Geschichten
Max Dauthendey
Meine
Füße waren ein wenig in der Hängematte verwickelt.
Ich konnte aber doch leicht aufstehen, ging zum Tisch und setzte mich
in einen
Strohsessel im Schatten des Hauses und dachte über das sonderbare
vorsündflutliche Gesicht nach, das ich zwischen Wachen und Träumen eben
erlebt
hatte.
Später
kamen die Damen zur Kaffeestunde aus ihren Zimmern
in den Garten, und wie wir da zusammen unter dem Mispelbaum saßen,
wollte ich
ihnen mein Traumgesicht beschreiben. Aber als ich den Mund zum Sprechen
öffnen
wollte, tauchten mir ganz andere Bilder auf. Ein innerer Wille zwang
mich, ganz
andere Worte zu sprechen als die, die ich hätte sagen wollen. Es war
von jenem Gesicht
her eine unerklärliche Angst in mir geblieben, die mir ergab, dass ich
neuen Schrecken, der sich hier entwickeln konnte,
dadurch im voraus Einhalt tun könnte, dass ich die Zukunft den Damen so
schilderte, als wäre sie bereits Ereignis gewesen.
Und
ich erzählte:
„Vorhin war es Nacht hier im Garten und draußen auf dem
See. Die Lampe unterm Mispelbaum brannte, und auf Ihrem Stuhl hier
saßen Sie,
gnädige Frau“ – und ich verneigte mich leicht gegen die russische Dame.
„Zu
Ihren Füßen lagerten alle Katzen des Hauses, graue und schwarze
nebeneinander,
scheinbar schlafend, aber eigentlich mit Ihnen in die Dunkelheit
horchend. Um
den Tisch herum saßen alle Zwerge des Ortes. Der eine Zwerg hatte eine
Kappe
voll Birnen vor sich liegen, der andere Zwerg seine Kappe voll Trauben,
der
dritte seine Kappe voll getöteter Singvögel. Die anderen Zwerge, die
neben
Ihnen saßen, hatten leere Kappen, aber sie warteten, so schien es mir,
jeder
einen unbewachten Augenblick ab, um aus den drei gefüllten Kappen etwas
zu
stehlen. Aber die drei Zwerge mit den gefüllten Kappen horchten mit
Ihnen und
den Katzen gegen den See hin, wo eben nach dem Abendläuten das
Scheinwerferboot
tutete, das dann das kleine Hafenbassin Limone verließ und seine
Nachtwache an
dem Ufer entlang antrat.“
Die
um den Tisch Sitzenden mussten angestrengt horchen,
da tief im Hause, in einem der letzten Zimmer, der Drehorgelkasten
gespielt
wurde. Der am Morgen angekommene alte Herr spielte das kreischende
Instrument,
während seine Frau mit den beiden Fischerbuben schlurfend über den
Steinboden
tanzte.
„Ich
selbst befand mich auf dem See in einem Nachen und
ruderte. Am Ende des Bootes saß die schöne Tochter des Briefträgers.
Sie hatte
den neuen Vollmond vor sich auf dem Schoß liegen wie ein Stück
Weißzeug. Der
Mond war entzweigerissen, und sie nähte mit einer großen goldenen Nadel
seine
Risse zusammen.
Alles
Unnatürliche in meinem Traum war so
selbstverständlich, wie wir jetzt hier sitzen und Kaffee trinken. Ich
konnte
überall zu gleicher Zeit sein, im Garten, im Haus, im Kahn und auf dem
Scheinwerferboot“, erzählte ich weiter.
„Auf
dem Zollboot, das wie ein langer schmaler Walfisch
aus Eisen, nur wenig erhöht, über die Wasserfläche hinschoss, sah ich,
umgeben
von Zolloffizieren und Matrosen, Ulrike stehen. Es unterhielt sie
besonders,
einem Manne zuzusehen, der den Scheinwerfer handhabte. Vom Boot war
über dem
Wasser nichts zu sehen als nur ein kleiner Schornstein, der
Lichtapparat des
Scheinwerfers und ein dünnes Eisengeländer, das um das längliche
Verdeck lief.
In der Form einer Zigarre, und einem Wasserkäfer ähnlich, eilte das
Boot auf
der Seefläche hin und kreuzte pfeilartig von Ufer zu Ufer. Die
Offiziere
rauchten Zigaretten und freuten sich über Ulrike und über ihr
rotleuchtendes
Haar, das in der Nacht noch stark mit seiner Feuerfarbe lockte.
