Geschichten
Max Dauthendey
Sie
sagte mir leise, sie wolle gehen. Der Student
verstand es und sagte, er wolle uns noch in den Weingarten führen, wo
sein
Freund viele Netze aufgespannt hätte und die Vögel in einer anderen
Weise
einfinge als er.
Im
Garten droben nahm uns dann der Drogist in Empfang. Er
führte uns durch die dichten Laubengänge, in denen hohe Rebenstocke
standen,
die an Drähten ausgebreitet wuchsen und hohe Korridore bildeten. In
diesen
Gängen, an den Traubenwänden entlang, waren große haardünne Netze
aufgespannt.
In ihnen verfingen sich die kleinen Vögel im Durchfliegen. Sie
zappelten hier
in den Maschen wie die anderen vorhin an den Leimruten. Aber das
Erschütterndste hier waren nicht die Netze, es war nicht die Fangart,
sondern
die Lockweise. Es waren da eine Reihe Käfige an der Wand. In denen
hielt sich
der Drogist geblendete Nachtigallen. Den Nachtigallen, die er gefangen
hatte,
hatte er die Augen ausgestochen, damit sie in ewiger Finsternis
besser singen sollten. Die armen
Tiere waren also doppelt gefangen, doppelt geängstigt, und ihre Klagen
wurden
doppelt schmelzend, doppelt sehnsüchtig.
„Das
haben Sie getan?“ fragte Ulrike unbefangen, aber
zugleich blieb sie wie erstarrt vor einer blinden Nachtigall stehen.
Sie konnte
es noch gar nicht begreifen, dass es schändliche Wirklichkeit war, was
sie sah.
Und der Drogist grinste. Aber er hatte eine seltsame Art, über die
Köpfe der
Menschen fortzusprechen. Was er nicht hören wollte, übersprach er. Nur
sein
Blut, das ihm leicht zu Kopf stieg, zeigte, dass er gehört hatte.
Auch
mir grauste es jetzt vor diesem Garten, der da am
See hinter hohen Mauern eingeschlossen wie eine große Mördergrube lag.
Von
außen hätte man der harmlosen Mauer nicht ansehen können, dass dahinter
die
freiesten Geschöpfe der Erde, die kleinen, dem Menschenherzen so
wohlgefälligen
Nachtigallen und andere Singvögel, lebenslängliche Folterqualen und
Tausende
von ihnen einen grässlichen Tod erleiden mussten.
Also
dieses war das Grauen, dachte ich, als ich mit
Ulrike den Garten verlassen hatte, das ich durch die Mauern gefühlt
habe, als
ich am ersten Abend durch den kleinen, brütend schwülen
Ort hinaus zu den grimassenschneidenden Olivenhainen am Bergabhang
gewandert
war.
„Ich
will keine Musik mehr von diesen beiden hören und
kein Lied“, sagte Ulrike ganz erschüttert. „Pfui! Wenn ich das gestern
Abend
gewusst hätte, dass die beiden solche Scheusale sind!“
„Sie
werden aber heute Abend doch mit den jungen Leuten
auf das Scheinwerferboot gehen und über den See kreuzen, wozu Sie
gesternA der
Offizier eingeladen hat.“
„Nein,
nein,“ rief sie heftig. „Ich habe den beiden eben
gesagt, sie sollten lieber elende Schmuggler werden. Denn besser als
die
Vogeltöterei ist dann doch das Schmuggeln. Sie haben natürlich
verstanden, dass
ich sie nicht mehr sehen will, und wurden beide blass und rot.“
Im
Gasthaus musste ich ein kräftiges Glas Wein trinken,
um die Übelkeit herunterzuspülen und das Grauen, das mich befiel, wenn
ich an
die Vogelfänger zurückdachte.
Ulrike,
in ihrer lebhaften Art, sagte, sie hätte am
liebsten beiden die Augen eigenhändig ausgestochen und die Frevler
lebenslänglich mit den Leimruten gepeitscht.
Der
Tag wurde dann sehr heiß. Die Russin, Ulrike und ich
saßen im Garten umher oder im kühlen Speisesaal, lesend oder
schreibend. Nach
dem Mittagessen war die Glut aufs höchste gestiegen, und der See
draußen
leuchtete mit seinen Lichtflammen brennend in die Zimmer herein.
Nirgends war
Schutz vor der Hitze.
