zwischen den hohen vorweltlichen Baumstümpfen, die die Höhe des Monte Alto hatten, flog eine Herde blutfarbener Drachen auf. Die hatten mächtige Fledermausflügel aus roten Häuten. Der Himmel verfinsterte sich blutrot. Und die Drachen zeigten gelbe Bäuche und grünliche Brüste, hinter denen ich einen dunkelblauen Herzwulst pochen sah.

Im See aber tauchte lautlos das Iguanodon unter. Auch das Tier im Hause hörte auf, Blitze zu werfen, und zog seinen langen Hals in das Fenster zurück und verschwand. Die roten Drachen aber füllten die ganze Luft und wurden zu Millionen Drachen.

Ich sah eine Weile noch den Sonnenschein, der die vielen ausgespannten Drachenflügel rot durchleuchtete. Und von dieser Röte wurde auch der Baumstamm, unter dem ich lag, rot beschienen und ebenso Äste und Blätter. Der rote Stamm sah wie die blutige Gurgelröhre aus, die man einem mächtigen Tier ausgenommen hat. Und der Baum begann zu sprechen, und seine Äste begannen sich im Wind zu ballen wie Fäuste, und sie wuchsen und schlugen an die verschlossene Kellertüre, dahinter sich die Menschen des Hauses geflüchtet hatten. Und der Baum  schrie zuletzt auf, und ich verstand jedes Wort, und mich schauderte, als er mich in der Hängematte hin und her schleuderte. Des Baumes Stimme aber rief:

„So lange ihr Menschengezücht euch höher dünkt und gewaltiger als das Höhenreich und das Unterreich, so lange sollt ihr keinen Frieden haben, da ihr keinen Frieden geben wollt. Ihr sollt nicht sicher sein in euren Häusern, nicht sicher in euren Betten, nicht sicher unter uns Bäumen. Wir werden immer wieder zu euch hereinbrechen, wir aus dem Unterreich und aus dem Höhenreich, deren Leben ihr erloschen glaubt. Und ihr werdet kämpfen müssen, so lange ihr Kampf wollt. Die roten Drachen, sie werden über euch geschickt, sie werden euch immer wieder besiegen, auch wenn eure Kämpfer elektrisches Feuer speien. Die roten Drachen, die aus dem Urblut aufstiegen, aus dem auch ihr gezeugt wurdet, sie sind es, die euch züchtigen sollen.“

Nachdem der Baum also dröhnend gesprochen hatte, wurde es still. Die rote Dunkelheit, die die Landschaft und alles um mich entrückt hatte, wich allmählich, und es wurde hell wie vorher. Der erhitzte Garten im Nachmittagslicht, voll blühender roter Nelken und roter Geranien, lag am See, trocken und scharf beleuchtet. Niemand sprach. Nichts Ungewöhnliches war zu sehen. Im Hause schien noch alles zu schlafen. Gerade vor mir an der Gartenmauer reckten sich einige blaugrüne, tierähnliche Kakteenstauden. Auf den fleischigen, gepanzerten Pflanzen sonnten sich grün schillernde Fliegen, und neben ihnen züngelte eine kleine Eidechse.



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Textgrundlage: "Das Iguanadon" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus den Vier Winden", Seite 281-359.

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: "Bodensee", Margaret Hofheinz-Döring, 1964,
Quelle: Peter Mauch. Brigitte Mauch, der Nutzungsinhaber
dieses Werkes, veröffentlicht es hiermit unter der folgenden

Lizenz: CC 3.0
Namensnennung: Margret Hofheinz-Döring/
Galerie Brigitte Mauch Göppingen

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