Plötzlich
kam Bewegung unter die Matrosen. Ein Offizier
neben dem Scheinwerfermann gab leise Befehle, und alle andern Offiziere
drängten sich zu ihm heran, und jeder sah durch ein neben dem
Scheinwerfer
angebrachtes Fernrohr eifrig und lebhaft erregt hinauf ans Ufer.
Man
hatte Schmuggler entdeckt. Ich aber wusste, da ich
auch zugleich oben auf dem Berg sein konnte, dass die vom Fernrohr
entdeckten
Gestalten im weißen Lichtstrahl des Scheinwerfers dort oben keine
Schmuggler
waren, sondern der Student und der Drogist, die der Aufforderung
Ulrikes
nachgekommen] waren und die Schmuggler spielten, nur um die
Abendfahrt für Ulrike auf dem Scheinwerferboot unterhaltender zu machen.
Die
Offiziere aber sagten Ulrike nicht, dass sie
Schmuggler entdeckt hätten. Einer bot ihr den Arm und führte sie auf
den Wink
der andern in die Kajüte, wo er ihr einen Spiegel zeigte, in welchem
man nicht
sich, sondern sein vorsindflutliches Urbild sehen konnte. Ulrike lachte
herzlich, als sie sich in dem Spiegelglas als eine Art Iguanodon
erkannte.
Im
selben Augenblick hörte Ulrike ein Tuten, und es
wurden Befehle durch ein Sprachrohr an die Bergwand hinauf zu den
Schmugglern
gerufen: ‚Stillgestanden! Oder wir geben Feuer!‘
Ulrike wandte sich vom Spiegel ab und zeigte dem Offizier
ihr schönes Mädchengesicht und sagte:
‚Ihr
werdet doch nicht auf den Studenten und auf den
Drogisten schießen, die nur zum Spaß die Schmuggler machen?‘
Im
selben Augenblick krachten aber fünf Schüsse knapp
hintereinander aus einem Maschinengewehr, das am Kiel des Bootes
angeschraubt war.
Vom Berg hörte man ein Niederrasseln von Steinen. Nach ein paar
Augenblicken rauschte das Seewasser vom Fall zweier Körper
schäumend auf.
‚Ihr
habt zwei Menschen getötet,‘ schrie Ulrike.
Die
Schüsse aber in der Nacht wurden zu hundert Echos in
den Bergen. Und in den Häusern von Limone erhellten sich viele Fenster.
Viele
Leute kamen aufgestört mit Lichtern und Laternen an den Strand, und
viele
Frauen warfen sich am Wasser händeringend auf den Boden und riefen:
‚Man hat
uns unsere Männer getötet!‘ Denn diese waren Schmuggler und befanden
sich in
dieser Nacht auf den Passwegen mit Waren beladen, die sie im Finstern
über die
Grenze schleppen sollten.
Zugleich
rannte der Briefträger kreischend am Ufer
entlang und schrie: ‚Meine Tochter ist verschwunden! Mit diesen meinen
Händen
werde ich den erwürgen, der sie entführt hat.'
In
der allgemeinen Aufregung gellte noch die Stimme
Annunziatas, des Dienstmädchens im Gasthause.
Die rief einem alten Herrn, der
sie schüttelte, ins Gesicht:
Jawohl,
ich habe dem Mann die Frau vergiftet, weil sie
immer mit meinem Geliebten tanzt und nicht genug an einem Mann
und einem Geliebten hat, sondern einen Mann und
zwei Geliebte haben will.
Der
Wirt des Gasthauses aber verwandelte sich in einen
Esel, stand an einer Straßenecke auf vier gespreizten Beinen und
wehklagte in
die Nacht.
Im
Garten starrte die Generalin, die bei den Katzen und
den Zwergen saß, wie entgeistert nach der Haustüre des Gasthofes, wo
der alte
Mann herauswankte, der den Drehorgelkasten gespielt hatte, und dessen
Frau tot
war. In ihm erkannte die Generalin plötzlich ihren vor Jahren ins Meer
gestürzten Gemahl, dem damals im Schreck, als sein Sohn ertrank, das
Erinnerungsvermögen
geschwunden war, der sich aus dem Meer gerettet hatte, aber nicht mehr
wusste,
wer er war, und der damals nach Deutschland gereist war, eine
künstliche
Blumenfabrik gekauft und wieder geheiratet hatte.
Jetzt
stürzte dieser Mann wie die andern nach dem Strand,
wo ein allgemeines Geschrei und Gerufe durch die Nacht hallte.