Die
Damen hatten sich zum Schlafen zurückgezogen. Ich lag
in einer Hängematte unter dem Mispelbaum, und mir schwand bald das
Bewusstsein,
aber Schlaf war es nicht, denn ich wachte und erlebte Seltsames dabei.
Die
Hitze betäubte meinen Verstand, aber meine Augen und
Ohren wurden unendlich wach und hatten ein Gesicht, das kein Traum war.
Ich
schaute durch den Laubengang hindurch hinaus auf die
lichtüberrieselte Seefläche, und dort sah ich ein Tier aufsteigen. Das
hatte
den Kopf einer Eidechse, den Hals einer Giraffe, den Bauch einer
watschelnden
Ente und den langen Schweif eines Krokodils.
Mitten
im See hob es sich, grüngrau, wie aus
tausendjährigem Schlamm geboren. Seine Haut hatte menschenkopfgroße
Warzen.
Das
Tier nickte mit seinem langen Hals wie ein Vogel Strauß. Das
glitzernde Wasser
rieselte in Bächlein an ihm nieder, und Büschel von großen Seepflanzen
wuchsen
dem Tier auf dem Rücken. Es sah aus, als habe es jahrhundertelang in
der
Seetiefe geschlafen und richtete sich jetzt auf, um Umschau zu halten,
ehe es
weiterschlief.
Ich
erinnerte mich, ich hatte dieses Tier in einer
lebensgroßen Nachahmung aus Stein im Zoologischen Garten in Berlin, an
der
Freitreppe zum Aquariumhaus gesehen, und wusste auch, dass auf einer
Tafel
darunter „Iguanodon“ stand, und „seit zwanzig Millionen Jahren auf der
Erde
ausgestorben“. Es war eines jener vorsindflutlichen Tiere, an die ich
gestern Abend
gedacht hatte, als Ulrike den Garten verhexte mit ihrer über alle
menschlichen
Begriffe starken Anziehungskraft, die die Zwerge, die Katzen und alle
Männer
entzündete. Vor meinem inneren Blick war Ulrike da in ein Fabelwesen
verwandelt
worden, für das man keine gewohnten Maßstäbe findet. Und nun sah ich am
hellen,
heißen Nachmittag ein Iguanodon seinen zwanzig Millionen Jahre langen
Schlaf
unterbrechen und mitten im See aufsteigen und Rundschau nach den Ufern
halten,
als wollte sich die langhalsige Gestalt mit
einem ebenbürtigen Feinde messen, der es heraufgerufen und zum
Zweikampf
herausgefordert hätte.
Und
seltsam, – ich erkannte plötzlich die Berge, die
sonst Erde und Stein waren, auf dem anderen Seeufer und über meinen
Häuptern
und hinter den Hausdächern des am Berg hinaufkletternden Ortes nicht
mehr.
Diese einzelnen Berge schienen die Stümpfe von Urweltbäumen zu sein,
deren
jeder ein paar Meilen im Durchmesser maß. Und gegen diese riesigen
Baumstümpfe
wirkte das haushohe Iguanodon wie eine winzige Ameise. Die
vorsündflutliche
Welt, in der der Mensch weniger als ein Infusionstierchen in einem
Tropfen
Wasser war, erschreckte mich nicht; sie stand schrecklich schön im
Sonnenschein
vor mir. Und auch als das Iguanodon eine pfeilartige weiße Zunge, wie
eine
lange dünne Röhre, ausstreckte, die es langsam anwachsen ließ, erschrak
ich
noch nicht. Erst als die Zunge wie ein dünner Sauger die Ufer, die
Berge und
endlich die einzelnen Häuserflächen, die nach dem Wasser sahen, von der
Mitte
des Sees aus abtastete, da packte mich ein panischer Schrecken. Denn
der weiße
Strahl der Zunge zog sich, wenn er ein Haus berührt hatte, wie ein
langer Schneckenfühler wieder zu dem Tier
zurück.
Mit
einem Male hörte ich Geschrei, ein Angstgezirp,
ähnlich dem, das die zappelnden Vögel an den Leimruten im Morgen
gezirpt hatten.
Ich sah mit Entsetzen, dass die Zunge des vorsindflutlichen Tieres
jedes Mal,
wenn sie ein Haus berührte, ein Fenster oder einen Laden eindrückte und
sich
einen Menschen aus den Zimmern holte, und der Geraubte verschwand
angeklebt mit
der eingezogenen Zunge im Schnabelrachen des Tieres.
