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Literatur


04.3



Geschichten

Max Dauthendey





 Das Iguanodon VI


Meine Füße waren ein wenig in der Hängematte verwickelt. Ich konnte aber doch leicht aufstehen, ging zum Tisch und setzte mich in einen Strohsessel im Schatten des Hauses und dachte über das sonderbare vorsündflutliche Gesicht nach, das ich zwischen Wachen und Träumen eben erlebt hatte.

Später kamen die Damen zur Kaffeestunde aus ihren Zimmern in den Garten, und wie wir da zusammen unter dem Mispelbaum saßen, wollte ich ihnen mein Traumgesicht beschreiben. Aber als ich den Mund zum Sprechen öffnen wollte, tauchten mir ganz andere Bilder auf. Ein innerer Wille zwang mich, ganz andere Worte zu sprechen als die, die ich hätte sagen wollen. Es war von jenem Gesicht her eine unerklärliche Angst in mir geblieben, die mir ergab, dass ich neuen Schrecken, der sich hier entwickeln konnte, dadurch im voraus Einhalt tun könnte, dass ich die Zukunft den Damen so schilderte, als wäre sie bereits Ereignis gewesen.

Und ich erzählte:

„Vorhin war es Nacht hier im Garten und draußen auf dem See. Die Lampe unterm Mispelbaum brannte, und auf Ihrem Stuhl hier saßen Sie, gnädige Frau“ – und ich verneigte mich leicht gegen die russische Dame. „Zu Ihren Füßen lagerten alle Katzen des Hauses, graue und schwarze nebeneinander, scheinbar schlafend, aber eigentlich mit Ihnen in die Dunkelheit horchend. Um den Tisch herum saßen alle Zwerge des Ortes. Der eine Zwerg hatte eine Kappe voll Birnen vor sich liegen, der andere Zwerg seine Kappe voll Trauben, der dritte seine Kappe voll getöteter Singvögel. Die anderen Zwerge, die neben Ihnen saßen, hatten leere Kappen, aber sie warteten, so schien es mir, jeder einen unbewachten Augenblick ab, um aus den drei gefüllten Kappen etwas zu stehlen. Aber die drei Zwerge mit den gefüllten Kappen horchten mit Ihnen und den Katzen gegen den See hin, wo eben nach dem Abendläuten das Scheinwerferboot tutete, das dann das kleine Hafenbassin Limone verließ und seine Nachtwache an dem Ufer entlang antrat.“

Die um den Tisch Sitzenden mussten angestrengt horchen, da tief im Hause, in einem der letzten Zimmer, der Drehorgelkasten gespielt wurde. Der am Morgen angekommene alte Herr spielte das kreischende Instrument, während seine Frau mit den beiden Fischerbuben schlurfend über den Steinboden tanzte.

„Ich selbst befand mich auf dem See in einem Nachen und ruderte. Am Ende des Bootes saß die schöne Tochter des Briefträgers. Sie hatte den neuen Vollmond vor sich auf dem Schoß liegen wie ein Stück Weißzeug. Der Mond war entzweigerissen, und sie nähte mit einer großen goldenen Nadel seine Risse zusammen.

Alles Unnatürliche in meinem Traum war so selbstverständlich, wie wir jetzt hier sitzen und Kaffee trinken. Ich konnte überall zu gleicher Zeit sein, im Garten, im Haus, im Kahn und auf dem Scheinwerferboot“, erzählte ich weiter.

„Auf dem Zollboot, das wie ein langer schmaler Walfisch aus Eisen, nur wenig erhöht, über die Wasserfläche hinschoss, sah ich, umgeben von Zolloffizieren und Matrosen, Ulrike stehen. Es unterhielt sie besonders, einem Manne zuzusehen, der den Scheinwerfer handhabte. Vom Boot war über dem Wasser nichts zu sehen als nur ein kleiner Schornstein, der Lichtapparat des Scheinwerfers und ein dünnes Eisengeländer, das um das längliche Verdeck lief. In der Form einer Zigarre, und einem Wasserkäfer ähnlich, eilte das Boot auf der Seefläche hin und kreuzte pfeilartig von Ufer zu Ufer. Die Offiziere rauchten Zigaretten und freuten sich über Ulrike und über ihr rotleuchtendes Haar, das in der Nacht noch stark mit seiner Feuerfarbe lockte.