Die
Generalin erlitt vom Erkennungsschreck einen
Schlaganfall. Sie sank einseitig gelähmt vom Stuhl. Die Katzen im
Garten flohen
alle in den offenen Keller, und auch die Zwerge erschraken und
liefen hinter den Katzen in das
Kellerversteck. Dort balgten sie sich um die Birnen, die Trauben und
die toten
Vögel.
Birnen
und Trauben schmatzend und tote Vögel zerkauend,
kamen die Zwerge nach einer Weile aus dem Keller vorsichtig
hervorgekrochen.
Sie zupften die umgefallene Generalin am Ohr und an der Nase und
schleiften
sie, mutig geworden, weil sie sich nicht rührte, am Mantel und an den
Schalzipfeln den Garten hinunter an den See, wo sie sie unter Gekicher
von der
Landungsbrücke ins Wasser stießen.
Die
Tochter des Briefträgers im Kahn hatte die Risse im
Mond zusammengenäht und gab die Mondscheibe frei, die aus ihrem Schoß
fort an
den Himmel hinaufschwebte, wo sie im Zenit stehen blieb, und wo sie nun
die
Seelandschaft mit ihrem Licht wieder verklärend beleuchtete. Das
Mädchen selbst
aber sprang aus dem Boot, nachdem sie zu mir noch gesagt hatte: ‚Mein
Vater
ruft mich. Er darf mich nicht bei Ihnen finden. Dann sind Sie des
Todes.‘ Dann
war sie leicht über das Wasser fortgelaufen, als wäre der See eine
Glasplatte,
und sie kam heil an das Ufer, wo sie ihrem Hause zueilte.
Ich
aber wollte nicht mehr nach Limone zurück. Ich hatte
genug von dem abenteuerlichen Aufenthalt und wollte noch in der Nacht
nach
Torbole rudern. Da glitt das Scheinwerferschiff an mir vorbei, und mit
dem
verzweifelten Schrei: ‚Nehmen Sie mich auf!‘ sprang Ulrike vom Boot
herunter zu
mir in den Kahn. Dann ruderte ich aus Leibeskräften und schloss die
Augen und
ruderte, nur von dem Gedanken der Flucht angetrieben.
Ulrike
aber hing mir an meinem Halse während ich ruderte,
und die junge Dame flehte mich an, sie zu ihrem Bräutigam nach Freiburg
zu
rudern, da sie gewiss nie mehr einen anderen Mann ansehen wollte als
ihn und
kein Unglück mehr suchen wollte, sondern das Glück der Ehe, soweit das
einem
Iguanodon möglich sei.“
Also
hatte ich gefabelt.
Ulrike,
die längst ein Taschentuch vor den Mund gehalten
und öfters während meiner Erzählung wiehernd aufgelacht hatte, stöhnte
jetzt:
„Uff,
uff, Sie haben recht. Ich werde heute noch nach
Freiburg abreisen, um nicht all das Unglück anzustiften, das Sie mit
solcher
Wollust auf den Kaffeetisch malen. Es ist nur so
schade, dass ich allein reisen soll, und dass ich Sie beide in dem
stimmungsvollen Weltwinkel hier zurücklassen soll, während ich vor
meiner Iguanodonseele
fliehen muss.“
„Dass
Sie mich aber auf so schreckliche Weise umbringen
lassen! Ich soll im Wasser umkommen, nachdem ich meinen ertrunken
geglaubten
Mann wiedergesehen habe! Was habe ich Ihnen getan, dass Sie mir ein so
fürchterliches Schicksal ausdenken?“ rief die Generalin, ihr Unglück
genießend,
aus.
„Sie
haben nichts getan, als dass Sie sich immer in Ihrem
Innersten dramatische Schicksale gewünscht haben. Sie dramatisieren mit
Ihrer
Sehnsucht zum Unglück Ihr eigenes Schicksal, da Sie Angst haben, dass
es sich
sonst friedlich wie ein Idyll entwickeln könnte,“ antwortete ich ihr.
„O,
Sie haben eine sonderbare Art,“ sagte die Russin,
„einem Aufklärungen über sich selbst beizubringen. Sie nehmen einem
Unglücke vorweg,
die man das Recht hatte, zu erwarten,“ fügte sie beinahe schmollend
hinzu.
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Textgrundlage:
"Das Iguanadon" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus den Vier Winden", Seite 281-359.
wikimedia
Logo 196 "Bodensee", Margaret Hofheinz-Döring, 1964,
Quelle: Peter Mauch. Brigitte Mauch, der Nutzungsinhaber
dieses Werkes, veröffentlicht es hiermit unter der folgenden
Lizenz: CC 3.0
Namensnennung: Margret
Hofheinz-Döring/
Galerie Brigitte Mauch
Göppingen
wikimedia
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