Das
Iguanodon, das ich hier sah, war wohl zwanzigmal
größer als die Abbildung, die ich einmal in Stein, von einem Bildhauer
gearbeitet, in Berlin gesehen hatte. Den Menschen, den die Riesenbestie
verschluckte, sah man im langen dünnen Tierhals nicht hinabgleiten,
denn der
Hautbehang des Halses schien fest und dick zu sein wie Panzerplatten.
Mein
Grauen wuchs. Jetzt stürzten unter der Gartentür vom
See her in den Garten herein die Weiber, die am Ufer gewaschen hatten,
und viel
Volk ihnen nach, das vor der Zunge des Tieres flüchtete. Ich fühlte
aber, dass
ich mich mit den Fußspitzen und meinen Armen in dem Maschennetz der
Hängematte
verwickelt hatte, sodass ich mich nicht zur Flucht
aufrichten konnte. Nur meinen Kopf konnte ich hin und her bewegen.
Ich
sah, wie auf den Lärm im Garten der Wirt, die
russische Generalin, das heute morgen angekommene Ehepaar und die zwei
Fischerknaben, letztere mit den Chenilleaffen und der Drehorgel
bepackt, aus
dem Hause kamen und nach der Kellertür strömten, die der Wirt öffnete,
und
wohin alles, was im Garten war, dem Wirt nachdrängte, der dann, als
alle in den
Keller geflohen waren, behutsam die Kellertür von innen schloss. Ich
hörte, wie
der Wirt zuriegelte, und wie die Leute drinnen erst alle
durcheinanderschwatzten, und wie es dann atemlos still wurde und sie
alle zu
horchen schienen. Jetzt war die Zunge des Tieres, glänzend weiß wie der
Lichtstrahl
eines Scheinwerfers und pfeifend über die Krone des Baumes, unter dem
ich in
der Hängematte gefesselt lag, auf das Gasthaus zugeschossen und hatte
die
Glastür im Speisesaal eingedrückt, deren Scherben laut klingend auf den
steingepflasterten Fußboden fielen.
Alle
Leute im Keller waren in Sicherheit. Auch die
Tochter des Briefträgers war vorhin mit den Menschen dort
hinuntergeflüchtet und
ich staunte nachträglich noch, wie furchtlos sie eigentlich gewesen
war. Das
junge Ding schien nur vom Strom der Flüchtlinge mitgerissen worden zu
sein.
Denn sie nähte, während sie in den Keller stieg, ruhig an ihrer Arbeit
weiter.
Nur
Ulrike hatte ich nicht aus dem Haus fliehen sehen.
Aber ich wusste doch, dass sie in ihrem Zimmer oben war und Siesta
hielt.
Plötzlich zog sich die Tierzunge, die dünne, tastende und saugende
Zungenspitze
des Iguanodons, vom Hause zurück und schnellte wie eine zurückgeworfene
Leimrute hoch in die Luft, gleichsam, als sei das vorsündflutliche Tier
draußen
im See tief erschreckt worden.
Mich
schüttelten Frost und Kälte. Wie leicht konnte die
Zunge jetzt pfeilschnell durch das Geäst des Baumes wieder
zurückschießen und
mich aus der Hängematte ziehen!
Da
aber hörte ich, dass sich ein Fenster im Zimmer
Ulrikes öffnete, und ich wollte dem schönen Mädchen zurufen, sie solle
fliehen
und sich verbergen, als ich sah, wie ein eben solcher Tierkopf, nur
viel
kleiner als der des Ungeheuers auf dem See draußen, sich aus dem
Fenster
reckte. Sein Hals wuchs und stand wie
eine lange ungeheure Fahnenstange aus der Fensteröffnung. Seine Zunge
schoss
aus dem Rachen und züngelte lebhaft. Aber statt der Warzen hatte dieses
neue
Tier rote lockige Haarbüschel an seinem Giraffenhals, Haare, so rot wie
Ulrikes
Haar. Zugleich aber sah ich, dass die Zunge, die dieses Tier
ausstreckte, keine
lange Saugröhre war, sondern dass elektrische Flammen, elektrische
Strahlenbündel, die viel schneller und viel gewaltiger waren als die
Zunge des
anderen Tieres, weit auf den See hinaussprühten und furchtbare Schläge
ins
Wasser austeilten. Und wo dieses Tieres Elektrizität hinschlug, schien
der See
bis in die Tiefe zu kochen.