Plötzlich kam Bewegung unter die Matrosen. Ein Offizier neben dem Scheinwerfermann gab leise Befehle, und alle andern Offiziere drängten sich zu ihm heran, und jeder sah durch ein neben dem Scheinwerfer angebrachtes Fernrohr eifrig und lebhaft erregt hinauf ans Ufer.

Man hatte Schmuggler entdeckt. Ich aber wusste, da ich auch zugleich oben auf dem Berg sein konnte, dass die vom Fernrohr entdeckten Gestalten im weißen Lichtstrahl des Scheinwerfers dort oben keine Schmuggler waren, sondern der Student und der Drogist, die der Aufforderung Ulrikes nachgekommen] waren und die Schmuggler spielten, nur um die Abendfahrt für Ulrike auf dem Scheinwerferboot unterhaltender zu machen.

Die Offiziere aber sagten Ulrike nicht, dass sie Schmuggler entdeckt hätten. Einer bot ihr den Arm und führte sie auf den Wink der andern in die Kajüte, wo er ihr einen Spiegel zeigte, in welchem man nicht sich, sondern sein vorsindflutliches Urbild sehen konnte. Ulrike lachte herzlich, als sie sich in dem Spiegelglas als eine Art Iguanodon erkannte.

Im selben Augenblick hörte Ulrike ein Tuten, und es wurden Befehle durch ein Sprachrohr an die Bergwand hinauf zu den Schmugglern gerufen: ‚Stillgestanden! Oder wir geben Feuer!‘

Ulrike wandte sich vom Spiegel ab und zeigte dem Offizier ihr schönes Mädchengesicht und sagte:

‚Ihr werdet doch nicht auf den Studenten und auf den Drogisten schießen, die nur zum Spaß die Schmuggler machen?‘

Im selben Augenblick krachten aber fünf Schüsse knapp hintereinander aus einem Maschinengewehr, das am Kiel des Bootes angeschraubt war. Vom Berg hörte man ein Niederrasseln von Steinen. Nach ein paar Augenblicken rauschte das Seewasser vom Fall zweier Körper schäumend auf.

‚Ihr habt zwei Menschen getötet,‘ schrie Ulrike.

Die Schüsse aber in der Nacht wurden zu hundert Echos in den Bergen. Und in den Häusern von Limone erhellten sich viele Fenster. Viele Leute kamen aufgestört mit Lichtern und Laternen an den Strand, und viele Frauen warfen sich am Wasser händeringend auf den Boden und riefen: ‚Man hat uns unsere Männer getötet!‘ Denn diese waren Schmuggler und befanden sich in dieser Nacht auf den Passwegen mit Waren beladen, die sie im Finstern über die Grenze schleppen sollten.

Zugleich rannte der Briefträger kreischend am Ufer entlang und schrie: ‚Meine Tochter ist verschwunden! Mit diesen meinen Händen werde ich den erwürgen, der sie entführt hat.'

In der allgemeinen Aufregung gellte noch die Stimme Annunziatas, des Dienstmädchens im Gasthause.
 Die rief einem alten Herrn, der sie schüttelte, ins Gesicht:

Jawohl, ich habe dem Mann die Frau vergiftet, weil sie immer mit meinem Geliebten tanzt und nicht genug an einem Mann und einem Geliebten hat, sondern einen Mann und zwei Geliebte haben will.

Der Wirt des Gasthauses aber verwandelte sich in einen Esel, stand an einer Straßenecke auf vier gespreizten Beinen und wehklagte in die Nacht.

Im Garten starrte die Generalin, die bei den Katzen und den Zwergen saß, wie entgeistert nach der Haustüre des Gasthofes, wo der alte Mann herauswankte, der den Drehorgelkasten gespielt hatte, und dessen Frau tot war. In ihm erkannte die Generalin plötzlich ihren vor Jahren ins Meer gestürzten Gemahl, dem damals im Schreck, als sein Sohn ertrank, das Erinnerungsvermögen geschwunden war, der sich aus dem Meer gerettet hatte, aber nicht mehr wusste, wer er war, und der damals nach Deutschland gereist war, eine künstliche Blumenfabrik gekauft und wieder geheiratet hatte.

Jetzt stürzte dieser Mann wie die andern nach dem Strand, wo ein allgemeines Geschrei und Gerufe durch die Nacht hallte.