Das
Iguanodon draußen in der Seemitte hatte seine Zunge
eingezogen, legte seinen Hals flach wie einen schwimmenden Baumstamm
aufs
Wasser, und es schien mir, als überlege es, ob es den Kampf mit der
Nebenbuhlerin am Ufer aufnehmen, oder ob es wieder versinken sollte in
sein
jahrtausendealtes Wassergrab.
Plötzlich
aber dröhnte die Erde. Der Baum, an dem meine
Hängematte hing, zitterte und schüttelte sich, als wenn ihn ein
Schauder
durchführe. Zwischen den hohen vorweltlichen Baumstümpfen,
die die Höhe des Monte Alto hatten, flog eine Herde blutfarbener
Drachen auf.
Die hatten mächtige Fledermausflügel aus roten Häuten. Der Himmel
verfinsterte
sich blutrot. Und die Drachen zeigten gelbe Bäuche und grünliche
Brüste, hinter
denen ich einen dunkelblauen Herzwulst pochen sah.
Im
See aber tauchte lautlos das Iguanodon unter. Auch das
Tier im Hause hörte auf, Blitze zu werfen, und zog seinen langen Hals
in das
Fenster zurück und verschwand. Die roten Drachen aber füllten die ganze
Luft
und wurden zu Millionen Drachen.
Ich
sah eine Weile noch den Sonnenschein, der die vielen
ausgespannten Drachenflügel rot durchleuchtete. Und von dieser Röte
wurde auch
der Baumstamm, unter dem ich lag, rot beschienen und ebenso Äste und
Blätter.
Der rote Stamm sah wie die blutige Gurgelröhre aus, die man einem
mächtigen
Tier ausgenommen hat. Und der Baum begann zu sprechen, und seine Äste
begannen
sich im Wind zu ballen wie Fäuste, und sie wuchsen und schlugen an die
verschlossene Kellertüre, dahinter sich die Menschen des Hauses
geflüchtet hatten.
Und der Baum schrie zuletzt auf, und ich verstand
jedes Wort, und mich schauderte, als er mich in der Hängematte hin und
her
schleuderte. Des Baumes Stimme aber rief:
„So
lange ihr Menschengezücht euch höher dünkt und
gewaltiger als das Höhenreich und das Unterreich, so lange sollt ihr
keinen
Frieden haben, da ihr keinen Frieden geben wollt. Ihr sollt nicht
sicher sein
in euren Häusern, nicht sicher in euren Betten, nicht sicher unter uns
Bäumen.
Wir werden immer wieder zu euch hereinbrechen, wir aus dem Unterreich
und aus
dem Höhenreich, deren Leben ihr erloschen glaubt. Und ihr werdet
kämpfen
müssen, so lange ihr Kampf wollt. Die roten Drachen, sie werden über
euch
geschickt, sie werden euch immer wieder besiegen, auch wenn eure
Kämpfer
elektrisches Feuer speien. Die roten Drachen, die aus dem Urblut
aufstiegen,
aus dem auch ihr gezeugt wurdet, sie sind es, die euch züchtigen
sollen.“
Nachdem
der Baum also dröhnend gesprochen hatte, wurde es
still. Die rote Dunkelheit, die die Landschaft und alles um mich
entrückt
hatte, wich allmählich, und es wurde hell wie vorher. Der erhitzte
Garten im
Nachmittagslicht, voll blühender roter Nelken und roter Geranien,
lag am See, trocken und scharf
beleuchtet. Niemand sprach. Nichts Ungewöhnliches war zu sehen. Im
Hause schien
noch alles zu schlafen. Gerade vor mir an der Gartenmauer reckten sich
einige
blaugrüne, tierähnliche Kakteenstauden. Auf den fleischigen,
gepanzerten
Pflanzen sonnten sich grün schillernde Fliegen, und neben ihnen
züngelte eine
kleine Eidechse.
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Textgrundlage: "Das Iguanadon" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus den Vier Winden", Seite 281-359.
wikimedia
Logo 196: "Bodensee", Margaret
Hofheinz-Döring, 1964,
Quelle: Peter Mauch. Brigitte Mauch, der Nutzungsinhaber
dieses Werkes, veröffentlicht es hiermit unter der folgenden
Lizenz: CC 3.0
Namensnennung: Margret
Hofheinz-Döring/
Galerie Brigitte Mauch
Göppingen
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