Die Generalin erlitt vom Erkennungsschreck einen Schlaganfall. Sie sank einseitig gelähmt vom Stuhl. Die Katzen im Garten flohen alle in den offenen Keller, und auch die Zwerge erschraken und liefen hinter den Katzen in das Kellerversteck. Dort balgten sie sich um die Birnen, die Trauben und die toten Vögel.

Birnen und Trauben schmatzend und tote Vögel zerkauend, kamen die Zwerge nach einer Weile aus dem Keller vorsichtig hervorgekrochen. Sie zupften die umgefallene Generalin am Ohr und an der Nase und schleiften sie, mutig geworden, weil sie sich nicht rührte, am Mantel und an den Schalzipfeln den Garten hinunter an den See, wo sie sie unter Gekicher von der Landungsbrücke ins Wasser stießen.

Die Tochter des Briefträgers im Kahn hatte die Risse im Mond zusammengenäht und gab die Mondscheibe frei, die aus ihrem Schoß fort an den Himmel hinaufschwebte, wo sie im Zenit stehen blieb, und wo sie nun die Seelandschaft mit ihrem Licht wieder verklärend beleuchtete. Das Mädchen selbst aber sprang aus dem Boot, nachdem sie zu mir noch gesagt hatte: ‚Mein Vater ruft mich. Er darf mich nicht bei Ihnen finden. Dann sind Sie des Todes.‘ Dann war sie leicht über das Wasser fortgelaufen, als wäre der See eine Glasplatte, und sie kam heil an das Ufer, wo sie ihrem Hause zueilte.

Ich aber wollte nicht mehr nach Limone zurück. Ich hatte genug von dem abenteuerlichen Aufenthalt und wollte noch in der Nacht nach Torbole rudern. Da glitt das Scheinwerferschiff an mir vorbei, und mit dem verzweifelten Schrei: ‚Nehmen Sie mich auf!‘ sprang Ulrike vom Boot herunter zu mir in den Kahn. Dann ruderte ich aus Leibeskräften und schloss die Augen und ruderte, nur von dem Gedanken der Flucht angetrieben.

Ulrike aber hing mir an meinem Halse während ich ruderte, und die junge Dame flehte mich an, sie zu ihrem Bräutigam nach Freiburg zu rudern, da sie gewiss nie mehr einen anderen Mann ansehen wollte als ihn und kein Unglück mehr suchen wollte, sondern das Glück der Ehe, soweit das einem Iguanodon möglich sei.“

Also hatte ich gefabelt.

Ulrike, die längst ein Taschentuch vor den Mund gehalten und öfters während meiner Erzählung wiehernd aufgelacht hatte, stöhnte jetzt:

„Uff, uff, Sie haben recht. Ich werde heute noch nach Freiburg abreisen, um nicht all das Unglück anzustiften, das Sie mit solcher Wollust auf den Kaffeetisch malen. Es ist nur so schade, dass ich allein reisen soll, und dass ich Sie beide in dem stimmungsvollen Weltwinkel hier zurücklassen soll, während ich vor meiner Iguanodonseele fliehen muss.“

„Dass Sie mich aber auf so schreckliche Weise umbringen lassen! Ich soll im Wasser umkommen, nachdem ich meinen ertrunken geglaubten Mann wiedergesehen habe! Was habe ich Ihnen getan, dass Sie mir ein so fürchterliches Schicksal ausdenken?“ rief die Generalin, ihr Unglück genießend, aus.

„Sie haben nichts getan, als dass Sie sich immer in Ihrem Innersten dramatische Schicksale gewünscht haben. Sie dramatisieren mit Ihrer Sehnsucht zum Unglück Ihr eigenes Schicksal, da Sie Angst haben, dass es sich sonst friedlich wie ein Idyll entwickeln könnte,“ antwortete ich ihr.

„O, Sie haben eine sonderbare Art,“ sagte die Russin, „einem Aufklärungen über sich selbst beizubringen. Sie nehmen einem Unglücke vorweg, die man das Recht hatte, zu erwarten,“ fügte sie beinahe schmollend hinzu.


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Textgrundlage: "Das Iguanadon" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus den Vier Winden", Seite 281-359.

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"Bodensee", Margaret Hofheinz-Döring, 1964,
Quelle: Peter Mauch. Brigitte Mauch, der Nutzungsinhaber
dieses Werkes, veröffentlicht es hiermit unter der folgenden

Lizenz: CC 3.0
Namensnennung: Margret Hofheinz-Döring/
Galerie Brigitte Mauch Göppingen

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